Mittwoch, 20. März 2013
Das Schicksal lässt sich nicht betrügen
Ein junger Mann läd eine riesige Schuld auf sich. Seinetwegen wurde seine schöne Freundin Lydia schwer verletzt. Er flieht um die halbe Welt, bis nach Manila. Gibt es trotz allem noch einen Ausweg?
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Dr. Lukas Dering ging mit den anderen Passagieren des Fluges Manila-Frankfurt die Fluggastbrücke entlang. Sie führte ihn gleich in die Vergangenheit. Schon von weitem sah er das Empfangskomitee, zwei Herren in dunklen Anzügen. Und eine schlanke, gerade aufgerichtete Frau im Rollstuhl. Lydia. Ihm war, als griffe eine Faust nach seinem Herzen. Er hatte gewusst, dass diese Begegnung stattfinden würde - und musste.
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"Wie geht es dir?" fragte sie. Sie hatte ihn in das für ihn reservierte Hotelzimmer begleitet. Sie war noch so schön wie früher, aber über ihren beiden Beinen lag eine Decke. Sie bemerkte seinen Blick und zog sie fort: "Sie sind etwas dünn geworden", sagte sie ihm lächelnd.

Er dachte an Constanze, die er in Manila zurückgelassen hatte. Ihre mandelförmigen Augen hatten voller Tränen gestanden, als sie flüsterte: "Ich liebe dich, Lukas. Komm bald zurück."

Er dachte auch an das ärmliche Haus, in dem sie beide mit dem kleinen Arturo wohnten, und die lange, geduldige Schlange von Menschen, die jeden Tag Hilfe bei ihm, dem deutschen Doktor, suchten. Diesen Menschen fehlte es an allem.

Rauh sagte er: "Du verachtest mich. Lass mich zahlen für das, was ich dir angetan habe!"

Sie lächelte: "Du siehst doch, dass ich lebe!"

"Ja, aber wie?" Verzweifelt stöhnte er: "Wenn es nur einen Weg gäbe, um es wieder gutzumachen ..."

"Wie geht es deinen Schützlingen in Manila?" fragte sie.

Er dachte an die zerlumpten Gestalten, die schlecht durchgeführten Operationen, die vereiterten Wunden, die Kinder, die die Abfallhalden nach Nahrung durchsuchten.

"Mir geht es gut", sagte Lydia. "Mir geht es sogar viel besser als früher."

Wie konnte sie das sagen? Früher konnte sie laufen, tanzen ...

"Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie ich früher war?" fragte sie eindringlich.

Er sah sie vor sich, vor zehn Jahren. Das schöne, verwöhnte Töchterchen eines der bekanntesten Chirurgen der Stadt. Ihr Vater hatte eine Privatklinik und er, Lukas, war sein von Ehrgeiz besessener Assistent. Sein einziges Kapital waren sein blendendes Aussehen und seine Tüchtigkeit gewesen. Beides wusste er wirkungsvoll einzusetzen. Lydia wollte ihn, und was Lydia wollte, bekam sie gewöhnlich. Eine Heirat mit ihr bedeutete für ihn den begehrten Platz an der Sonne. Und er würde ein willkommener Schwiegersohn sein, das hatte der "Alte" schon durchblicken lassen.

Dann kam die schreckliche Nacht, die Lydias und sein Leben verändern sollte. Sie waren auf einer Party gewesen: ein mit Lampions geschmückter Garten. Ärzte, Rechtsanwälte, bekannte Künstler. Und verloren mitten unter ihnen ein junger Geschichtsprofessor. Lydia hatte den ganzen Abend nur mit ihm getanzt. Übermütig, Glas auf Glas Wein mit ihm trinkend.

Lukas hatte kurz vor Mitternacht rasend vor Wut und Eifersucht die Party verlassen. Zwei Stunden später klingelte es. Es war Lydia, die ihn weinend um Verzeihung bat. Sie war betrunken.

Er war verletzt, fühlte sich zu gedemütigt, um ihr jetzt schon verzeihen zu können. Sie war in ihrem Sportwagen gekommen. Er nahm ihr die Schlüssel aus der Hand, ging mit ihr hinunter, um sie wenigstens sicher nach Hause zu bringen. Aber Lydia überredete ihn zu einer langen Spazierfahrt auf der nächtlichen Landstrasse.

Er liebte es, Lydias roten Sportwagen zu fahren. Die Geschwindigkeit und der Wind berauschten ihn. Lydia warf ihm heftig vor, ihr nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken, zuviel zu arbeiten. Sie hätte ihn mit dem jungen Claus Paesch nur eifersüchtig machen wollen.

Als er nicht antwortete, griff sie voller Wut ins Steuer, um ihn zu zwingen, anzuhalten. Er erschrak, stiess sie zurück, aber es war zu spät. Der Wagen stürzte die Böschung hinab, überschlug sich mehrere Male ...

Wie durch ein Wunder blieb er unversehrt. Er hörte Lydia neben sich stöhnen. Ihre Beine waren eingeklemmt. Trotz aller Bemühungen konnte er sie nicht befreien. Plötzlich sackte ihr Kopf weg. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Mit Lydias Handy wählte er die Nummer der Polizei. Er bat, mit Arzt und Rettungswagen zu kommen, beschrieb genau die Stelle des Unfalls.

Einige Augenblicke stand er wie betäubt da, mit dem Gefühl, dass sein Leben zu Ende war. Und dann tat er das, was er sich nie verzeihen konnte: Er ergriff die Flucht. Die Strasse war menschenleer. Er säuberte sich, so gut es ging, und als ein Wagen kam, hielt er ihn an, liess sich in die Stadt zurückbringen. Sie kamen an der Unfallstelle vorbei. Er sah jetzt die Blaulichter der Polizei, des Rettungswagens ...

Am nächsten Abend war er in Madrid, und dann begann eine lange Irrzeit. Ständig fürchtete er, dass die Polizei ihn aufspüren könnte. Von seinem letzten Geld kaufte er eine Flugkarte nach Manila. Dort arbeitete er als Barman in einem grossen Hotel. Auf Umwegen erfuhr er, dass Lydia überlebt hatte. Gelähmt. Das Bild verfolgte ihn Tag und Nacht. Lydia im Rollstuhl, durch seine Schuld ...

Seinen Beruf als Arzt übte er nicht mehr aus. Er hatte das Recht darauf verloren, hatte als Arzt, als Mensch, völlig versagt.

Dann war Constanze in sein Leben getreten. Eines Tages schlüpfte ein kleiner Junge in zerrissener Kleidung und mit tränenverschmiertem Gesicht am Portier vorbei ins Hotel. Verzweifelt schrie er etwas. Lukas kannte die Landessprache gut genug, um zu verstehen, dass etwas mit seiner Mutter passiert war, dass sie einen Arzt brauchte.

Niemand wusste hier, dass Lukas Arzt war. Er wartete ein paar Sekunden, ob sich jemand des Jungen annehmen würde, aber schon näherte sich der Portier, wollte ihn verscheuchen.

"Warte", rief Lukas, "ich komme gleich mit zu deiner Mutter!" Das Gesicht des dunkelhäutigen Filippinojungen leuchtete vertrauensvoll auf. Hand in Hand gingen sie am verdutzten Portier vorbei ins Freie.

Der Junge hiess Arturo. Lukas winkte einem Taxi, und sie fuhren bis zum Stadtrand, wo ärmliche kleine Häuser dicht aneinandergedrängt an einer langen, staubigen Lehmstrasse standen.

Eine dieser Behausungen betraten sie. Eine Frau lag zusammengekrümmt und von Fieber geschüttelt in einer Ecke. Lukas kniete wortlos nieder, zog die Decke fort. Er untersuchte sie sorgfältig, stellte Fragen.

"Arturo", stöhnte die junge Frau. "Er hat doch nur mich ..."

"Machen Sie sich keine Sorgen", sagte Lukas mit ruhiger Stimme. "Sie werden gesund."

Constanze wurde wieder gesund. Lukas kam jeden Tag, um nach ihr zu sehen. Er brachte ihr und Arturo gutes Essen mit. Constanze arbeitete in einer Textilfabrik, verdiente aber nur das Nötigste zum Leben. Seit sie krank war, war die Not bei ihnen ausgebrochen.

Sie erzählte Lukas, halb auf Englisch, halb auf Spanisch, ihre Lebensgeschichte: Ihren amerikanischen Vater hatte sie nie gekannt, ihre Mutter war gestorben, als sie zwölf war. Seitdem schlug sie sich allein durch. Mit 16 Jahren heiratete sie Arturos Vater. Er war Fischer, kam eines Tages nicht zurück. Arturo war gerade zwei.

Constanzes langes, schwarzes Haar bekam wieder Glanz und Fülle. Ihre und Arturos erschreckende Magerkeit verschwand. Sie lachte wieder. Ihr rundes, fröhliches Gesicht und die sanften Augen zogen Lukas auf geheimnisvolle Weise an. In einer schwülen Sommernacht fanden sich ihre Körper in Constanzes kleiner Schlafkammer ...

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, dass der Deutsche, der so oft Constanze besuchte, Arzt war, und dass er kein Geld von den Armen nahm. Lukas arbeitete bis zum Umfallen, verlor seine Arbeit im Hotel, nachdem er ein paarmal völlig erschöpft hinter der Bar eingeschlafen war. Die geheilten Patienten brachten ihm Früchte, Gemüse, auch schon mal ein Huhn. Constanze arbeitete wieder in der Textilfabrik. Wie durch ein Wunder reichte es immer bis zum nächsten Tag. Aber er hatte kein Geld mehr, um Medikamente für "seine" Kranken zu kaufen.

Ein deutscher Journalist stöberte ihn eines Tages auf, schrieb einen Artikel über den "Doktor der Armen". Die Zeitschrift bat ihre Leser um Spenden und schickte Lukas ein Flugticket, damit er bei einem Empfang das Geld entgegennehmen konnte.

Lukas hasste den Mann, der er einst gewesen war, aber er brauchte das Geld, um helfen zu können. Jetzt sass er der Frau gegenüber, die sein Schicksal in der Hand hatte ...

Lydia erklärte nun mit leiser Stimme: "Wie du schon weisst, hatte ich den Artikel über dich in der Zeitschrift gelesen und gebeten, dich mit den beiden anderen Herren am Flughafen empfangen zu dürfen. Ich möchte dir sagen, dass niemand weiss, dass du damals am Steuer gesessen hast."

"Was ... soll das bedeuten?"

"Warum sollte ich dich verraten? Es gab ja keine Zeugen", antwortete sie mit äusserster Gelassenheit.

Er dachte an die Reden, die nachher gehalten werden würden, an die Ehrung. Er war ihrer nicht würdig. Gepresst brachte er heraus: "Ich werde die Polizei anrufen, werde mich ihr stellen."

Er wollte aufspringen, aber sie legte rasch ihre Hand auf sein Knie: "Gar nichts wirst du tun! Wem würde das denn nützen? Deinen Kranken, etwa?"

"Aber sieh doch ein, was ich dir angetan habe!" stöhnte er.

Sie lachte leise: "Mir geht es gut, Lukas. Ich bin glücklich!"

Als sie seinen ungläubigen Gesichtsaussdruck sah, fügte sie hinzu: "Vorher war ich mit dem Leben unzufrieden. Ich war egoistisch, arrogant. Am Unfall war ich selbst Schuld, Lukas, ich weiss erst jetzt, was es bedeutet, zu leben - und zu lieben."

Sie lächelte weich: "Er wird gleich kommen, um mich abzuholen. Er ist ein wundervoller Mensch. Ich helfe ihm bei seinen Manuskripten, soweit es mir möglich ist, und bin darüber hinaus seine Agentin."

"Weiss er Bescheid?" Lukas hielt den Atem an.

Sie sah ihm gerade in die Augen: "Ja, als einziger. Weil ich Vertrauen zu ihm habe."

Es klopfte.

Lukas starrte den Mann an. Er hätte ihn noch nach hundert Jahren wiedererkannt.

Claus Paesch war nicht attraktiver geworden. Er wirkte immer noch schüchtern und eher etwas linkisch. Aber Lukas begegnete seinem Blick und war endlich fähig, die Seelengrösse dieses Mannes zu erkennen. Der Historiker streckte ihm die Hand entgegen, und Lukas ergriff sie voller Dankbarkeit.

Lydia lachte zufrieden und meinte dann: "Claus und ich warten unten in der Halle auf dich. Du willst dich sicher frisch machen nach der langen Reise. Der Empfang beginnt erst in einer guten halben Stunde."

Aller Augen waren auf sie gerichtet, als sie in den Konferenzsaal kamen: Lydia in der Mitte, links und rechts eskortiert von den beiden Männern.

Applaus begrüsste sie, und Lukas verneigte sich. Niemand würde die Last der Schuld von ihm nehmen können, aber ihm war seine Zukunft geschenkt worden.

Er empfand Dankbarkeit für Lydia, und überströmende Liebe für Constanze, Arturo und seine neue philippinische Heimat. Wenn er in Manila zurück war, würde er Constanze heiraten und Arturo adoptieren.

Und immer würde er ein Arzt der Armen bleiben ...

ENDE.

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