Sonntag, 6. Januar 2013
HEIRATE MICH, WENN DU MICH LIEBST
Marina löst ihre Verlobung mit Niels, um ihrer jüngeren Schwester Pauline zu helfen. Diese steckt in Schwierigkeiten …
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Marina Sanders sah auf die Uhr. Fast elf. Es war ihr den ganzen Morgen nicht gelungen, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, eine Übersetzung aus dem Englischen. Sie seufzte, ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen und trat damit ans Fenster.

Gerade fuhr unten ein Taxi vor. Ein hochgewachsener Mann stieg aus und sah zu ihr hinauf. Es war Niels! Beinahe hätte Marina ihren Kaffee vergossen, so überstürzt zog sie sich zurück. Als es klingelte, schlug ihr Herz einen Trommelwirbel: Sie konnte nicht so tun, als sei sie nicht zu Hause, er hatte sie bestimmt gesehen. Also atmete sie ein paarmal tief durch und drückte dann auf den Summer.

Als er vor ihr stand, gab es ihr einen Stich, wie gut er aussah und wie verlässlich er wirkte. Wie gern hätte sie wenigstens noch einmal ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und sich von seinen Armen umfangen lassen, aber das war für immer vorbei. Muste es sein. “Niels, du hättest nicht kommen sollen, ich hatte dir doch geschrieben …” Sie hoffte, dass ihre Stimme fest klang.

“Und du glaubst, dass ich mich mit ein paar Zeilen zufrieden gebe ‘Niels, es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten, weil Pauline mich braucht’?”

“Du weisst, dass sie nur noch mich hat, seit unsere Eltern vor zehn Jahren tödlich verunglückten. Und ich hatte dir ein bisschen mehr geschrieben, nämlich, dass sie ein Baby erwartet und Norbert sie verlassen hat.”

“Ja, und dazu möchte ich dir ein paar Fragen stellen.”

“Hättest du das nicht telefonisch machen können?”

“Nein, ich möchte, dass du mich ansiehst, wenn du mir antwortest.”

Gerade das hatte sie vermeiden wollen, es war schon so schwer genug gewesen. Aber nun war er da. Stumm trat sie zurück, um ihn hereinzulassen.

Im Wohnzimmer sah Niels sie forschend an: “Zuerst möchte ich eines wissen: Liebst du mich noch, Marina?”

Vor dieser Frage hatte sie sich am meisten gefürchtet. Ihn anlügen? Das brachte sie nicht fertig. “Ja”, erwiderte sie deshalb genau so ernst. “Ich liebe dich noch, aber das hat nichts damit zu tun, versteh’ das doch.”

Er sah plötzlich fast fröhlich aus: “Aber es ändert alles. Paulines Problem geht uns nun beide etwas an.”

“Und was hast du vor?”

“Komm, ich lade dich zum Essen ein. Und gleichzeitig bringe ich mein Gepäck ins Hotel.”

“Du hast ein Zimmer reserviert? Wie lange willst du denn bleiben? Und wo ist dein Gepäck?”

“Ja, ich habe ein Zimmer reserviert. Und mein Gepäck steht vor der Tür. Ich werde so lange bleiben, wie es nötig ist. Ich habe mir Urlaub genommen.”
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Sie fuhren mit Marinas Wagen in die Stadt. Niels liess sein Gepäck im Hotel, und sie gingen zu Fuss bis zu ihrem Lieblingsrestaurant an der Alster. Es war ein strahlender Frühlingstag. Zu schön, um unglücklich zu sein, dachte Marina mit wehem Herzen.

“Also”, sagte Niels, als sie bestellt hatten. “Pauline ist schwanger und die Heirat ist geplatzt. Was ist passiert?”

“Wenn ich das bloss wüsste. Vor zwei Wochen stand sie in Tränen aufgelöst vor der Tür und sagte, dass alles aus sei zwischen Norbert und ihr. Mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen.”

“Weiss Norbert, dass sie ein Kind erwartet?”

“Nein, sie ist nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen.”

“Und du hast sie mit offenen Armen wieder aufgenommen …”

“Ich hatte Angst um sie, Niels. Wenn du sie gesehen hättest! Es geht ihr jetzt noch, zwei Wochen danach, sehr schlecht.”

Niels dachte daran, welch einen glücklichen Eindruck Pauline und Norbert auf ihn gemacht hatten, als sie vor einem Monat alle zusammen Marinas Geburtstag gefeiert hatten. Sie schienen füreinander geschaffen zu sein. Wie Marina und er …

Auch Marina hing Erinnerungen nach. Sie dachte an ihre Begegnung mit Niels. Vor einem Jahr hatte sie sich einen alten Traum erfüllt und ein Wochenende in Berlin verbracht. Begeistert von der Stadt, aber müde vom Laufen, wollte sie sich in einem Strassencafé ein Eis gönnen. Gleichzeitig mit ihr steuerte ein Mann den einzig freien Tisch an. Es war Niels gewesen, und er war das ganze Wochenende nicht von ihrer Seite gewichen. Als Architekt kannte er die Stadt wie seine Westentasche. Danach trafen sie sich jedes Wochenende in Hamburg oder Berlin. An ihrem Geburtstag hatte Niels sie feierlich gebeten, seine Frau zu werden. Nie in ihrem Leben hatte Marina sich glücklicher gefühlt.

Nach ihrer Heirat, hatten sie beschlossen, würden sie in Berlin leben. Um Pauline brauchte Marina sich nicht mehr zu sorgen. Pauline hatte ihr Studium beendet und arbeitete als Juristin in einem grossen Hamburger Unternehmen, ausserdem lebte sie schon mit Norbert zusammen.

“Und was soll jetzt werden?” fragte Niels nun.

“Ich werde Pauline helfen, ihr Baby aufzuziehen.”

Es schnitt Niels ins Herz, dass sie kaum etwas vom Essen anrührte. Eindringlich sagte er: “Das Kind hat einen Vater, Marina. Es ist nicht an dir, es aufzuziehen. Und Norbert scheint kein Monster zu sein.”

“Aber Pauline will nicht zu ihm zurück. Ich fühle mich für sie verantwortlich.”

“Hör mal. Als eure Eltern starben, warst du 22, Pauline 12. Ich verstehe, dass du dich für sie verantwortlich fühltest. Aber heute ist Pauline genau so alt, wie du es damals warst. Sie ist erwachsen!”

Als Marina schwieg, fuhr er fort: “Jeder braucht im einen oder anderen Moment seines Lebens Verständnis und Hilfe, aber das darf nicht so weit gehen, wieder zum schutzbedürftigen Kind werden zu wollen. Und du, du darfst sie nicht darin unterstützen und ihr schon gar nicht so unbesehen dein Glück opfern, von meinem will ich hier gar nicht sprechen.”

Nach dem Essen gingen sie zusammen zu Marinas Auto zurück. “Heute Abend werden wir uns nicht sehen können, Liebster”, meinte sie schuldbewusst. “Ich möchte Pauline nicht allein lassen.”

“Das macht nichts, ich habe auch etwas vor!” Niels wartete, bis sie eingestiegen war, winkte ihr noch einmal zu und ging händereibend und mit tatendurstigen Schritten davon.
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Am nächsten Morgen klingelte das Telefon.

“Marina Sanders, ja bitte?”

“Hast du gut geschlafen, mein Schatz? Ich möchte Pauline und dich heute Abend zum Essen ausführen.”

“Hoffentlich ist sie einverstanden”, zögerte sie.

“Sie hat es zu sein”, meinte Niels streng.

“Willst du ihr ins Gewissen reden?”

“Nein, ich habe etwas viel Besseres vor. Bitte, vertrau mir, Marina.”

Es war nicht leicht gewesen, Pauline zu überzeugen, aber Marina hatte es geschafft. Als sie jedoch pünktlich das von Niels gewählte Restaurant betraten, war er nicht allein. Zwei Männer erhoben sich vom Tisch.

Pauline wurde blass: “Norbert! Ich hätte mir denken können, dass es eine Falle ist!”

Sie wollte auf dem Absatz kehrt machen, aber Niels war mit wenigen Schritten bei ihr und griff nach ihrem Arm: “Bleib, Pauline”, sagte er in bestimmtem Ton.

“Wie kannst du mir derart in den Rücken fallen?” protestierte sie scharf. “Ich will nie wieder mit ihm sprechen!”

Niels blieb ganz ruhig. “Genau das bist du ihm aber schuldig. In jedem Prozess hört man erst die Gegenseite an, ehe man das Urteil fällt, das solltest gerade du doch wissen, als Juristin.”

“Warum mischt du dich überhaupt ein?”

“Glaubst du wirklich, dass ich tatenlos zusehe, wie hier alles den Bach ‘runtergeht? Nur weil du ein bisschen leidest?”

“Ein bisschen leiden, nennst du das?” Paulines Augen blitzten empört. “Du kannst nicht wissen, was mir der Mistkerl angetan hat!”

“Weiss ich doch. Norbert hat es mir erzählt, aber er hat mir auch gesagt, dass er dich liebt.”

“Gibt es irgend etwas, über das ihr nicht gesprochen habt?”

Niels neigte sich zu ihrem Ohr hinunter: “Über das Baby. Das musst du ihm schon selbst sagen.”

“Bitte, Pauline, lass mich dir alles erklären!” Norbert war zu ihnen getreten.

Einen Augenblick sah Pauline aus, als würde sie ihm am liebsten mit allen zehn Nägeln das Gesicht zerkratzen, dann gab sie einen Laut zwischen Lachen und Weinen von sich: “Also gut, aber deine Erklärung muss schon absolut hervorragend sein!” Mit grossen Schritten ging sie ihm zum Tisch voraus.

Jetzt legte Niels den Arm um Marina und schmunzelte: “Pauline macht nicht den Eindruck, als benötigte sie besonderen Schutz. Wenn, braucht ihn jetzt eher Norbert. Komm, Liebste, lassen wir die beiden allein. Für uns habe ich in ‘unserem’ Restaurant reserviert.”

“Wie konntest du so sicher sein, dass alles klappt?”

“Ich war überhaupt nicht sicher, und das alles hat mich sehr hungrig gemacht!”
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Während des Aperitifs erzählte Niels. Er hatte am Vorabend Norbert in eine Kneipe abgeschleppt. Nach zwei Gläsern Bier und drei Schnäpsen hatte sich dessen Zunge gelöst.

“Die klassische Geschichte. Als seine frühere Freundin Beate, die ihn verlassen hatte, hörte, dass er mit Pauline zusammengezogen war, stattete sie ihm überraschend einen Besuch ab. Das Unglück wollte es nun aber, dass Pauline und Norbert am Vorabend einen kleinen Streit hatten und Pauline noch nicht nach Hause gekommen war. Jedenfalls war die Art, wie Beate ihn anhimmelte, wie Balsam auf Norberts wundes Männerherz. Nur, als sie plötzlich vor dem Bett standen und Beate anfing, sein Hemd aufzuknöpfen und ihn hingebungsvoll zu küssen, ging ihm das Ganze zu weit. Er wollte sie sehr höflich herauskomplimentieren, aber es war schon zu spät: Pauline stand in der Tür. Den Rest wissen wir. Aber ich habe selten einen Mann gesehen, der so unglücklich war wie Norbert. Wir haben noch eine ganze Weile zusammengesessen, dann ist er mit hängenden Schultern nach Hause geschlichen. Es hat ihn aber etwas aufgerichtet, als ich ihn heute Morgen anrief und ihm sagte, dass er abends Pauline wiedersehen würde, um ihr alles erklären zu können.”

“Das war es also”, sagte Marina nachdenklich. “Aber Pauline hat das ungeheuer weh getan. Stell dir vor, sie kommt heim, um Norbert zu sagen, dass sie ein Baby haben werden, und dann das …”

“Ich weiss”, sagte Niels.

“Glaubst du, dass Norbert die Wahrheit sagt? Es kann mehr zwischen ihm und Beate gewesen sein.”

“Norbert war meiner Meinung nach ehrlich. Aber natürlich muss Pauline selbst entscheiden, ob sie ihm glaubt oder nicht. Es gibt halt solche Situationen, in denen man entscheiden muss, ob man dem anderen Glauben schenkt. Das hat keineswegs etwas mit Dummheit zu tun, sondern mit Liebe und Vertrauen. Und selbst wenn Norbert sicher nicht ganz unschuldig war an seiner misslichen Lage: Erwachsen sein heisst auch, verzeihen zu können.”

“Kannst du mir denn verzeihen, dass ich dich nicht mehr heiraten wollte, obwohl ich dich liebe?” fragte Marina reumütig.

“Welch eine Frage, ich liebe dich doch auch”, antwortete er zärtlich.

“Und erwachsen bist du ebenfalls. Wenn ich dich nicht hätte, Niels …”

Der Ober brachte das Vorgericht. Wie eine heisse Woge strömte das Glück zu Marinas Herzen. “Ich habe plötzlich auch einen Bärenhunger”, strahlte sie Niels an.

“Das wird auch Zeit”, lächelte er liebevoll zurück, “schliesslich will ich kein Gerippe heiraten!”

ENDE

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