Montag, 3. Juni 2013
Barbiepuppen küsst man nicht
hillebel, 12:22h
Der charmante Anwalt Mathias Heindorf hat Erfolg bei den Frauen. Aber er glaubt schon lange nicht mehr an Liebe auf den ersten Blick. Und schon gar nicht bei einem vielbeschäftigten Model ...
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Mathias Heindorf, 32 Jahre alt, sportliche 1,90 gross, gutgeschnittenes Gesicht mit braunen Augen, sah nervös auf die Uhr. Es war zu früh, um schon loszufahren. Er nutzte die Zeit, um sich noch einmal kritisch im Spiegel zu betrachten. Möglichst mit Irina Kretschmers Augen. Würden ihr das dezent gestreifte Hemd und die phantasievolle Krawatte gefallen? Aber vor allem stellte er sich eine Frage: Würde er sich weniger dämlich anstellen als bei ihrer ersten Begegnung? Die Erinnerung daran liess ihn peinlich berührt zusammenzucken.
Vor gut einem Monat hatte er einen Mandaten in Berlin getroffen. Auf dem Rückflug nach Hamburg war sie ihm sofort aufgefallen: Gross und schlank, blond und blauäugig sass sie neben ihm am Fensterplatz. Eine Schönheit. Er hatte schon seine Akten vor sich ausgebreitet, entschied dann aber, dass ein Flirt den Flug angenehm verkürzen würde.
Er verliess sich auf das Timbre seiner Stimme, das selten seine Wirkung auf Frauen verfehlte, und fragte: “Mögen Sie Berlin auch so gern?”
Sie wandte ihm ihr schönes Gesicht zu und sah aus, als käme sie von weit her zurück: “Wie bitte?” fragte sie höflich.
Er musste seine Frage wiederholen und ihm wurde bewusst, wie wenig geistreich sie klang. Verlegen fügte er hinzu: “Ich bin Anwalt und war geschäftlich dort. Und Sie?”
Gleich darauf hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Jetzt war er dazu noch indiskret. Und gleichzeitig war er ärgerlich auf sich selbst. Warum liess er sich von dieser Frau, von ihrem Blick, derart aus der Fassung bringen?
”Ich habe als Model auf einer Modeschau gearbeitet”, beantwortete sie seine Frage. Sie senkte den Kopf, suchte in ihrer Tasche und beförderte eine Sonnenbrille zutage, die sie hastig aufsetzte.
Abgeblitzt! schoss es ihm durch den Kopf. Er war ärgerlich auf sich selbst - und auch auf sie. Gut, er hatte sich wie ein Trampel benommen, aber hatte er eine solche Abfuhr verdient? Schliesslich war sie nur ein Model. Ein Kleidergestell, das Mode vorführte. Aber als er wieder zu ihr hinübersah, merkte er zu seiner Bestürzung, dass Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Wieder suchte sie in ihrer Tasche. Er erriet, dass sie kein Taschentuch bei sich hatte und reichte ihr wortlos sein Einstecktuch hinüber. Dabei berührten sich ihre Hände. Die ihre war kalt.
”Danke”, nickte sie kurz.
Ihm fiel nichts ein, womit er sie trösten könnte, ausserdem hatte er keine Lust, sich eine neue Abfuhr einzuhandeln. Von da an beschäftigte er sich mit seinen Akten.
Als das Flugzeug in Fuhlsbüttel gelandet war, fragte sie ihn nach seiner Adresse. “Ich möchte wissen, wohin ich das Taschentuch schicken muss”, erläuterte sie. Sie hatte sich wieder in der Gewalt, aber ihre Augen konnte er hinter der Sonnenbrille nicht sehen, worüber er insgeheim irgendwie erleichtert war.
Er hatte ihr seine Karte gegeben, aber galant hinzugefügt, dass er ihr das Taschentuch schenken würde. Zehn Tage später hatte er es gewaschen und gebügelt in einem in Düsseldorf abgestempelten Umschlag zurückerhalten. Eine Karte war hinzugefügt, auf der sie sich bedankte. Sie war mit Irina Kretschmer unterzeichnet, aber eine Adresse war nicht angegeben.
Vielleicht hätte er alles rasch vergessen, wenn er nicht einige Tage später bei seiner Schwester Kerstin zufällig einen Blick in ein aufgeschlagenes Frauenmagazin geworfen hätte. Es handelte sich um eine Modereportage, und er erkannte seine Nachbarin aus dem Flugzeug sofort wieder.
Es war wie eine zweite Begegnung. Mathias glaubte nicht mehr an Liebe auf den ersten Blick, nicht einmal auf den zweiten. Aber sein Jagdinstinkt war erwacht. Ausserdem wollte er das wenig schmeichelhafte Bild redivieren, das er bei Irina Kretschmer hinterlassen haben musste.
Zu Kerstins Erstaunen lieh er sich die Zeitschrift aus und schrieb Irina ein paar Zeilen via die Redaktion, in denen er sich für das Taschentuch bedankte und sie zu einem Abendessen einlud. Er war bereit, dafür nach Paris, Rom oder Mailand zu fliegen. Nach drei langen Wochen rief sie ihn an. Man hatte ihr den Brief zugeschickt, sie sei gerade in Hamburg und würde gern mit ihm essen gehen.
Er schlug ihr ein Gourmet-Restaurant vor, das gerade in war und fragte sie, ob ihr 20 Uhr recht sei.
”Ein nicht so bekanntes Restaurant wäre mir lieber”, erwiderte sie.
”Kein Problem, ich kenne eins. Sagen Sie mir, wo ich Sie abholen kann?”
”Nicht nötig, geben Sie mir nur die Adresse des Restaurants.”
Er teilte sie ihr mit. Und nun war es soweit, er konnte fahren. Plötzlich klingelte es.
Ausgerechnet jetzt! Genervt drückte er auf den Knopf der Sprechanlage.
”Gott sei Dank, du bist da!” Es war die atemlose Stimme seiner Schwester.
”Kerstin, was ist los?”
”Mach’ auf, ich erzähl’s dir oben!”
Er zählte die Sekunden, bis der Fahrstuhl hielt. Kerstin trug eine Kleidertasche über der Schulter und hielt den zweijährigen Dennis an der Hand. Sie warf Mathias einen gehetzten, bittenden Blick zu.
”Könntest du deinen Patensohn über Nacht dabehalten? Damit würdest du mir einen grossen Gefallen tun. Ich muss sofort ins Krankenhaus, Hannes ist mit einer akuten Blinddarmentzündung dort eingeliefert worden, sie operieren ihn gerade.”
Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte sie ihm die Tasche in den Arm und schob ihm Dennis zu. “In der Tasche findest du alles Nötige”, erklärte sie rasch. Sie gab Dennis und ihm einen Kuss und stürzte zum Fahrstuhl zurück.
”Du bist ein Engel”, rief sie Mathias noch zu, ehe die Tür zuglitt.
Mathias stand noch ganz verdattert da, als Dennis in Tränen ausbrach. Ergeben hob Mathias ihn auf den Arm, streichelte seinen Rücken. “Na, na, wir werden schon zurechtkommen, wir beiden, glaubst du nicht?” Und dann konnte er nicht anders. Er seufzte: “Mann, wenn du wüsstest, was du mir da vermasselst!”
Aber er schämte sich gleich. Der kleine Kerl tat ihm leid. Kerstin und Hannes auch. Er hoffte, dass die Operation gut verlaufen würde. “Komm, wir sehen mal in der Tasche nach, was deine Mammi für dich eingepackt hat”, schlug er vor.
Als Dennis endlich zufrieden auf dem Teppich seine Bauklötze hin- und herschob, griff er zum Telefon und rief das Restaurant an …
_ _ _
Irina Kretschmer überlegte, was sie anziehen sollte und schalt sich dabei selbst. Warum, um Himmels Willen, hatte sie diese Einladung angenommen? Hatte sie nicht genug Enttäuschungen mit Männern erlebt, die einmal in ihrem Leben mit einem Model ausgehen wollten - um sich vor ihren Freunden damit zu brüsten? Sobald sie merkten, dass sie keine Barbiepuppe war, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, mit einem Herzen und darüber hinaus gut funktionnierendem Verstand, bekamen sie es mit der Angst, liessen sie fallen wie eine heisse Kartoffel. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle. Nur ein Mann war anders gewesen. Rolf. Ihr bester Freund, dem sie rückhaltslos hatte vertrauen können. Von Liebe war zwischen ihnen nie die Rede gewesen, hätte er sie jedoch gefragt, wäre sie gern seine Frau geworden. Aber Rolf starb an einem plötzlichen Herztod. Einen Tag nach seinem Begräbnis, das sie wie versteinert durchgestanden hatte, stand sie in Berlin auf dem Laufsteg. Es waren die schwersten, die grausamsten Stunden ihres Lebens gewesen. Erst auf dem Rückflug nach Hamburg hatte sie ihren Tränen freien Lauf lassen können. Sie erinnerte sich an die Art, wie ihr Nachbar ihr das Taschentuch gereicht hatte. An die flüchtige Berührung seiner warmen, kräftigen Hand, die sie nach seiner etwas dummen Anmache als überraschend sympathisch und tröstlich empfunden hatte. Er liess sie danach in Ruhe, und es war genau diese Ruhe gewesen, die sie gebraucht hatte.
Als sie später die kurzen Zeilen von ihm bekam, in denen er sich für das zurückgegebene Taschentuch bedankte und sie zum Abendessen einlud, hatte sie zugesagt. Aber sie beschloss, schon jetzt ihr Herz zu wappnen. Nach kurzer Überlegung schlüpfte sie in ein bequemes Shirt und Jeans. Sie band ihr schulterlanges Haar im Nacken zusammen, legte nur leichtes Make-up auf. Sie wollte ehrlich sein, nicht nur ihm, sondern auch sich selbst gegenüber. Wollte sich so geben, wie sie war - und wie sie sich fühlte. Wenn er enttäuscht war, war das nicht ihr Problem. Sie würden sich ohne Bedauern nie wiedersehen.
Sie fuhr im Taxi zum Restaurant. Statt sie jedoch an den reservierten Tisch zu führen, teilte der nette Restaurantbesitzer ihr mit, dass es Herrn Heindorf leider unmöglich sei zu kommen, er aber glücklich sein würde, sie bei sich empfangen zu dürfen. Hier sei seine Adresse, für den Fall, dass sie seine Karte nicht bei sich habe.
Sie bedankte sich und beschloss, ins Hotel zurückzufahren. Mathias Heindorf konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass sie in diese Falle tappen würde? Sie bat den Restaurantbesitzer, ihr ein neues Taxi zu rufen.
_ _ _
”Schlaf schön, Dennis.” Mathias deckte den kleinen Knirps, der den Daumen schon in den Mund gesteckt hatte und schläfrig blinzelte, liebevoll zu und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Das Licht liess er brennen, weil er sich an seine eigene Kindheit erinnerte, und dass er im Dunkeln Angst gehabt hatte. Die Tür lehnte er nur an.
Jetzt half nur ein Stossgebet, dass alles gut gehen möge - und Irina Kretschmer kommen würde. Ach Quatsch, natürlich würde sie nicht kommen. Sie würde an einen billigen Trick denken, mit dem er sie in seine Wohnung locken wollte. Was hatte er gesagt, als er das Restaurant angerufen hatte? Dass er verhindert sei, das war alles. Denn Dennis hatte sich gerade den Kopf am niedrigen Tisch gestossen und heulte, nachdem er ein paar Sekunden lang verdutzt geguckt hatte, leidvoll auf. Trotzdem stellte er eine Flasche Champagner in den Kühlschrank und rief im nahen chinesischen Restaurant an, um eine Mahlzeit für zwei Personen liefern zu lassen.
Dann wartete er.
Als es klingelte, stürzte er zur Diele und betätigte den Summer. Die Bestellung, dachte er, aber es war Irina, die ihn jetzt unschlüssig ansah: “Eigentlich wollte ich nicht kommen”, sagte sie.
”Ich bin froh, dass Sie es doch getan haben.” Er schloss die Tür hinter ihr und führte sie ins Wohnzimmer: “Sie sehen bezaubernd aus. Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten?”
Als sie anstiessen und er ihr gerade die Sache mit Dennis erklären wollte, klingelte es erneut.
”Entschuldigen Sie bitte, Irina, das ist sicher das chinesische Restaurant.”
Er nahm die grosse Schachtel entgegen, bezahlte und machte die Tür wieder zu. Als er sich umdrehte, stand Dennis hinter ihm.
”He”, flüsterte Mathias, “was machst du denn da? Marsch, zurück ins Bett mit dir!”
”Mathias, kann ich Ihnen helfen?” Irina kam in den Flur und staunte: “Oh, Sie haben ein Kind?”
Dennis drückte sich an Mathias, liess Irina aber nicht aus den Augen.
”Es ist mein Neffe”, erwiderte Mathias etwas hilflos. “Der Grund, warum ich nicht ins Restaurant kommen konnte. Mein Schwager wurde mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, und meine Schwester wollte bei ihm sein, also hat sie Dennis hierher gebracht. Er soll über Nacht bleiben.”
”Das mit Ihrem Schwager tut mir leid, hoffentlich geht alles gut. Und jetzt verstehe ich natürlich, warum ich hierher kommen sollte.”
_ _ _
Dennis sass auf Irinas Schoss. Sie steckte mit ihren Stäbchen ein kleines Stück Entenfleisch in seinen erwartungsvoll geöffneten Schnabel. Dennis schluckte und sperrte gleich darauf erwartungsvoll den Mund wieder auf.
”Dabei hat der Bursche schon gegessen”, brummte Mathias nachtragend. Nach all den grosszügigen Geschenken, die er diesem Schlingel zu Weihnachten und zum Geburtstag und auch noch zwischendurch machte, fand er es reichlich undankbar von ihm, mit fliegenden Fahnen zu Irina überzuwechseln. War selbst Dennis, so klein er war, schon empfänglich für die Reize einer schönen Frau? Nein, eher für ihre Wärme, ihre liebevolle Zuwendung, dachte er gleich darauf.
”Woher können Sie so gut mit Kindern umgehen?” fragte er.
”Meine Schwester hat drei, und ich beneide sie”, lächelte sie.
”Aber Sie …”
Irina sah ihn etwas spöttisch an. “Ach, Sie denken natürlich auch, dass ein Model keine eigenen Kinder will? Dass es ein egoistisches Wesen ist, das nur an seine Linie, an Erfolg und überflüssigen Luxus denkt?”
”Ich weiss nicht mehr, was ich denke”, seufzte er ehrlich. Tatsächlich fühlte er sich ziemlich verloren. Es war wie verhext, auch diesmal verlief nichts nach Plan …
Später brachten sie zusammen Dennis, der auf dem Sofa eingeschlafen war, zurück ins Bett. Kaum waren sie im Wohnzimmer zurück, trillerte das Telefon. Kerstin berichtete, dass die Operation gut verlaufen sei. Sie würde jetzt nach Hause fahren, um ein wenig zu schlafen. Ob sie Dennis abholen solle?”
”Einen Augenblick.” Mathias wandte sich um und fragte Irina. Diese schüttelte den Kopf: “Er schläft doch gerade tief und fest.”
”Bist du nicht allein?” fragte Kerstin überrascht.
”Das ist eine lange Geschichte. Ich werde dir morgen alles erzählen. Ich bin froh, dass es Hannes gut geht.”
Irina lächelte warm, als Mathias aufgelegt hatte. “Ich bin auch glücklich darüber.” Dann fuhr sie energisch fort: “So, jetzt räumen wir die Küche auf.”
”Kommt nicht in Frage”, blockte er noch energischer ab, “das mache ich morgen. Es ist ja auch gar nicht so viel. Jetzt trinken wir den Champagner!”
Irina hatte beim Spielen mit Dennis ihre Schuhe ausgezogen und kuschelte sich jetzt in die Sofaecke. Als Mathias ihr das Glas reichte, sah sie ihn nachdenklich an: “Es war viel schöner hier als in jedem Restaurant. Dort hätte ich Sie wohl nie von dieser Seite kennengelernt, hab ich recht?”
Er war beschämt: “Ich hätte doch nie vermutet, das Sie so … herzlich und mütterlich sein könnten, Irina.”
”Das können die meisten Männer nicht.”
”Warum haben Sie im Flugzeug geweint?” fragte er nun behutsam.
”Ich hatte gerade meinen besten Freund verloren.” Sie erzählte ihm die traurige Geschichte.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an Sabine, seine erste Liebe. Er hatte ihr alles gegeben - und merkte erst, als sie mit einem anderen ausging, dass sie mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Er war 22, und es hatte einem Weltuntergang geglichen.
Frauen erobern wurde danach für ihn zu einem Sport, in dem das Herz nichts verloren hatte. Jetzt merkte er, dass es wieder schlug. Aus Liebe zu dieser ungewöhnlichen Frau. Er hatte Lust, Irina in die Arme zu nehmen, sie ein ganzes Leben lang zu lieben und zu beschützen.
Irina öffnete warnend die Augen, als Mathias’ Lippen sich den ihren näherten, obwohl sie sich diesen Kuss mehr als alles andere auf der Welt wünschte: “Dennis”, flüsterte sie, “was ist, wenn er aufwacht?”
Er hat bestimmt nichts dagegen, dass sein Onkel seine zukünftige Lieblingstante küsst”, lächelte Mathias, und das war ein unschlagbares Argument …
ENDE
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Mathias Heindorf, 32 Jahre alt, sportliche 1,90 gross, gutgeschnittenes Gesicht mit braunen Augen, sah nervös auf die Uhr. Es war zu früh, um schon loszufahren. Er nutzte die Zeit, um sich noch einmal kritisch im Spiegel zu betrachten. Möglichst mit Irina Kretschmers Augen. Würden ihr das dezent gestreifte Hemd und die phantasievolle Krawatte gefallen? Aber vor allem stellte er sich eine Frage: Würde er sich weniger dämlich anstellen als bei ihrer ersten Begegnung? Die Erinnerung daran liess ihn peinlich berührt zusammenzucken.
Vor gut einem Monat hatte er einen Mandaten in Berlin getroffen. Auf dem Rückflug nach Hamburg war sie ihm sofort aufgefallen: Gross und schlank, blond und blauäugig sass sie neben ihm am Fensterplatz. Eine Schönheit. Er hatte schon seine Akten vor sich ausgebreitet, entschied dann aber, dass ein Flirt den Flug angenehm verkürzen würde.
Er verliess sich auf das Timbre seiner Stimme, das selten seine Wirkung auf Frauen verfehlte, und fragte: “Mögen Sie Berlin auch so gern?”
Sie wandte ihm ihr schönes Gesicht zu und sah aus, als käme sie von weit her zurück: “Wie bitte?” fragte sie höflich.
Er musste seine Frage wiederholen und ihm wurde bewusst, wie wenig geistreich sie klang. Verlegen fügte er hinzu: “Ich bin Anwalt und war geschäftlich dort. Und Sie?”
Gleich darauf hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Jetzt war er dazu noch indiskret. Und gleichzeitig war er ärgerlich auf sich selbst. Warum liess er sich von dieser Frau, von ihrem Blick, derart aus der Fassung bringen?
”Ich habe als Model auf einer Modeschau gearbeitet”, beantwortete sie seine Frage. Sie senkte den Kopf, suchte in ihrer Tasche und beförderte eine Sonnenbrille zutage, die sie hastig aufsetzte.
Abgeblitzt! schoss es ihm durch den Kopf. Er war ärgerlich auf sich selbst - und auch auf sie. Gut, er hatte sich wie ein Trampel benommen, aber hatte er eine solche Abfuhr verdient? Schliesslich war sie nur ein Model. Ein Kleidergestell, das Mode vorführte. Aber als er wieder zu ihr hinübersah, merkte er zu seiner Bestürzung, dass Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Wieder suchte sie in ihrer Tasche. Er erriet, dass sie kein Taschentuch bei sich hatte und reichte ihr wortlos sein Einstecktuch hinüber. Dabei berührten sich ihre Hände. Die ihre war kalt.
”Danke”, nickte sie kurz.
Ihm fiel nichts ein, womit er sie trösten könnte, ausserdem hatte er keine Lust, sich eine neue Abfuhr einzuhandeln. Von da an beschäftigte er sich mit seinen Akten.
Als das Flugzeug in Fuhlsbüttel gelandet war, fragte sie ihn nach seiner Adresse. “Ich möchte wissen, wohin ich das Taschentuch schicken muss”, erläuterte sie. Sie hatte sich wieder in der Gewalt, aber ihre Augen konnte er hinter der Sonnenbrille nicht sehen, worüber er insgeheim irgendwie erleichtert war.
Er hatte ihr seine Karte gegeben, aber galant hinzugefügt, dass er ihr das Taschentuch schenken würde. Zehn Tage später hatte er es gewaschen und gebügelt in einem in Düsseldorf abgestempelten Umschlag zurückerhalten. Eine Karte war hinzugefügt, auf der sie sich bedankte. Sie war mit Irina Kretschmer unterzeichnet, aber eine Adresse war nicht angegeben.
Vielleicht hätte er alles rasch vergessen, wenn er nicht einige Tage später bei seiner Schwester Kerstin zufällig einen Blick in ein aufgeschlagenes Frauenmagazin geworfen hätte. Es handelte sich um eine Modereportage, und er erkannte seine Nachbarin aus dem Flugzeug sofort wieder.
Es war wie eine zweite Begegnung. Mathias glaubte nicht mehr an Liebe auf den ersten Blick, nicht einmal auf den zweiten. Aber sein Jagdinstinkt war erwacht. Ausserdem wollte er das wenig schmeichelhafte Bild redivieren, das er bei Irina Kretschmer hinterlassen haben musste.
Zu Kerstins Erstaunen lieh er sich die Zeitschrift aus und schrieb Irina ein paar Zeilen via die Redaktion, in denen er sich für das Taschentuch bedankte und sie zu einem Abendessen einlud. Er war bereit, dafür nach Paris, Rom oder Mailand zu fliegen. Nach drei langen Wochen rief sie ihn an. Man hatte ihr den Brief zugeschickt, sie sei gerade in Hamburg und würde gern mit ihm essen gehen.
Er schlug ihr ein Gourmet-Restaurant vor, das gerade in war und fragte sie, ob ihr 20 Uhr recht sei.
”Ein nicht so bekanntes Restaurant wäre mir lieber”, erwiderte sie.
”Kein Problem, ich kenne eins. Sagen Sie mir, wo ich Sie abholen kann?”
”Nicht nötig, geben Sie mir nur die Adresse des Restaurants.”
Er teilte sie ihr mit. Und nun war es soweit, er konnte fahren. Plötzlich klingelte es.
Ausgerechnet jetzt! Genervt drückte er auf den Knopf der Sprechanlage.
”Gott sei Dank, du bist da!” Es war die atemlose Stimme seiner Schwester.
”Kerstin, was ist los?”
”Mach’ auf, ich erzähl’s dir oben!”
Er zählte die Sekunden, bis der Fahrstuhl hielt. Kerstin trug eine Kleidertasche über der Schulter und hielt den zweijährigen Dennis an der Hand. Sie warf Mathias einen gehetzten, bittenden Blick zu.
”Könntest du deinen Patensohn über Nacht dabehalten? Damit würdest du mir einen grossen Gefallen tun. Ich muss sofort ins Krankenhaus, Hannes ist mit einer akuten Blinddarmentzündung dort eingeliefert worden, sie operieren ihn gerade.”
Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte sie ihm die Tasche in den Arm und schob ihm Dennis zu. “In der Tasche findest du alles Nötige”, erklärte sie rasch. Sie gab Dennis und ihm einen Kuss und stürzte zum Fahrstuhl zurück.
”Du bist ein Engel”, rief sie Mathias noch zu, ehe die Tür zuglitt.
Mathias stand noch ganz verdattert da, als Dennis in Tränen ausbrach. Ergeben hob Mathias ihn auf den Arm, streichelte seinen Rücken. “Na, na, wir werden schon zurechtkommen, wir beiden, glaubst du nicht?” Und dann konnte er nicht anders. Er seufzte: “Mann, wenn du wüsstest, was du mir da vermasselst!”
Aber er schämte sich gleich. Der kleine Kerl tat ihm leid. Kerstin und Hannes auch. Er hoffte, dass die Operation gut verlaufen würde. “Komm, wir sehen mal in der Tasche nach, was deine Mammi für dich eingepackt hat”, schlug er vor.
Als Dennis endlich zufrieden auf dem Teppich seine Bauklötze hin- und herschob, griff er zum Telefon und rief das Restaurant an …
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Irina Kretschmer überlegte, was sie anziehen sollte und schalt sich dabei selbst. Warum, um Himmels Willen, hatte sie diese Einladung angenommen? Hatte sie nicht genug Enttäuschungen mit Männern erlebt, die einmal in ihrem Leben mit einem Model ausgehen wollten - um sich vor ihren Freunden damit zu brüsten? Sobald sie merkten, dass sie keine Barbiepuppe war, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, mit einem Herzen und darüber hinaus gut funktionnierendem Verstand, bekamen sie es mit der Angst, liessen sie fallen wie eine heisse Kartoffel. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle. Nur ein Mann war anders gewesen. Rolf. Ihr bester Freund, dem sie rückhaltslos hatte vertrauen können. Von Liebe war zwischen ihnen nie die Rede gewesen, hätte er sie jedoch gefragt, wäre sie gern seine Frau geworden. Aber Rolf starb an einem plötzlichen Herztod. Einen Tag nach seinem Begräbnis, das sie wie versteinert durchgestanden hatte, stand sie in Berlin auf dem Laufsteg. Es waren die schwersten, die grausamsten Stunden ihres Lebens gewesen. Erst auf dem Rückflug nach Hamburg hatte sie ihren Tränen freien Lauf lassen können. Sie erinnerte sich an die Art, wie ihr Nachbar ihr das Taschentuch gereicht hatte. An die flüchtige Berührung seiner warmen, kräftigen Hand, die sie nach seiner etwas dummen Anmache als überraschend sympathisch und tröstlich empfunden hatte. Er liess sie danach in Ruhe, und es war genau diese Ruhe gewesen, die sie gebraucht hatte.
Als sie später die kurzen Zeilen von ihm bekam, in denen er sich für das zurückgegebene Taschentuch bedankte und sie zum Abendessen einlud, hatte sie zugesagt. Aber sie beschloss, schon jetzt ihr Herz zu wappnen. Nach kurzer Überlegung schlüpfte sie in ein bequemes Shirt und Jeans. Sie band ihr schulterlanges Haar im Nacken zusammen, legte nur leichtes Make-up auf. Sie wollte ehrlich sein, nicht nur ihm, sondern auch sich selbst gegenüber. Wollte sich so geben, wie sie war - und wie sie sich fühlte. Wenn er enttäuscht war, war das nicht ihr Problem. Sie würden sich ohne Bedauern nie wiedersehen.
Sie fuhr im Taxi zum Restaurant. Statt sie jedoch an den reservierten Tisch zu führen, teilte der nette Restaurantbesitzer ihr mit, dass es Herrn Heindorf leider unmöglich sei zu kommen, er aber glücklich sein würde, sie bei sich empfangen zu dürfen. Hier sei seine Adresse, für den Fall, dass sie seine Karte nicht bei sich habe.
Sie bedankte sich und beschloss, ins Hotel zurückzufahren. Mathias Heindorf konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass sie in diese Falle tappen würde? Sie bat den Restaurantbesitzer, ihr ein neues Taxi zu rufen.
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”Schlaf schön, Dennis.” Mathias deckte den kleinen Knirps, der den Daumen schon in den Mund gesteckt hatte und schläfrig blinzelte, liebevoll zu und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Das Licht liess er brennen, weil er sich an seine eigene Kindheit erinnerte, und dass er im Dunkeln Angst gehabt hatte. Die Tür lehnte er nur an.
Jetzt half nur ein Stossgebet, dass alles gut gehen möge - und Irina Kretschmer kommen würde. Ach Quatsch, natürlich würde sie nicht kommen. Sie würde an einen billigen Trick denken, mit dem er sie in seine Wohnung locken wollte. Was hatte er gesagt, als er das Restaurant angerufen hatte? Dass er verhindert sei, das war alles. Denn Dennis hatte sich gerade den Kopf am niedrigen Tisch gestossen und heulte, nachdem er ein paar Sekunden lang verdutzt geguckt hatte, leidvoll auf. Trotzdem stellte er eine Flasche Champagner in den Kühlschrank und rief im nahen chinesischen Restaurant an, um eine Mahlzeit für zwei Personen liefern zu lassen.
Dann wartete er.
Als es klingelte, stürzte er zur Diele und betätigte den Summer. Die Bestellung, dachte er, aber es war Irina, die ihn jetzt unschlüssig ansah: “Eigentlich wollte ich nicht kommen”, sagte sie.
”Ich bin froh, dass Sie es doch getan haben.” Er schloss die Tür hinter ihr und führte sie ins Wohnzimmer: “Sie sehen bezaubernd aus. Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten?”
Als sie anstiessen und er ihr gerade die Sache mit Dennis erklären wollte, klingelte es erneut.
”Entschuldigen Sie bitte, Irina, das ist sicher das chinesische Restaurant.”
Er nahm die grosse Schachtel entgegen, bezahlte und machte die Tür wieder zu. Als er sich umdrehte, stand Dennis hinter ihm.
”He”, flüsterte Mathias, “was machst du denn da? Marsch, zurück ins Bett mit dir!”
”Mathias, kann ich Ihnen helfen?” Irina kam in den Flur und staunte: “Oh, Sie haben ein Kind?”
Dennis drückte sich an Mathias, liess Irina aber nicht aus den Augen.
”Es ist mein Neffe”, erwiderte Mathias etwas hilflos. “Der Grund, warum ich nicht ins Restaurant kommen konnte. Mein Schwager wurde mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, und meine Schwester wollte bei ihm sein, also hat sie Dennis hierher gebracht. Er soll über Nacht bleiben.”
”Das mit Ihrem Schwager tut mir leid, hoffentlich geht alles gut. Und jetzt verstehe ich natürlich, warum ich hierher kommen sollte.”
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Dennis sass auf Irinas Schoss. Sie steckte mit ihren Stäbchen ein kleines Stück Entenfleisch in seinen erwartungsvoll geöffneten Schnabel. Dennis schluckte und sperrte gleich darauf erwartungsvoll den Mund wieder auf.
”Dabei hat der Bursche schon gegessen”, brummte Mathias nachtragend. Nach all den grosszügigen Geschenken, die er diesem Schlingel zu Weihnachten und zum Geburtstag und auch noch zwischendurch machte, fand er es reichlich undankbar von ihm, mit fliegenden Fahnen zu Irina überzuwechseln. War selbst Dennis, so klein er war, schon empfänglich für die Reize einer schönen Frau? Nein, eher für ihre Wärme, ihre liebevolle Zuwendung, dachte er gleich darauf.
”Woher können Sie so gut mit Kindern umgehen?” fragte er.
”Meine Schwester hat drei, und ich beneide sie”, lächelte sie.
”Aber Sie …”
Irina sah ihn etwas spöttisch an. “Ach, Sie denken natürlich auch, dass ein Model keine eigenen Kinder will? Dass es ein egoistisches Wesen ist, das nur an seine Linie, an Erfolg und überflüssigen Luxus denkt?”
”Ich weiss nicht mehr, was ich denke”, seufzte er ehrlich. Tatsächlich fühlte er sich ziemlich verloren. Es war wie verhext, auch diesmal verlief nichts nach Plan …
Später brachten sie zusammen Dennis, der auf dem Sofa eingeschlafen war, zurück ins Bett. Kaum waren sie im Wohnzimmer zurück, trillerte das Telefon. Kerstin berichtete, dass die Operation gut verlaufen sei. Sie würde jetzt nach Hause fahren, um ein wenig zu schlafen. Ob sie Dennis abholen solle?”
”Einen Augenblick.” Mathias wandte sich um und fragte Irina. Diese schüttelte den Kopf: “Er schläft doch gerade tief und fest.”
”Bist du nicht allein?” fragte Kerstin überrascht.
”Das ist eine lange Geschichte. Ich werde dir morgen alles erzählen. Ich bin froh, dass es Hannes gut geht.”
Irina lächelte warm, als Mathias aufgelegt hatte. “Ich bin auch glücklich darüber.” Dann fuhr sie energisch fort: “So, jetzt räumen wir die Küche auf.”
”Kommt nicht in Frage”, blockte er noch energischer ab, “das mache ich morgen. Es ist ja auch gar nicht so viel. Jetzt trinken wir den Champagner!”
Irina hatte beim Spielen mit Dennis ihre Schuhe ausgezogen und kuschelte sich jetzt in die Sofaecke. Als Mathias ihr das Glas reichte, sah sie ihn nachdenklich an: “Es war viel schöner hier als in jedem Restaurant. Dort hätte ich Sie wohl nie von dieser Seite kennengelernt, hab ich recht?”
Er war beschämt: “Ich hätte doch nie vermutet, das Sie so … herzlich und mütterlich sein könnten, Irina.”
”Das können die meisten Männer nicht.”
”Warum haben Sie im Flugzeug geweint?” fragte er nun behutsam.
”Ich hatte gerade meinen besten Freund verloren.” Sie erzählte ihm die traurige Geschichte.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an Sabine, seine erste Liebe. Er hatte ihr alles gegeben - und merkte erst, als sie mit einem anderen ausging, dass sie mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Er war 22, und es hatte einem Weltuntergang geglichen.
Frauen erobern wurde danach für ihn zu einem Sport, in dem das Herz nichts verloren hatte. Jetzt merkte er, dass es wieder schlug. Aus Liebe zu dieser ungewöhnlichen Frau. Er hatte Lust, Irina in die Arme zu nehmen, sie ein ganzes Leben lang zu lieben und zu beschützen.
Irina öffnete warnend die Augen, als Mathias’ Lippen sich den ihren näherten, obwohl sie sich diesen Kuss mehr als alles andere auf der Welt wünschte: “Dennis”, flüsterte sie, “was ist, wenn er aufwacht?”
Er hat bestimmt nichts dagegen, dass sein Onkel seine zukünftige Lieblingstante küsst”, lächelte Mathias, und das war ein unschlagbares Argument …
ENDE
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Montag, 27. Mai 2013
Ein gutes Herz und ganz viel Charme
hillebel, 10:38h
Jana hat sich ihre Hochzeit immer ganz anders vorgestellt. Mit schöner Feier und Flitterwochen. Doch für Roland ist der Gang zum Standesamt nichts weiter als eine Formalität. Zu allem Übel ...
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Jana Menckens war noch dabei, nach dem Abendessen die Küche aufzuräumen, als Robert Helbert, der nach oben gegangen war, um sich umzuziehen, wieder vor ihr stand und sich zufrieden die Hände rieb: "Ich gehe dann. Bis später, Schatz."
Sie legte die Arme um seinen Hals: "Amüsier dich gut", flüsterte sie ihm ins Ohr, was sie allerdings ein bisschen Überwindung kostete, "und trink nicht zuviel!"
"Keine Bange", lachte er. "Ich finde schon wieder nach Hause. Warum bist du noch in der Küche? Musst du nicht auch los?"
"Gleich." Sie begleitete ihn zur Tür und bekam noch einen flüchtigen Kuss. Dann war er fort.
Während sie sich ebenfalls umzog, dachte sie an den morgigen Tag. Um elf Uhr Standesamt, um halb eins ein Essen nur für einige gute Freunde. Ende der Fahnenstange. Kein Tanz am Abend, keine Hochzeitsreise. Nach zwei Jahren Zusammenleben, fand Roland, sei die Trauung doch nur eine Formalität. Er hatte ja recht. Aber verdammt noch mal, warum träumte sie dann ständig irgendwelche Jungmädchenträume von einem wunderschönen Brautkleid, einer fröhlichen Hochzeitsfeier und Flitterwochen an einem romantischen Ort? Sie seufzte. Na gut. Das beige Kostüm, das sie sich extra für die standesamtliche Trauung gekauft hatte, konnte sie wenigstens später problemlos weitertragen.
Sie seufzte erneut, diesmal etwas lauter. Wenigstens diesen Abend hätte sie gern mit Roland verbracht. Aber er wollte ja unbedingt mit seinen beiden besten Freunden Abschied vom Junggesellenleben nehmen. Ausgerechnet mit Hans-Joachim, dem überzeugten Single, und mit Uwe, der es nicht lassen konnte, jeder halbwegs attraktiven Frau hinterherzustarren, obwohl er verheiratet war. Schöne Beispiele für eine glückliche Ehe, dachte Jana frustriert.
Sie hatte auf Roland gehört und sich ebenfalls mit ihren Freundinnen in einem Weinlokal verabredet. Sie dachte daran, wie sehr Rita und Melanie sie um Roland beneideten. Er sah gut aus, war intelligent, verantwortungsbewusst und in seinem Beruf als Rechtsanwalt ausserordentlich erfolgreich. Da fielen die paar Minuspunkte doch wohl kaum ins Gewicht? Es störte Jana nämlich manchmal, dass ihr zukünftiger Ehemann so phantasielos war, dass er es nicht mochte, wenn sie ihn vor anderen Leuten küsste und dass er, gelinde gesagt, sein Geld mächtig zusammenhielt. Nun, letzteres konnte sie ihm schlecht vorwerfen, er dachte eben an ihre gemeinsame Zukunft. Vielleicht war er auch reichlich autoritär? Alles musste immer nach seinen Wünschen gehen. Aber das konnte natürlich auch am Altersunterschied liegen. Sie war 26 Jahre alt, Roland schon 35.
Jana war jetzt ausgehfertig, dazu war sie spät dran. Doch mit einem Mal hatte sie das Gefühl, es ginge über ihre Kraft, sich wieder von Rita und Melanie anhören zu müssen, was für einen tollen Mann sie sich geangelt hatte. Dabei war es Roland gewesen, der ihr so zielstrebig und ausdauernd den Hof gemacht und sie förmlich bedrängt hatte, mit ihm zusammenzuziehen.
Nach kurzem Zögern rief Jana im Weinlokal an und bat, ihren beiden Freundinnen auszurichten, dass sie leider nicht kommen könne, weil sie verhindert sei. Dann griff sie sich die Schlüssel und ihre Tasche und zog die Tür hinter sich zu.
In den Strassen der Innenstadt von Hamburg herrschte viel Betrieb. Jana verharrte auf einer Brücke und schaute verträumt auf das Wasser der Alster, das golden in der letzten Abendsonne leuchtete. Ein Mann blieb neben ihr stehen. "Es ist wirklich atemberaubend schön", sagte er und strahlte sie an. "Haben Sie Lust, etwas mit mir zu feiern?"
Jana musste lachen: "Was denn?" fragte sie.
"Also, ich habe heute Nachmittag den Vertrag für mein erstes Buch unterzeichnet."
"Herzlichen Glückwunsch", sagte sie. "Aber haben Sie denn keine Freunde, mit denen Sie Ihren Erfolg feiern können?"
"Die sind in München, und ich fahre erst morgen zurück."
"Hm, verstehe." Kurzentschlossen sagte sie: "Also gut, ich bin einverstanden."
_ _ _
Florian Rösing, wie er sich vorgestellt hatte, führte Jana in ein Lokal in der Nähe. Er bestellte eine Flasche Champagner, und sie stiessen miteinander an: "Auf Ihr Buch", sagte Jana.
"Auf Ihr Glück", erwiderte er.
"Das ist nett", lächelte Jana nachdenklich. "Ich heirate nämlich morgen."
"Sie ... Sie heiraten morgen?" Er verschluckte sich fast. "Und wo steckt Ihr Bräutigam?"
"Er nimmt mit Freunden Abschied vom Junggesellenleben."
"Das finde ich reichlich seltsam", meinte Florian. "Ich würde meine Braut nicht am Vorabend unserer Hochzeit allein lassen. Bei uns würde es einen zünftigen Polterabend geben."
"Das hätte ich auch viel schöner gefunden", gab Jana zu und wechselte dann schnell das Thema: "Sie sind also Schriftsteller?"
"Ich hoffe, einer zu werden. Eigentlich bin ich Lehrer. Für Deutsch und Geschichte. Und Sie?"
"Ich bin Köchin und habe mich vor zwei Jahren mit einem Partyservice selbstständig gemacht."
"Toll!" Florian war begeistert, und Jana musste unwillkürlich an Roland denken, der den Beruf, den sie liebte, nie ernst genommen hatte. Für ihn war es wünschenswert, dass sie zu Hause blieb, sobald sie ein Baby haben würden.
Florian fand, dass die junge Frau viel zu traurig aussah für jemanden, der am nächsten Tag heiraten wollte und tat alles, um sie aufzuheitern. Allerdings nicht ganz ohne Hintergedanken. Er hatte sich nämlich Hals über Kopf in Jana verliebt. Immer wieder sah er sie an. Ihr ebenmässiges Gesicht mit dem zarten Teint, das dunkelbraune Haar, die grünen Augen.
Am liebsten hätte er sie beschworen, diesem Kerl, der sie am Vorabend ihrer Hochzeit allein liess, nicht das Ja-Wort zu geben, doch dazu hatte er natürlich kein Recht. Aber jetzt wollte er zumindest, dass sie einen schönen Abend verbrachte - an den sie sich gern erinnern würde.
"Ihr zukünftiger Mann hat Glück, eine Frau wie Sie zu bekommen", machte er dennoch seinem Herzen Luft.
Janas Lächeln wirkte etwas verkrampft. Florian hatte das Gegenteil von dem ausgesprochen, wovon anscheinend alle anderen, Roland inbegriffen, überzeugt waren - dass nämlich sie es war, die das grosse Los gezogen hatte.
"Wenn ich nicht wüsste, dass Sie morgen vor den Traualtar treten, würde ich Ihnen jetzt gestehen, dass Sie die Frau meines Lebens sind", rutsche es ihm trotz aller guten Vorsätze heraus.
"Bitte, sagen Sie doch so etwas nicht", wehrte Jana verlegen ab. "Wir kennen uns doch kaum."
"Vielleicht kenne ich Sie schon sehr viel besser als Ihr Roland", beharrte er und fügte leise hinzu: "Ich wünsche Ihnen alles Glück dieser Erde, Jana. Und - dürfte ich Sie küssen? So ganz brüderlich? Ohne Hintergedanken?"
Sie blickte ihm in die Augen und wünschte im selben Moment, sie hätte es nicht getan. Es war, als würde ein Funke zwischen ihnen überspringen. Als er sanft nach ihrer Hand griff, schloss Jana die Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren. Es war in der Tat nur eine sanfte Berührung, aber so zart und innig, dass sie ihr Herz lichterloh in Flammen setzte.
Erschrocken stellte sie ihr Glas ab und verkündete fest: "Es ist besser, wenn ich jetzt heimgehe."
"Ist Ihr Roland denn schon da?"
"Das hat damit nichts zu tun", erwiderte sie schroff.
Während sie draussen vor dem Lokal auf Janas Taxi warteten, fragte sie in einem versöhnlichen Ton: "Gibt es eigentlich keine Frau in Ihrem Leben, Florian?"
"Tja, das ist so", begann er verlegen. "Früher wollte mich kein Mädchen zum Freund, weil ich so linkisch und schüchtern war. Später wollten mich dann immer nur die Frauen, an denen mir nichts lag. Und jetzt liebe ich eine Frau, die morgen heiratet. Wenn das kein Pech ist ..."
Florian als schüchterner Halbwüchsiger, Jana musste schmunzeln. Er war doch ein verdammt gutaussehender Mann. Natürlich nicht so umwerfend attraktiv wie Roland, aber dafür hatte er ein gutes Herz. Das spürte sie. Ein gutes Herz und ganz viel Charme.
"Jana, wenn es ein Problem gibt, ich meine, du musst doch nicht heiraten. Überleg es dir gut. Und ausserdem möchte ich dir sagen, dass mein Zug morgen früh um sieben fährt. Ich würde dir so gern München zeigen - und dich davon überzeugen, dass ich der Mann deines Lebens bin ..."
"Ach Florian", seufzte sie nur.
In diesem Moment kam das Taxi. Jana stieg rasch ein und winkte Florian im Davonfahren noch einmal zu. Als seine Gestalt am Strassenrand immer kleiner wurde, verspürte sie ein eigenartig wehmütiges Gefühl ...
_ _ _
Roland kam erst gegen vier Uhr morgens nach Hause. Er polterte so laut im Schlafzimmer herum, dass Jana aufwachte. Ächzend liess er sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Seine Alkoholfahne waberte zu Jana hinüber. Er ist ja voll wie eine Haubbitze, stellte sie angewidert fest. Sie lauschte auf sein Schnarchen und dachte an Florian. Seine blauen Augen, sein Lächeln ...
Um halb sechs stand Jana auf, zog sich an und packte ein paar Sachen in eine Reisetasche. Dann bestellte sie ein Taxi.
Nachdenklich trat sie zu Roland ans Bett und betrachtete ihn. Wusste dieser Mann, der da mit offenem Mund schnarchte, überhaupt, was Liebe war? Liebe, die das Herz wärmte? Liebe, die den Wunsch erweckte, sich niemals zu trennen, Hand in Hand durchs Leben zu gehen?
Sie rüttelte erst zaghaft, dann fester an seiner Schulter. Endlich öffnete Roland seine Augen und nuschelte unwirsch: "Verdammt, ist es denn schon soweit?"
"Du kannst gleich weiterschlafen, es ist noch sehr früh. Ich möchte dir nur etwas sagen."
"Hat das nicht Zeit?" knurrte er. "Aua, mein Kopf!"
"Ich mache es ganz kurz", sagte Jana und holte tief Luft: "Es tut mir leid, Roland, aber ich kann dich nicht heiraten."
Es klingelte. Das Taxi war da. Jana ging zur Haustür und öffnete sie. Aus dem Schlafzimmer rief Roland jetzt aufgeregt: "He, was hast du da gesagt?"
Doch Jana antwortete nicht. Sie fuhr zum Bahnhof.
Florian wollte gerade in den Zug steigen, als Jana ihn entdeckte. Sie tippte ihm auf die Schulter und fragte: "Möchtest du mir immer noch München zeigen?"
Überrascht drehte er sich um. Seine Augen begannen zu strahlen. "München und noch viel mehr. Ach, Jana, dass du gekommen bist ... " Dann verstummte er, nahm sie in die Arme und küsste sie.
"Florian", prustete sie atemlos, als er sie endlich losliess, "woher kannst du so gut küssen, wenn du angeblich bis jetzt nur Pech in der Liebe hattest?"
"Ach, manches lernt man dann doch mit der Zeit", grinste er verschmitzt und küsste sie noch einmal ...
ENDE
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Jana Menckens war noch dabei, nach dem Abendessen die Küche aufzuräumen, als Robert Helbert, der nach oben gegangen war, um sich umzuziehen, wieder vor ihr stand und sich zufrieden die Hände rieb: "Ich gehe dann. Bis später, Schatz."
Sie legte die Arme um seinen Hals: "Amüsier dich gut", flüsterte sie ihm ins Ohr, was sie allerdings ein bisschen Überwindung kostete, "und trink nicht zuviel!"
"Keine Bange", lachte er. "Ich finde schon wieder nach Hause. Warum bist du noch in der Küche? Musst du nicht auch los?"
"Gleich." Sie begleitete ihn zur Tür und bekam noch einen flüchtigen Kuss. Dann war er fort.
Während sie sich ebenfalls umzog, dachte sie an den morgigen Tag. Um elf Uhr Standesamt, um halb eins ein Essen nur für einige gute Freunde. Ende der Fahnenstange. Kein Tanz am Abend, keine Hochzeitsreise. Nach zwei Jahren Zusammenleben, fand Roland, sei die Trauung doch nur eine Formalität. Er hatte ja recht. Aber verdammt noch mal, warum träumte sie dann ständig irgendwelche Jungmädchenträume von einem wunderschönen Brautkleid, einer fröhlichen Hochzeitsfeier und Flitterwochen an einem romantischen Ort? Sie seufzte. Na gut. Das beige Kostüm, das sie sich extra für die standesamtliche Trauung gekauft hatte, konnte sie wenigstens später problemlos weitertragen.
Sie seufzte erneut, diesmal etwas lauter. Wenigstens diesen Abend hätte sie gern mit Roland verbracht. Aber er wollte ja unbedingt mit seinen beiden besten Freunden Abschied vom Junggesellenleben nehmen. Ausgerechnet mit Hans-Joachim, dem überzeugten Single, und mit Uwe, der es nicht lassen konnte, jeder halbwegs attraktiven Frau hinterherzustarren, obwohl er verheiratet war. Schöne Beispiele für eine glückliche Ehe, dachte Jana frustriert.
Sie hatte auf Roland gehört und sich ebenfalls mit ihren Freundinnen in einem Weinlokal verabredet. Sie dachte daran, wie sehr Rita und Melanie sie um Roland beneideten. Er sah gut aus, war intelligent, verantwortungsbewusst und in seinem Beruf als Rechtsanwalt ausserordentlich erfolgreich. Da fielen die paar Minuspunkte doch wohl kaum ins Gewicht? Es störte Jana nämlich manchmal, dass ihr zukünftiger Ehemann so phantasielos war, dass er es nicht mochte, wenn sie ihn vor anderen Leuten küsste und dass er, gelinde gesagt, sein Geld mächtig zusammenhielt. Nun, letzteres konnte sie ihm schlecht vorwerfen, er dachte eben an ihre gemeinsame Zukunft. Vielleicht war er auch reichlich autoritär? Alles musste immer nach seinen Wünschen gehen. Aber das konnte natürlich auch am Altersunterschied liegen. Sie war 26 Jahre alt, Roland schon 35.
Jana war jetzt ausgehfertig, dazu war sie spät dran. Doch mit einem Mal hatte sie das Gefühl, es ginge über ihre Kraft, sich wieder von Rita und Melanie anhören zu müssen, was für einen tollen Mann sie sich geangelt hatte. Dabei war es Roland gewesen, der ihr so zielstrebig und ausdauernd den Hof gemacht und sie förmlich bedrängt hatte, mit ihm zusammenzuziehen.
Nach kurzem Zögern rief Jana im Weinlokal an und bat, ihren beiden Freundinnen auszurichten, dass sie leider nicht kommen könne, weil sie verhindert sei. Dann griff sie sich die Schlüssel und ihre Tasche und zog die Tür hinter sich zu.
In den Strassen der Innenstadt von Hamburg herrschte viel Betrieb. Jana verharrte auf einer Brücke und schaute verträumt auf das Wasser der Alster, das golden in der letzten Abendsonne leuchtete. Ein Mann blieb neben ihr stehen. "Es ist wirklich atemberaubend schön", sagte er und strahlte sie an. "Haben Sie Lust, etwas mit mir zu feiern?"
Jana musste lachen: "Was denn?" fragte sie.
"Also, ich habe heute Nachmittag den Vertrag für mein erstes Buch unterzeichnet."
"Herzlichen Glückwunsch", sagte sie. "Aber haben Sie denn keine Freunde, mit denen Sie Ihren Erfolg feiern können?"
"Die sind in München, und ich fahre erst morgen zurück."
"Hm, verstehe." Kurzentschlossen sagte sie: "Also gut, ich bin einverstanden."
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Florian Rösing, wie er sich vorgestellt hatte, führte Jana in ein Lokal in der Nähe. Er bestellte eine Flasche Champagner, und sie stiessen miteinander an: "Auf Ihr Buch", sagte Jana.
"Auf Ihr Glück", erwiderte er.
"Das ist nett", lächelte Jana nachdenklich. "Ich heirate nämlich morgen."
"Sie ... Sie heiraten morgen?" Er verschluckte sich fast. "Und wo steckt Ihr Bräutigam?"
"Er nimmt mit Freunden Abschied vom Junggesellenleben."
"Das finde ich reichlich seltsam", meinte Florian. "Ich würde meine Braut nicht am Vorabend unserer Hochzeit allein lassen. Bei uns würde es einen zünftigen Polterabend geben."
"Das hätte ich auch viel schöner gefunden", gab Jana zu und wechselte dann schnell das Thema: "Sie sind also Schriftsteller?"
"Ich hoffe, einer zu werden. Eigentlich bin ich Lehrer. Für Deutsch und Geschichte. Und Sie?"
"Ich bin Köchin und habe mich vor zwei Jahren mit einem Partyservice selbstständig gemacht."
"Toll!" Florian war begeistert, und Jana musste unwillkürlich an Roland denken, der den Beruf, den sie liebte, nie ernst genommen hatte. Für ihn war es wünschenswert, dass sie zu Hause blieb, sobald sie ein Baby haben würden.
Florian fand, dass die junge Frau viel zu traurig aussah für jemanden, der am nächsten Tag heiraten wollte und tat alles, um sie aufzuheitern. Allerdings nicht ganz ohne Hintergedanken. Er hatte sich nämlich Hals über Kopf in Jana verliebt. Immer wieder sah er sie an. Ihr ebenmässiges Gesicht mit dem zarten Teint, das dunkelbraune Haar, die grünen Augen.
Am liebsten hätte er sie beschworen, diesem Kerl, der sie am Vorabend ihrer Hochzeit allein liess, nicht das Ja-Wort zu geben, doch dazu hatte er natürlich kein Recht. Aber jetzt wollte er zumindest, dass sie einen schönen Abend verbrachte - an den sie sich gern erinnern würde.
"Ihr zukünftiger Mann hat Glück, eine Frau wie Sie zu bekommen", machte er dennoch seinem Herzen Luft.
Janas Lächeln wirkte etwas verkrampft. Florian hatte das Gegenteil von dem ausgesprochen, wovon anscheinend alle anderen, Roland inbegriffen, überzeugt waren - dass nämlich sie es war, die das grosse Los gezogen hatte.
"Wenn ich nicht wüsste, dass Sie morgen vor den Traualtar treten, würde ich Ihnen jetzt gestehen, dass Sie die Frau meines Lebens sind", rutsche es ihm trotz aller guten Vorsätze heraus.
"Bitte, sagen Sie doch so etwas nicht", wehrte Jana verlegen ab. "Wir kennen uns doch kaum."
"Vielleicht kenne ich Sie schon sehr viel besser als Ihr Roland", beharrte er und fügte leise hinzu: "Ich wünsche Ihnen alles Glück dieser Erde, Jana. Und - dürfte ich Sie küssen? So ganz brüderlich? Ohne Hintergedanken?"
Sie blickte ihm in die Augen und wünschte im selben Moment, sie hätte es nicht getan. Es war, als würde ein Funke zwischen ihnen überspringen. Als er sanft nach ihrer Hand griff, schloss Jana die Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren. Es war in der Tat nur eine sanfte Berührung, aber so zart und innig, dass sie ihr Herz lichterloh in Flammen setzte.
Erschrocken stellte sie ihr Glas ab und verkündete fest: "Es ist besser, wenn ich jetzt heimgehe."
"Ist Ihr Roland denn schon da?"
"Das hat damit nichts zu tun", erwiderte sie schroff.
Während sie draussen vor dem Lokal auf Janas Taxi warteten, fragte sie in einem versöhnlichen Ton: "Gibt es eigentlich keine Frau in Ihrem Leben, Florian?"
"Tja, das ist so", begann er verlegen. "Früher wollte mich kein Mädchen zum Freund, weil ich so linkisch und schüchtern war. Später wollten mich dann immer nur die Frauen, an denen mir nichts lag. Und jetzt liebe ich eine Frau, die morgen heiratet. Wenn das kein Pech ist ..."
Florian als schüchterner Halbwüchsiger, Jana musste schmunzeln. Er war doch ein verdammt gutaussehender Mann. Natürlich nicht so umwerfend attraktiv wie Roland, aber dafür hatte er ein gutes Herz. Das spürte sie. Ein gutes Herz und ganz viel Charme.
"Jana, wenn es ein Problem gibt, ich meine, du musst doch nicht heiraten. Überleg es dir gut. Und ausserdem möchte ich dir sagen, dass mein Zug morgen früh um sieben fährt. Ich würde dir so gern München zeigen - und dich davon überzeugen, dass ich der Mann deines Lebens bin ..."
"Ach Florian", seufzte sie nur.
In diesem Moment kam das Taxi. Jana stieg rasch ein und winkte Florian im Davonfahren noch einmal zu. Als seine Gestalt am Strassenrand immer kleiner wurde, verspürte sie ein eigenartig wehmütiges Gefühl ...
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Roland kam erst gegen vier Uhr morgens nach Hause. Er polterte so laut im Schlafzimmer herum, dass Jana aufwachte. Ächzend liess er sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Seine Alkoholfahne waberte zu Jana hinüber. Er ist ja voll wie eine Haubbitze, stellte sie angewidert fest. Sie lauschte auf sein Schnarchen und dachte an Florian. Seine blauen Augen, sein Lächeln ...
Um halb sechs stand Jana auf, zog sich an und packte ein paar Sachen in eine Reisetasche. Dann bestellte sie ein Taxi.
Nachdenklich trat sie zu Roland ans Bett und betrachtete ihn. Wusste dieser Mann, der da mit offenem Mund schnarchte, überhaupt, was Liebe war? Liebe, die das Herz wärmte? Liebe, die den Wunsch erweckte, sich niemals zu trennen, Hand in Hand durchs Leben zu gehen?
Sie rüttelte erst zaghaft, dann fester an seiner Schulter. Endlich öffnete Roland seine Augen und nuschelte unwirsch: "Verdammt, ist es denn schon soweit?"
"Du kannst gleich weiterschlafen, es ist noch sehr früh. Ich möchte dir nur etwas sagen."
"Hat das nicht Zeit?" knurrte er. "Aua, mein Kopf!"
"Ich mache es ganz kurz", sagte Jana und holte tief Luft: "Es tut mir leid, Roland, aber ich kann dich nicht heiraten."
Es klingelte. Das Taxi war da. Jana ging zur Haustür und öffnete sie. Aus dem Schlafzimmer rief Roland jetzt aufgeregt: "He, was hast du da gesagt?"
Doch Jana antwortete nicht. Sie fuhr zum Bahnhof.
Florian wollte gerade in den Zug steigen, als Jana ihn entdeckte. Sie tippte ihm auf die Schulter und fragte: "Möchtest du mir immer noch München zeigen?"
Überrascht drehte er sich um. Seine Augen begannen zu strahlen. "München und noch viel mehr. Ach, Jana, dass du gekommen bist ... " Dann verstummte er, nahm sie in die Arme und küsste sie.
"Florian", prustete sie atemlos, als er sie endlich losliess, "woher kannst du so gut küssen, wenn du angeblich bis jetzt nur Pech in der Liebe hattest?"
"Ach, manches lernt man dann doch mit der Zeit", grinste er verschmitzt und küsste sie noch einmal ...
ENDE
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Dienstag, 14. Mai 2013
Bei Anruf: Liebe
hillebel, 09:33h
Martin ist glücklich mit Anke. Er will sie heiraten und das Baby adoptieren, das sie von einem anderen erwartet. Da kehrt Kathrin, die er einst leidenschaftlich liebte, aus Kanada zurück ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Martin freute sich, nach dem zehntägigen Fortbildungsseminar wieder zu Hause zu sein. Anke sass im Sessel und strickte an einem Babyjäckchen. Bald würden sie eine Familie sein. Zärtlich strich er über ihren Bauch, aber als er ihr einen Kuss geben wollte, wandte sie rasch den Kopf zur Seite. Ehe er sich darüber wundern konnte, läutete das Telefon. Er ging in die Diele und hob ab: "Martin Bessler", meldete er sich.
"Martin, hier ist Kathrin." Die dunkle, warme Stimme war wie ein Faustschlag. Alle Erinnerungen stiegen wieder in ihm hoch, zusammen mit einem Schmerz, der ihm fast die Kehle zuschnürte. Er brachte keinen Ton heraus.
"Martin, ich bin zurück, und da dachte ich, ich meine ... Ach, verdammt, mach's mir doch nicht so schwer! Könnten wir uns vielleicht sehen?"
"Sie sind falsch verbunden", sagte er kurz und legte auf.
Anke durfte nichts von Kathrins Anruf wissen. Einen Monat, bevor das Baby zur Welt kam, wollte er ihr jede Aufregung ersparen.
"Wer war das?", fragte sie, als er zurück kam.
"Ach, jemand hat sich verwählt."
Sie sah ihn prüfend an: "War das Kathrin? Sie hat schon einmal angerufen. Sie arbeitet wieder hier in der Bank. Ich wollte es dir erzählen, bin aber nicht dazu gekommen."
Heftig erwiderte er: "Es hätte nichts geändert. Sie hat mir zu weh getan!" In verändertem Ton fuhr er fort: "Ich bin so froh, dass ich dich habe, Anke. Mit dir habe ich das Glück gefunden."
Ankes hübsches, von blonden Haaren umrahmtes Gesicht war ungewöhnlich blass. "Martin, ich muss dir etwas sagen, und es fällt mir sehr schwer. Ich gehe zu Ralf zurück."
Der Boden schien unter seinen Füssen zu schwanken: "Ralf ist wieder da?"
"Ja, seit einem Monat." Sie lächelte, aber Martin ahnte, dass das Lächeln nicht ihm galt. "Wir haben uns ein paarmal getroffen, während du fort warst ..."
"Hast du vergessen, was er dir angetan hat?"
"Er hat sich geändert, Martin."
Heftig fragte er: "Und das Kind? Was wird aus unserem Kind?"
Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte behutsam: "Martin, es ist Ralfs Kind. Glaub mir, ich weiss, was ich an dir hatte. Du hast mir geholfen, als ich mich verloren und unglücklich fühlte. Und ich danke dir von ganzem Herzen, dass du mich heiraten und das Kind adoptieren wolltest. Wir beide empfinden Freundschaft, Zuneigung und Zärtlichkeit füreinander, nur eins nicht: Liebe. Leidenschaftliche Liebe. Körperlich spielt sich kaum noch etwas bei uns ab."
"Das ist normal. Du bist im achten Monat schwanger ..."
"Nein, Martin, es ist nicht nur das. Siehst du, ich habe deine Reaktion vorhin am Telefon beobachtet. Du warst so durcheinander, wie du es nie bei mir gewesen bist. Kathrin ist dir immer noch nicht gleichgültig."
"Es ist keine Liebe mehr. Nur Hass!"
"Jedes Kind weiss, dass Hass und Liebe zusammengehören. Ich habe Ralf auch gehasst, als er mich sitzen liess. Gut, wir haben das Kind nicht gewollt, aber als ich schwanger war, freute ich mich. Eine Abtreibung kam für mich nicht in Frage. Ralf dagegen ist ausgeflippt. Er empfand das Kind als Erpressung. Er ist vor der Verantwortung geflohen, aber was zählt, ist, dass er zurückgekommen ist. Wie ... wie Kathrin."
"Kathrin ist das egoistischste Wesen, das ich kenne", fuhr er auf.
"Sie hat doch nur eine berufliche Chance genutzt. Hättest du das nicht getan?"
"Wenn sie mich geliebt hätte, wäre sie geblieben."
"Wenn das so einfach wäre. Ich habe nach der Enttäuschung mit Ralf auch geglaubt, dass alles, was ich wollte, ein Mann wie du warst. Ich wollte nie mehr von der Liebe verletzt werden. Das hat uns beide an jenem Nachmittag auf der Café-Terrasse zusammengeführt. Wir haben uns gegenseitig getröstet. Jetzt ... jetzt genügt mir diese ruhige Zuneigung nicht mehr. Und auch du hättest dich eines Tages nicht mehr mit ihr zufrieden gegeben."
Sie stand auf, ging ins Schlafzimmer und kam mit einer Reisetasche zurück. Fassungslos starrte Martin sie an. Während er sich noch darauf gefreut hatte, wieder mit ihr zusammen zu sein, hatte sie heimlich gepackt, um ihn zu verlassen. Er kam sich unglaublich dumm vor. Und trotzdem stellte er verwundert fest, dass er nicht wirklich böse auf sie war. Er nahm ihr die Tasche ab: "Lass mich das tragen."
"Danke, aber nur bis nach unten", antwortete sie etwas verlegen und fügte hinzu: "Ralf holt mich nämlich ab."
Unten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen sanften Kuss: "Danke für alles, Martin. Ich weiss nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."
Ralf stand vor der Eingangstür. Martin stellte fest, dass sein Rivale nicht grösser war als er und auch nicht besser aussah. Und doch gab es einen Unterschied, bewirkt von der geheimnisvollen Alchemie der Liebe. Anke sah Ralf an, wie sie ihn, Martin, nie angesehen hatte. Und als Ralf sie in die Arme nahm, schien Ankes Bauch auf wunderbare Weise überhaupt nicht im Weg zu sein. Die beiden - oder vielmehr die drei - waren eins.
Martin ging in die Wohnung zurück. Oben liess er sich aufs Sofa fallen und verbarg das Gesicht in den Händen. Er wollte an Anke denken, aber er sah Kathrins Gesicht vor sich. Ihr dunkles Haar, das sie mal schulterlang, mal aufgesteckt trug. Ihre lebhaften brauen Augen. Ihren zärtlichen Mund, der so gern küsste und so gern lachte. Wie hatte er sie geliebt! Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, von Kindern gesprochen. Aber sie dachte an ihre Karriere, wollte nach Kanada. Er hatte es wie eine Ohrfeige empfunden. Sie brauchte doch nicht zu arbeiten. Als gutbezahlter Informatiker verdiente er genug für eine Familie!
Wie sanft und anschmiegsam war Anke dagegen gewesen. Sie brauchte ihn, und das zu wissen war Balsam für seine Wunden. Aber jetzt hatte auch Anke ihn verlassen. Weil sie Ralf noch mehr brauchte als ihn.
Wieder sah er Kathrin vor sich. Nicht immer war alles rosig gewesen. Sie hatten manchmal gestritten, dass die Fetzen flogen. Hatte Anke recht? Der Wunsch, Kathrin zu sehen, wurde auf einmal übermächtig. Aber wo konnte er sie erreichen? Die Bank hatte zu. Vielleicht konnte er ihre private Telefonnummer bei der Auskunft erfahren? Er lief in die Diele, und jetzt erst sah er den Zettel neben dem Telefon. In Ankes ordentlicher Handschrift stand eine Telefonnummer darauf und darunter Kathrins Adresse. Anke musste den Zettel dort hingelegt haben, während er mit ihrem Gepäck beschäftigt war. Die beiden Frauen mussten sich ausführlich unterhalten und beraten haben. Sicher hatte Kathrin gewusst, dass Anke ihn verlassen wollte. Hätte sie sonst vorhin angerufen?
"Ich Narr", murmelte Martin, während er Kathrins Nummer eintippte. Sie hob sofort ab, als hätte sie neben dem Telefon gewartet.
"Darf ich kommen, Kathrin?"
"Endlich Martin, endlich", sagte sie, und in ihrem leisen Lachen lag alle Liebe der Welt ...
ENDE
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Martin freute sich, nach dem zehntägigen Fortbildungsseminar wieder zu Hause zu sein. Anke sass im Sessel und strickte an einem Babyjäckchen. Bald würden sie eine Familie sein. Zärtlich strich er über ihren Bauch, aber als er ihr einen Kuss geben wollte, wandte sie rasch den Kopf zur Seite. Ehe er sich darüber wundern konnte, läutete das Telefon. Er ging in die Diele und hob ab: "Martin Bessler", meldete er sich.
"Martin, hier ist Kathrin." Die dunkle, warme Stimme war wie ein Faustschlag. Alle Erinnerungen stiegen wieder in ihm hoch, zusammen mit einem Schmerz, der ihm fast die Kehle zuschnürte. Er brachte keinen Ton heraus.
"Martin, ich bin zurück, und da dachte ich, ich meine ... Ach, verdammt, mach's mir doch nicht so schwer! Könnten wir uns vielleicht sehen?"
"Sie sind falsch verbunden", sagte er kurz und legte auf.
Anke durfte nichts von Kathrins Anruf wissen. Einen Monat, bevor das Baby zur Welt kam, wollte er ihr jede Aufregung ersparen.
"Wer war das?", fragte sie, als er zurück kam.
"Ach, jemand hat sich verwählt."
Sie sah ihn prüfend an: "War das Kathrin? Sie hat schon einmal angerufen. Sie arbeitet wieder hier in der Bank. Ich wollte es dir erzählen, bin aber nicht dazu gekommen."
Heftig erwiderte er: "Es hätte nichts geändert. Sie hat mir zu weh getan!" In verändertem Ton fuhr er fort: "Ich bin so froh, dass ich dich habe, Anke. Mit dir habe ich das Glück gefunden."
Ankes hübsches, von blonden Haaren umrahmtes Gesicht war ungewöhnlich blass. "Martin, ich muss dir etwas sagen, und es fällt mir sehr schwer. Ich gehe zu Ralf zurück."
Der Boden schien unter seinen Füssen zu schwanken: "Ralf ist wieder da?"
"Ja, seit einem Monat." Sie lächelte, aber Martin ahnte, dass das Lächeln nicht ihm galt. "Wir haben uns ein paarmal getroffen, während du fort warst ..."
"Hast du vergessen, was er dir angetan hat?"
"Er hat sich geändert, Martin."
Heftig fragte er: "Und das Kind? Was wird aus unserem Kind?"
Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte behutsam: "Martin, es ist Ralfs Kind. Glaub mir, ich weiss, was ich an dir hatte. Du hast mir geholfen, als ich mich verloren und unglücklich fühlte. Und ich danke dir von ganzem Herzen, dass du mich heiraten und das Kind adoptieren wolltest. Wir beide empfinden Freundschaft, Zuneigung und Zärtlichkeit füreinander, nur eins nicht: Liebe. Leidenschaftliche Liebe. Körperlich spielt sich kaum noch etwas bei uns ab."
"Das ist normal. Du bist im achten Monat schwanger ..."
"Nein, Martin, es ist nicht nur das. Siehst du, ich habe deine Reaktion vorhin am Telefon beobachtet. Du warst so durcheinander, wie du es nie bei mir gewesen bist. Kathrin ist dir immer noch nicht gleichgültig."
"Es ist keine Liebe mehr. Nur Hass!"
"Jedes Kind weiss, dass Hass und Liebe zusammengehören. Ich habe Ralf auch gehasst, als er mich sitzen liess. Gut, wir haben das Kind nicht gewollt, aber als ich schwanger war, freute ich mich. Eine Abtreibung kam für mich nicht in Frage. Ralf dagegen ist ausgeflippt. Er empfand das Kind als Erpressung. Er ist vor der Verantwortung geflohen, aber was zählt, ist, dass er zurückgekommen ist. Wie ... wie Kathrin."
"Kathrin ist das egoistischste Wesen, das ich kenne", fuhr er auf.
"Sie hat doch nur eine berufliche Chance genutzt. Hättest du das nicht getan?"
"Wenn sie mich geliebt hätte, wäre sie geblieben."
"Wenn das so einfach wäre. Ich habe nach der Enttäuschung mit Ralf auch geglaubt, dass alles, was ich wollte, ein Mann wie du warst. Ich wollte nie mehr von der Liebe verletzt werden. Das hat uns beide an jenem Nachmittag auf der Café-Terrasse zusammengeführt. Wir haben uns gegenseitig getröstet. Jetzt ... jetzt genügt mir diese ruhige Zuneigung nicht mehr. Und auch du hättest dich eines Tages nicht mehr mit ihr zufrieden gegeben."
Sie stand auf, ging ins Schlafzimmer und kam mit einer Reisetasche zurück. Fassungslos starrte Martin sie an. Während er sich noch darauf gefreut hatte, wieder mit ihr zusammen zu sein, hatte sie heimlich gepackt, um ihn zu verlassen. Er kam sich unglaublich dumm vor. Und trotzdem stellte er verwundert fest, dass er nicht wirklich böse auf sie war. Er nahm ihr die Tasche ab: "Lass mich das tragen."
"Danke, aber nur bis nach unten", antwortete sie etwas verlegen und fügte hinzu: "Ralf holt mich nämlich ab."
Unten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen sanften Kuss: "Danke für alles, Martin. Ich weiss nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."
Ralf stand vor der Eingangstür. Martin stellte fest, dass sein Rivale nicht grösser war als er und auch nicht besser aussah. Und doch gab es einen Unterschied, bewirkt von der geheimnisvollen Alchemie der Liebe. Anke sah Ralf an, wie sie ihn, Martin, nie angesehen hatte. Und als Ralf sie in die Arme nahm, schien Ankes Bauch auf wunderbare Weise überhaupt nicht im Weg zu sein. Die beiden - oder vielmehr die drei - waren eins.
Martin ging in die Wohnung zurück. Oben liess er sich aufs Sofa fallen und verbarg das Gesicht in den Händen. Er wollte an Anke denken, aber er sah Kathrins Gesicht vor sich. Ihr dunkles Haar, das sie mal schulterlang, mal aufgesteckt trug. Ihre lebhaften brauen Augen. Ihren zärtlichen Mund, der so gern küsste und so gern lachte. Wie hatte er sie geliebt! Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, von Kindern gesprochen. Aber sie dachte an ihre Karriere, wollte nach Kanada. Er hatte es wie eine Ohrfeige empfunden. Sie brauchte doch nicht zu arbeiten. Als gutbezahlter Informatiker verdiente er genug für eine Familie!
Wie sanft und anschmiegsam war Anke dagegen gewesen. Sie brauchte ihn, und das zu wissen war Balsam für seine Wunden. Aber jetzt hatte auch Anke ihn verlassen. Weil sie Ralf noch mehr brauchte als ihn.
Wieder sah er Kathrin vor sich. Nicht immer war alles rosig gewesen. Sie hatten manchmal gestritten, dass die Fetzen flogen. Hatte Anke recht? Der Wunsch, Kathrin zu sehen, wurde auf einmal übermächtig. Aber wo konnte er sie erreichen? Die Bank hatte zu. Vielleicht konnte er ihre private Telefonnummer bei der Auskunft erfahren? Er lief in die Diele, und jetzt erst sah er den Zettel neben dem Telefon. In Ankes ordentlicher Handschrift stand eine Telefonnummer darauf und darunter Kathrins Adresse. Anke musste den Zettel dort hingelegt haben, während er mit ihrem Gepäck beschäftigt war. Die beiden Frauen mussten sich ausführlich unterhalten und beraten haben. Sicher hatte Kathrin gewusst, dass Anke ihn verlassen wollte. Hätte sie sonst vorhin angerufen?
"Ich Narr", murmelte Martin, während er Kathrins Nummer eintippte. Sie hob sofort ab, als hätte sie neben dem Telefon gewartet.
"Darf ich kommen, Kathrin?"
"Endlich Martin, endlich", sagte sie, und in ihrem leisen Lachen lag alle Liebe der Welt ...
ENDE
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Mittwoch, 8. Mai 2013
Das Kaleidoskop der Gefühle
hillebel, 11:43h
Diese Sylvia mit ihrem kastanienbrauen Haar war überhaupt nicht Dennis' Typ, ausserdem war sie gebunden. Trotzdem musste er immer an sie denken ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
"Sag mal, allmählich bin ich sauer. Gib gefälligst ein Lebenszeichen von dir! Wenn ich in der Kanzelei anrufe, bist du gerade wahnsinnig beschäftigt, und wenn ich bei dir zu Hause anrufe, ist der Anrufbeantworter eingeschaltet ..."
"Schon gut, Dennis, ich bin ja da", schaltete Andreas Wagner sich ausgesprochen gutgelaunt ein. "Wo brennt's denn?"
"Machst du dich über mich lustig? Seit Wochen kriege ich dich nicht an die Strippe. Darf ich dich daran erinnern, dass ich dein bester Freund bin? Wann treffen wir uns mal wieder zu einem zünftigen Abend unter Männern?"
"Tja, du musst schon entschuldigen, aber im Augenblick habe ich etwas Besseres zu tun."
"Aha, eine Frau also!"
Andreas lachte: "Erraten." Dann machte er eine Pause, ehe er in verändertem Ton hinzufügte: "Aber diesmal ist es ernst. Warte ab, bis du sie siehst. Apropos, kannst du dich morgen Abend für eine Vernissage freimachen? Punkt sechs in der Galerie Schreiber, in der Wormserstrasse."
"Wird sie da sein?"
"Sie wird!"
"Natürlich komme ich!"
_ _ _
Punkt sechs betrat Dennis Brinkmann die kleine, aber bekannte Kunstgalerie in der Wormserstrasse. Es waren schon erstaunlich viele Besucher da, und Dennis hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Und da sah er sie. Eine blonde Frau mit einem Gesicht wie ein Engel und einem Körper wie eine Göttin. Ganz allein stand sie da. Ihre Schönheit schuf so etwas wie einen luftleeren Raum um sie herum. Sie wirkte fast etwas verloren. Natürlich, an eine solche Rassefrau wagten die Männer sich nicht heran! Dennis warf sich in die Brust, rückte seine Fliege gerade, setzte sein charmantestes Lächeln auf - und ging schnurstraks auf sie zu, um sie aus ihrer Not zu erlösen.
Als er vor ihr stand, traf ihn ein Blick aus tiefblauen Augen. Er war nachsichtig, fast etwas amüsiert. Dieser Blick brachte ihn etwas aus dem Konzept. Er suchte noch nach einer geistreichen und galanten Bemerkung, als plötzlich Andreas auftauchte, sich geradezu unhöflich zwischen sie schob, seinen Arm um die makellosen Schultern der Traumfrau legte und schadenfroh grinste: "Stop! Diese Dame ist nicht mehr im Angebot. Darf ich bekannt machen? Britta, das ist Dennis Brinkmann. Er ist Richter am hiesigen Zivilgericht. Dennis, dies ist Britta Wiegand. Hättest du dir zuerst, wie es sich gehört, die ausgestellten Kunstwerke angesehen, statt schnurstracks auf sie loszurennen, wüsstest du jetzt, dass es sich um die Künstlerin handelt. Leugne es ja nicht ab, ich habe es gesehen!"
"Sie sind schöner als jedes Kunstwerk, Britta. Und du, Andy, ich weiss wirklich nicht, womit du dir so etwas verdient hast!"
Britta lachte und reichte ihm die Hand: "Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Andy hat mir schon so viel von Ihnen erzählt."
"Hoffentlich nur Schmeichelhaftes." Dennis nahm die dargebotene Hand und drückte sie warm. "Falls dieser Nichtsnutz von Andy Sie jemals enttäuschen sollte, lassen Sie es mich sofort wissen. Ich bin in jeder Hinsicht der Bessere, und ich verspreche Ihnen, Sie immer und ewig auf Händen zu tragen!"
Dann wandte er sich an seinen Freund: "Wie kommt es, dass du mir nichts von Britta erzählt hast?"
"Ich werde den Teufel tun, du alter Lüstling. Du lernst sie heute kennen, das reicht völlig!"
Dennis wandte sich wieder Britta zu: "Und Sie sind wirklich zufrieden mit ihm?"
Wieder lachte sie, schmiegte sich zärtlich an Andreas: "Ich werde nie wieder jemanden finden, der so viel für mich tut. Andy hat mir geholfen, die Ausstellung vorzubereiten, und was das bedeutet, kann nur jemand wissen, der's schon mal hinter sich gebracht hat. Ohne ihn stünde ich jetzt als körperliches und seelisches Wrack vor Ihnen."
Jetzt wandte sie sich graziös aus Andreas' Armen und sagte: "Entschuldigt mich bitte, ihr beiden, ich bin gleich wieder da."
Einen Augenblick später kam sie mit einer jungen Frau zurück: "Sylvia, das ist Dennis Brinkmann, Andys bester Freund. Du, ich finde es wunderbar, dass du gekommen bist. Dennis, das ist Sylvia Bürger, meine beste Freundin aus Kindertagen."
Sylvia war etwas kleiner als Britta. Kastanienbraunes Haar fiel glatt bis auf ihre Schultern, ihr ovales Gesicht war fein geschnitten, und braune Augen sahen Dennis jetzt aufmerksam an. Es waren kluge Augen, die viel vom Leben zu wissen schienen. "Guten Tag, Herr Brinkmann", sagte sie freundlich.
"Guten Abend, Frau Bürger."
"Warum so förmlich?" warf Britta ein. "Ihr werdet euch sicher noch öfter sehen. Bitte, sagt doch einfach Dennis und Sylvia zueinander." Sie zog Dennis etwas beiseite und sagte leise: "Sylvia ist allein hier. Würden Sie ihr bitte etwas Gesellschaft leisten?"
"Selbstverständlich. Mit Vergnügen!" Sylvia war überhaupt nicht sein Typ, aber Britta zuliebe würde er sich den ganzen Abend sogar um einen Blumentopf kümmern.
"Und jetzt entschuldigt uns bitte, wir müssen zu unseren anderen Gästen!" Britta lächelte den beiden noch einmal zu und zog dann Andreas mit sich fort. Dennis und Sylvia waren allein.
"Haben Sie sich denn schon Brittas Bilder angesehen?"
"Ehrlich gesagt, nein. Ich verstehe leider nicht viel von Kunst."
"Möchten Sie, dass ich sie Ihnen zeige? Die meisten von ihnen habe ich entstehen sehen. Wissen Sie, Britta ist nicht nur schön, sie ist auch ein wunderbarer Mensch und eine aussergewöhnliche Künstlerin. Dies ist ihre erste persönliche Ausstellung."
Sie führte ihn vor jedes der Bilder, erklärte sie auf unterhaltsame Weise. Sylvia war in der Kunst zu Hause, und sie ging mit Dennis ganz unbefangen um.
Dennis hatte irgendwie angenommen, dass Sylvia völlig auf ihn angewiesen war, dass sie niemanden hier kannte. Warum sonst hätte Britta sie ihm anvertraut? Jetzt stellte er zu seiner Überraschung fest, dass die junge Frau immer wieder begrüsst und angesprochen wurde. Wiederholt erkundigte man sich, wie es Rudolf ginge, und jedesmal antwortete Sylvia freundlich, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe.
Dennis stand etwas verlegen daneben. Er mochte sie nicht fragen, wer dieser Rudolf war, und sie klärte ihn auch nicht darüber auf.
Eine Stunde später - Dennis war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war, denn er hatte sich nicht eine Sekunde mit Sylvia gelangweilt - standen sie vor dem Büffet, das in einem kleinen Nebenraum aufgebaut war.
Andreas schob ihnen ein Glas Sangria zu, schenkte auch seins wieder voll und prostete ihnen zu: "Ich bin ganz aufgeregt. Britta unterhält sich gerade mit einem ganz wichtigen Kunstkritiker."
Nachher gesellte sich Britta zu ihnen, und wieder fiel Dennis auf, dass Sylvia die meisten der Anwesenden zu kennen schien. Wieder war die Rede von Rudolf. Wer mochte das bloss sein? Ihr Mann? Ihr Kind? Ihr Hund?
Sylvia wurde jetzt zusehends unruhiger. Sie sah wiederholt auf die Uhr, erklärte schliesslich: "Britta, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt nach Hause."
"Bist du mit dem Wagen da?"
"Mein Wagen hat vor ein paar Tagen endgültig den Geist aufgegeben, ich bin mit dem Taxi gekommen."
"In diesem Fall", warf Dennis rasch ein, "erlauben Sie mir bitte, Sie nach Hause zu bringen."
Sylvia zögerte: "Das kann ich nicht annehmen, es ist ziemlich weit."
"Keine Widerworte, mein Wagen steht draussen." Dennis liess sich nicht abweisen.
Sylvia bedankte sich mit einem Lächeln. Britta umarmte sie und sagte: "Danke, dass du gekommen bist. Grüss Rudolf von mir!"
Im Wagen war Sylvia schweigsam, schien mit ihren Gedanken schon ganz woanders zu sein. Bei diesem Rudolf? Sie hatte Dennis die Adresse genannt. Er kannte die Strecke. Sie mussten ein Stück aus der Stadt hinausfahren. Auch er sprach nicht, konzentrierte sich auf die Strasse.
Zuletzt wies sie ihm wieder den Weg, und sie hielten schliesslich vor einem schönen, grossen Anwesen. Ein Herrenhaus, umgeben von einem parkähnlichen Garten.
Dennis war beeindruckt. "Hier leben Sie?"
Sylvia nickte. Bedankte sich. Wünschte ihm eine gute Heimfahrt und eine gute Nacht.
Während der ganzen Rückfahrt dachte er an Sylvia. Das wunderte ihn, denn Frauen wie sie hatten ihn nie besonders interessiert. Er mochte grosse, blonde, unkomplizierte Frauen. Die guten Kamaradinnen, die man einfach anrufen konnte, wenn man Lust zum Ausgehen - und auf mehr - hatte. Er war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, und die Frauen hatten es ihm immer leicht gemacht. Bis jetzt war ihm seine Freiheit über alles gegangen. Warum also zerbrach er sich jetzt den Kopf über eine Frau wie Sylvia? Allem Anschein nach war sie nicht einmal frei. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass Sylvia den ganzen Abend nur über Britta und deren Bilder gesprochen hatte, dass sie nichts über sich selbst preisgegeben hatte. Er ertappte sich bei dem Wunsch, mehr über sie wissen zu wollen ...
_ _ _
Der Zufall kam ihm zur Hilfe. Eine Woche später fuhr er in die Stadt. Er ging die Geschäftsstrasse entlang und prallte plötzlich mit einem Passanten zusammen. Er murmelte eine Entschuldigung, auf die ein helles Lachen erfolgte. Als er den Kopf hob, erkannte er Britta.
Er war verwirrt. Wie konnte es passieren, dass er eine Frau wie Britta umrannte? Dass er sie nicht schon Kilometer vorher gesehen hatte? Was war los mit ihm?
Britta lachte immer noch: "Sie schickt der Himmel", meinte sie vergnügt. "Könnten Sie mir helfen, ein paar Bilder bis zur Galerie zu tragen? Ein auswärtiger Kunde hat einen Grosseinkauf getätigt. Er wollte seine Errungenschaften gleich mitnehmen, und ich muss nun die leeren Plätze auffüllen. Leider habe ich keinen Parkplatz in der Nähe gefunden, und die Bilder sind ganz schön schwer und sperrig."
"Natürlich, Britta, mit dem grössten Vergnügen!"
Nach getaner Arbeit, sie sassen sich in einer gemütlichen Konditorei gegenüber, fragte er: "Natürlich vermisse ich ihn überhaupt nicht, aber wie kommt es, dass Andy nicht da ist?"
"Der Arme muss arbeiten. Er hat schon so viel Zeit mit meiner Ausstellung verloren, und seine Klienten werden ungeduldig."
Er rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her, und dann rückte er mit seinem Anliegen heraus: "Würden Sie mir bitte etwas über Ihre Freundin Sylvia erzählen? Nur wenn Sie mögen, natürlich."
Sie sah ihn nachdenklich an: "Sylvia ist ein aussergewöhnlicher Mensch."
"Ja, das glaube ich auch. Aber ich weiss nichts über sie. Nur, dass sie in einem wunderschönen Haus ausserhalb der Stadt lebt und dass es jemanden in ihrem Leben gibt, der Rudolf heisst und um den sie sich Sorgen macht. Wer ist dieser Rudolf?"
"Sie wissen also nicht, dass Sylvia mit Rudolf Endrig zusammenlebt?"
"Woher soll ich das wissen? Sie meinen Rudolg Endrig, den Schriftsteller?"
Britta nickte. "Sylvia ist seine Sekretärin - und seine Lebensgefährtin. Ich denke, ich kann es Ihnen ruhig anvertrauen. Es ist ein offenes Geheimnis in dieser Stadt."
"Aber Endrig ist alt, mindestens sechzig, und Sylvia ..."
"Rudolf ist 58 Jahre alt, und Sylvia ist 30, wie ich."
"Er ... er könnte ihr Vater sein." Dennis war sichtlich schockiert.
Britta lächelte: "Sylvia ist ohne Vater aufgewachsen, und es ist möglich, dass sie in Rudolf auch den Vater sieht, den sie nie gehabt hat. Sicher ist, dass sie ihn liebt und bewundert, und dass der Altersunterschied sie nicht stört."
"Sie sagen, dass Sylvia seine Lebensgefährtin ist. Warum heiratet Endrig sie nicht?"
"Weil er schon verheiratet ist. Rudolf hatte eine bezaubernde, aber kapriziöse Frau geheiratet. Er war wahnsinnig verliebt in sie, aber sie hinderte ihn mit ihren Ansprüchen und Launen am Schreiben. Sie hatte auch schnell angefangen, ihn zu betrügen, und vor zwölf Jahren trennte sich Rudolf von ihr, um sein Werk fortsetzen zu können. Aber einer Scheidung hat sie nie zugestimmt, und schon gar nicht, seit Sylvia bei ihm ist."
"Nach all der Zeit könnte er sich auch ohne ihre Zustimmung scheiden lassen."
"Seit der Trennung leidet seine Frau häufig unter Depressionen. Sie hat mehrere Aufenthalte in teuren Privatkliniken hinter sich. Er fühlt sich für sie verantwortlich. Ich halte ihr Festklammern an ihn für reine Selbstsucht, denn sie zeigt sich immer noch gern an der Seite anderer und immer wechselnder Männer. Aber eben: Rudolf ist ein wohlhabender Mann, und er ist krank. Seit einem Jahr ist er an den Rollstuhl gefesselt. Wenn ihm etwas zustösst, erbt sie alles."
"Aber ... das ist doch widerlich!" Dennis war empört. "Was sagt denn Sylvia dazu?"
"Ach, Sylvia denkt nicht an diese Dinge. Natürlich weiss sie, dass sie aus der Villa ausziehen muss, wenn Rudolf einmal nicht mehr lebt, aber sie sagt, dass keiner ihr die Zeit nehmen kann, in der sie mit ihm glücklich war."
"Aber er ist krank ..."
"Er war nicht immer krank. Natürlich, jetzt opfert sie sich für ihn auf, sie pflegt ihn. Rudolf selbst redet ihr zu, auch ohne ihn auszugehen. Alle laden sie so oft wie möglich ein, sie ist ja auch zu meiner Vernissage gekommen, aber sie mag ihn nie lange allein lassen." Sie fügte hinzu: "Ich bin froh, dass Sie Sylvia mögen."
Er konnte nur nicken, weil er sich auf einmal sehr unglücklich fühlte. Wie sehr er Sylvia mochte, das konnte auch Britta nicht ahnen ...
_ _ _
Drei Wochen später war Dennis bei Britta und Andy eingeladen. Andys geräumige,, aber ziemlich ungemütliche Wohnung war kaum wiederzuerkennen. Sie wirkte jetzt anheimelnd, lebendig. Britta hatte wahre Wunder vollbracht.
Die junge Frau war bezaubernder denn je, empfing ihre Gäste in einem langen, aufregend hoch geschlitzten Kleid. Andy barst fast vor Stolz und Liebe.
Britta warf einen Blick auf die festlich gedeckte Tafel und meinte: "Wir können gleich essen, es fehlt nur noch ein Gast."
In diesem Augenblick klingelte es. Andy ging öffnen - und kam mit Sylvia zurück.
Sie sah genau so aus wie am Abend der Vernissage. Die selbe schlichte Frisur, das selbe klare, offene Gesicht. Aber Dennis schien es auf einmal, als wäre es heller geworden im Raum, als verblasste selbst Brittas Schönheit vor ihr. Er hatte ab sofort nur noch Augen für sie, ging ihr entgegen, um sie zu begrüssen.
Er brachte sie auch diesmal wieder nach Hause, und im Wagen erzählte sie ihm von ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte ihre Mutter und sie verlassen, als sie kaum ein Jahr alt war: "Meine Mutter hat meinen Vater abgöttisch geliebt, sie hat ihn nie vergessen können. Ich glaube, manchmal merkte sie gar nicht, dass ich auch da war. Sie kümmerte sich natürlich um mich, tat alles, was eine Mutter tun muss, aber ihr Herz gehörte meinem Vater. Er war der einzige Mann ihres Lebens. Sie ist vor sechs Jahren gestorben. Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Ich glaube es fast."
"Und Ihr Vater?"
"Ich habe ihn nie wiedergesehen. Nach allem, was ich von ihm weiss, muss er ein notorischer Schürzenjäger gewesen sein. Ich habe ihn lange gehasst."
"Und jetzt?"
"Seit ich Rudolf kenne, habe ich meinem Vater verziehen", sagte sie leise.
Er zweifelte nicht daran, dass sie Endrig liebte, aber Endrig war krank, war an den Rollstuhl gefesselt. Was konnte er einer jungen Frau wie Sylvia geben?
Sie standen schon seit einer geraumen Weile mit abgedunkelten Scheinwerfern vor dem Haus. Er wusste nicht, wer die erste Bewegung gemacht hatte, aber auf einmal lagen sie sich in den Armen. Er küsste sie leidenschaftlich, und sie erwiderte seinen Kuss. Er spürte ihr Herz, das zum Zerspringen klopfte. Oder war es sein eigenes Herz? Aber schon riss sie sich mit einem erstickten Laut los, stiess die Wagentür auf, flüchtete ins Haus ...
Auf der ganzen Rückfahrt war ihm elend zumute. Er schalt sich einen Idioten, ein Trampeltier, einen unbelehrbaren Egoisten. Was musste Sylvia jetzt von ihm denken? Dass er ein rücksichtsloser Schürzenjäger war wie ihr Vater? Wie hatte er sich nur derart gehen lassen können! Sicher war sie jetzt völlig verzweifelt, machte sich bittere Vorwürfe.
Sein erster Plan war, Endrig aufzusuchen und ihn zu bitten, Sylvia freizugeben. Er wusste jetzt, dass er sie liebte. Sein innigster Wunsch war es, sie glücklich zu machen. Er konnte ihr, im Gegensatz zu ihm, die Heirat anbieten. Aber gleich darauf zweifelte er wieder. Vielleicht hatte Sylvia seinen Kuss nicht aus Liebe erwidert, sondern nur aus der körperlichen Sehnsucht nach der Umarmung eines Mannes heraus. Dass dieses körperliche Verlangen keine Liebe zu sein brauchte, wusste er selbst am allerbesten.
_ _ _
Er sah Sylvia nicht wieder. Britta sagte ihm, dass sie alle Einladungen ausschlug, das Haus und Rudolf praktisch nicht mehr verliess. Britta besuchte die beiden machmal, erzählte Dennis von der Abgeschiedenheit, in der Sylvia jetzt lebte und die weder Rudolf noch sie billigten. Niemand wusste, warum Sylvia so handelte.
Und Dennis fühlte sich schuldig. Er hatte mit dem Kuss alles zerstört. Zum ersten Mal in seinem Leben war er zutiefst unglücklich.
Einige Monate vergingen. Es war ein Sonntag Nachmittag. Er sass zu Hause an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen zu einem Prozess, als das Telefon läutete.
Es war Britta. Sie sagte: "Dennis, Rudolf ist heute früh gestorben. Morgen wird es in allen Zeitungen stehen, aber ich wollte, dass du es jetzt schon erfährst."
"Und Sylvia?" fragte er sofort.
"Ich gebe dir ihre neue Adresse."
"Sie ist also schon ausgezogen?"
"Rudolfs Frau ist vor zwei Wochen gekommen, gleich nachdem Rudolf ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Sie hat dafür gesorgt, dass Sylvia sofort das Haus verliess. Diese Hexe, diese ..." Britta konnte nicht weitersprechen, sie weinte.
Endlich fuhr sie fort: "Sylvia war bei ihm, als er starb. Seine Frau ist erst gekommen, als alles zu Ende war. Am Dienstag ist die Beerdigung."
"Ich werde da sein", versprach er.
_ _ _
Er sah sie sofort. Sie stand in der Kirche etwas abseits, trug keine Trauerkleidung. Er verbeugte sich vor ihr: "Kann ich etwas für Sie tun, Sylvia?" fragte er einfach. "Oder möchten Sie nicht, dass ich bleibe?"
Sie sah ihn lange aus rotgeweinten Augen an: "Nein, bleiben Sie", flüsterte sie. "Es ist gut, dass Sie gekommen sind."
Jetzt sah er auch Britta und Andreas, die hinter Sylvia standen, bereit, ihr beizustehen, wenn sie Hilfe brauchen sollte. Und dann auch die Witwe, tiefschwarz gekleidet, in der ersten Reihe.
Sylvia war seinem Blick gefolgt: "Rudolf wollte nicht, dass ich schwarz trage. Schwarz hätte mir nie gestanden, sagte er." Sie musste lächeln, und gleichzeitig weinte sie.
Endrig war ihm auf einmal sehr sympathisch. Seine Witwe hingegen widerte ihn an. Welch eine unwürdige Kommödie!
Auch auf dem Friedhof wich er nicht von Sylvias Seite. Zusammen mit Britta und Andreas hätte er sie gern vor allen neugierigen Blicken geschützt. Als alles zu Ende war, fragte er sie, ob er sie nach Hause bringen dürfe.
Das Appartmenthaus, in dem sie jetzt lebte, war ein schmuckloser, ziemlich einfacher Bau, und Dennis bekam es wieder mit der Wut, als er an die prunkvolle Villa dachte, die Endrigs Witwe jetzt bestimmt verkaufen würde.
"Möchten Sie mit hinaufkommen?" fragte Sylvia.
Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung war hell und hübsch eingerichtet. Ein paar Bilder von Britta hingen an den Wänden, und Dennis fielen auch ein paar einzelne hübsche Möbel auf, sowie eine schöne Skulptur, die auf dem niedrigen Tisch stand.
Sylvia lächelte: "Diese Möbel und die Skulptur hat Rudolf mir geschenkt."
"Und seine Witwe hat sie Ihnen gelassen?"
"Erstaunlicherweise, ja. Sie meinte, dass es schlimmer hätte kommen können."
"Und wovon leben Sie jetzt?"
"Ich habe einige Ersparnisse, und ich werde mir eine neue Arbeit suchen."
Und plötzlich füllten ihre Augen sich wieder mit Tränen. Sie sah so erschöpft, so unglücklich aus, dass Dennis nicht anders konnte: Er nahm sie in die Arme, bettete ihr Gesicht an seine Schulter. Er spürte kein Verlangen, nur den Wunsch, ihr zu helfen, sie zu trösten.
Lange blieben sie so stehen, und sie weinte sich ihren Schmerz von der Seele. Schliesslich löste sie sich von ihm: "Ich möchte jetzt allein sein", sagte sie, " aber bitte, kommen Sie bald wieder."
"Ich komme wieder", versprach er. Er wusste, dass er geduldig sein, dass er auf sie warten würde, solange es nötig war. Während er die Treppe hinunterging, dachte er an den Ausdruck ihrer Augen, an die geheime Sehnsucht, die er in ihnen gelesen hatte, und an die Verheissung eines gemeinsamen Glücks ...
ENDE
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"Sag mal, allmählich bin ich sauer. Gib gefälligst ein Lebenszeichen von dir! Wenn ich in der Kanzelei anrufe, bist du gerade wahnsinnig beschäftigt, und wenn ich bei dir zu Hause anrufe, ist der Anrufbeantworter eingeschaltet ..."
"Schon gut, Dennis, ich bin ja da", schaltete Andreas Wagner sich ausgesprochen gutgelaunt ein. "Wo brennt's denn?"
"Machst du dich über mich lustig? Seit Wochen kriege ich dich nicht an die Strippe. Darf ich dich daran erinnern, dass ich dein bester Freund bin? Wann treffen wir uns mal wieder zu einem zünftigen Abend unter Männern?"
"Tja, du musst schon entschuldigen, aber im Augenblick habe ich etwas Besseres zu tun."
"Aha, eine Frau also!"
Andreas lachte: "Erraten." Dann machte er eine Pause, ehe er in verändertem Ton hinzufügte: "Aber diesmal ist es ernst. Warte ab, bis du sie siehst. Apropos, kannst du dich morgen Abend für eine Vernissage freimachen? Punkt sechs in der Galerie Schreiber, in der Wormserstrasse."
"Wird sie da sein?"
"Sie wird!"
"Natürlich komme ich!"
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Punkt sechs betrat Dennis Brinkmann die kleine, aber bekannte Kunstgalerie in der Wormserstrasse. Es waren schon erstaunlich viele Besucher da, und Dennis hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Und da sah er sie. Eine blonde Frau mit einem Gesicht wie ein Engel und einem Körper wie eine Göttin. Ganz allein stand sie da. Ihre Schönheit schuf so etwas wie einen luftleeren Raum um sie herum. Sie wirkte fast etwas verloren. Natürlich, an eine solche Rassefrau wagten die Männer sich nicht heran! Dennis warf sich in die Brust, rückte seine Fliege gerade, setzte sein charmantestes Lächeln auf - und ging schnurstraks auf sie zu, um sie aus ihrer Not zu erlösen.
Als er vor ihr stand, traf ihn ein Blick aus tiefblauen Augen. Er war nachsichtig, fast etwas amüsiert. Dieser Blick brachte ihn etwas aus dem Konzept. Er suchte noch nach einer geistreichen und galanten Bemerkung, als plötzlich Andreas auftauchte, sich geradezu unhöflich zwischen sie schob, seinen Arm um die makellosen Schultern der Traumfrau legte und schadenfroh grinste: "Stop! Diese Dame ist nicht mehr im Angebot. Darf ich bekannt machen? Britta, das ist Dennis Brinkmann. Er ist Richter am hiesigen Zivilgericht. Dennis, dies ist Britta Wiegand. Hättest du dir zuerst, wie es sich gehört, die ausgestellten Kunstwerke angesehen, statt schnurstracks auf sie loszurennen, wüsstest du jetzt, dass es sich um die Künstlerin handelt. Leugne es ja nicht ab, ich habe es gesehen!"
"Sie sind schöner als jedes Kunstwerk, Britta. Und du, Andy, ich weiss wirklich nicht, womit du dir so etwas verdient hast!"
Britta lachte und reichte ihm die Hand: "Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Andy hat mir schon so viel von Ihnen erzählt."
"Hoffentlich nur Schmeichelhaftes." Dennis nahm die dargebotene Hand und drückte sie warm. "Falls dieser Nichtsnutz von Andy Sie jemals enttäuschen sollte, lassen Sie es mich sofort wissen. Ich bin in jeder Hinsicht der Bessere, und ich verspreche Ihnen, Sie immer und ewig auf Händen zu tragen!"
Dann wandte er sich an seinen Freund: "Wie kommt es, dass du mir nichts von Britta erzählt hast?"
"Ich werde den Teufel tun, du alter Lüstling. Du lernst sie heute kennen, das reicht völlig!"
Dennis wandte sich wieder Britta zu: "Und Sie sind wirklich zufrieden mit ihm?"
Wieder lachte sie, schmiegte sich zärtlich an Andreas: "Ich werde nie wieder jemanden finden, der so viel für mich tut. Andy hat mir geholfen, die Ausstellung vorzubereiten, und was das bedeutet, kann nur jemand wissen, der's schon mal hinter sich gebracht hat. Ohne ihn stünde ich jetzt als körperliches und seelisches Wrack vor Ihnen."
Jetzt wandte sie sich graziös aus Andreas' Armen und sagte: "Entschuldigt mich bitte, ihr beiden, ich bin gleich wieder da."
Einen Augenblick später kam sie mit einer jungen Frau zurück: "Sylvia, das ist Dennis Brinkmann, Andys bester Freund. Du, ich finde es wunderbar, dass du gekommen bist. Dennis, das ist Sylvia Bürger, meine beste Freundin aus Kindertagen."
Sylvia war etwas kleiner als Britta. Kastanienbraunes Haar fiel glatt bis auf ihre Schultern, ihr ovales Gesicht war fein geschnitten, und braune Augen sahen Dennis jetzt aufmerksam an. Es waren kluge Augen, die viel vom Leben zu wissen schienen. "Guten Tag, Herr Brinkmann", sagte sie freundlich.
"Guten Abend, Frau Bürger."
"Warum so förmlich?" warf Britta ein. "Ihr werdet euch sicher noch öfter sehen. Bitte, sagt doch einfach Dennis und Sylvia zueinander." Sie zog Dennis etwas beiseite und sagte leise: "Sylvia ist allein hier. Würden Sie ihr bitte etwas Gesellschaft leisten?"
"Selbstverständlich. Mit Vergnügen!" Sylvia war überhaupt nicht sein Typ, aber Britta zuliebe würde er sich den ganzen Abend sogar um einen Blumentopf kümmern.
"Und jetzt entschuldigt uns bitte, wir müssen zu unseren anderen Gästen!" Britta lächelte den beiden noch einmal zu und zog dann Andreas mit sich fort. Dennis und Sylvia waren allein.
"Haben Sie sich denn schon Brittas Bilder angesehen?"
"Ehrlich gesagt, nein. Ich verstehe leider nicht viel von Kunst."
"Möchten Sie, dass ich sie Ihnen zeige? Die meisten von ihnen habe ich entstehen sehen. Wissen Sie, Britta ist nicht nur schön, sie ist auch ein wunderbarer Mensch und eine aussergewöhnliche Künstlerin. Dies ist ihre erste persönliche Ausstellung."
Sie führte ihn vor jedes der Bilder, erklärte sie auf unterhaltsame Weise. Sylvia war in der Kunst zu Hause, und sie ging mit Dennis ganz unbefangen um.
Dennis hatte irgendwie angenommen, dass Sylvia völlig auf ihn angewiesen war, dass sie niemanden hier kannte. Warum sonst hätte Britta sie ihm anvertraut? Jetzt stellte er zu seiner Überraschung fest, dass die junge Frau immer wieder begrüsst und angesprochen wurde. Wiederholt erkundigte man sich, wie es Rudolf ginge, und jedesmal antwortete Sylvia freundlich, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe.
Dennis stand etwas verlegen daneben. Er mochte sie nicht fragen, wer dieser Rudolf war, und sie klärte ihn auch nicht darüber auf.
Eine Stunde später - Dennis war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war, denn er hatte sich nicht eine Sekunde mit Sylvia gelangweilt - standen sie vor dem Büffet, das in einem kleinen Nebenraum aufgebaut war.
Andreas schob ihnen ein Glas Sangria zu, schenkte auch seins wieder voll und prostete ihnen zu: "Ich bin ganz aufgeregt. Britta unterhält sich gerade mit einem ganz wichtigen Kunstkritiker."
Nachher gesellte sich Britta zu ihnen, und wieder fiel Dennis auf, dass Sylvia die meisten der Anwesenden zu kennen schien. Wieder war die Rede von Rudolf. Wer mochte das bloss sein? Ihr Mann? Ihr Kind? Ihr Hund?
Sylvia wurde jetzt zusehends unruhiger. Sie sah wiederholt auf die Uhr, erklärte schliesslich: "Britta, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt nach Hause."
"Bist du mit dem Wagen da?"
"Mein Wagen hat vor ein paar Tagen endgültig den Geist aufgegeben, ich bin mit dem Taxi gekommen."
"In diesem Fall", warf Dennis rasch ein, "erlauben Sie mir bitte, Sie nach Hause zu bringen."
Sylvia zögerte: "Das kann ich nicht annehmen, es ist ziemlich weit."
"Keine Widerworte, mein Wagen steht draussen." Dennis liess sich nicht abweisen.
Sylvia bedankte sich mit einem Lächeln. Britta umarmte sie und sagte: "Danke, dass du gekommen bist. Grüss Rudolf von mir!"
Im Wagen war Sylvia schweigsam, schien mit ihren Gedanken schon ganz woanders zu sein. Bei diesem Rudolf? Sie hatte Dennis die Adresse genannt. Er kannte die Strecke. Sie mussten ein Stück aus der Stadt hinausfahren. Auch er sprach nicht, konzentrierte sich auf die Strasse.
Zuletzt wies sie ihm wieder den Weg, und sie hielten schliesslich vor einem schönen, grossen Anwesen. Ein Herrenhaus, umgeben von einem parkähnlichen Garten.
Dennis war beeindruckt. "Hier leben Sie?"
Sylvia nickte. Bedankte sich. Wünschte ihm eine gute Heimfahrt und eine gute Nacht.
Während der ganzen Rückfahrt dachte er an Sylvia. Das wunderte ihn, denn Frauen wie sie hatten ihn nie besonders interessiert. Er mochte grosse, blonde, unkomplizierte Frauen. Die guten Kamaradinnen, die man einfach anrufen konnte, wenn man Lust zum Ausgehen - und auf mehr - hatte. Er war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, und die Frauen hatten es ihm immer leicht gemacht. Bis jetzt war ihm seine Freiheit über alles gegangen. Warum also zerbrach er sich jetzt den Kopf über eine Frau wie Sylvia? Allem Anschein nach war sie nicht einmal frei. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass Sylvia den ganzen Abend nur über Britta und deren Bilder gesprochen hatte, dass sie nichts über sich selbst preisgegeben hatte. Er ertappte sich bei dem Wunsch, mehr über sie wissen zu wollen ...
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Der Zufall kam ihm zur Hilfe. Eine Woche später fuhr er in die Stadt. Er ging die Geschäftsstrasse entlang und prallte plötzlich mit einem Passanten zusammen. Er murmelte eine Entschuldigung, auf die ein helles Lachen erfolgte. Als er den Kopf hob, erkannte er Britta.
Er war verwirrt. Wie konnte es passieren, dass er eine Frau wie Britta umrannte? Dass er sie nicht schon Kilometer vorher gesehen hatte? Was war los mit ihm?
Britta lachte immer noch: "Sie schickt der Himmel", meinte sie vergnügt. "Könnten Sie mir helfen, ein paar Bilder bis zur Galerie zu tragen? Ein auswärtiger Kunde hat einen Grosseinkauf getätigt. Er wollte seine Errungenschaften gleich mitnehmen, und ich muss nun die leeren Plätze auffüllen. Leider habe ich keinen Parkplatz in der Nähe gefunden, und die Bilder sind ganz schön schwer und sperrig."
"Natürlich, Britta, mit dem grössten Vergnügen!"
Nach getaner Arbeit, sie sassen sich in einer gemütlichen Konditorei gegenüber, fragte er: "Natürlich vermisse ich ihn überhaupt nicht, aber wie kommt es, dass Andy nicht da ist?"
"Der Arme muss arbeiten. Er hat schon so viel Zeit mit meiner Ausstellung verloren, und seine Klienten werden ungeduldig."
Er rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her, und dann rückte er mit seinem Anliegen heraus: "Würden Sie mir bitte etwas über Ihre Freundin Sylvia erzählen? Nur wenn Sie mögen, natürlich."
Sie sah ihn nachdenklich an: "Sylvia ist ein aussergewöhnlicher Mensch."
"Ja, das glaube ich auch. Aber ich weiss nichts über sie. Nur, dass sie in einem wunderschönen Haus ausserhalb der Stadt lebt und dass es jemanden in ihrem Leben gibt, der Rudolf heisst und um den sie sich Sorgen macht. Wer ist dieser Rudolf?"
"Sie wissen also nicht, dass Sylvia mit Rudolf Endrig zusammenlebt?"
"Woher soll ich das wissen? Sie meinen Rudolg Endrig, den Schriftsteller?"
Britta nickte. "Sylvia ist seine Sekretärin - und seine Lebensgefährtin. Ich denke, ich kann es Ihnen ruhig anvertrauen. Es ist ein offenes Geheimnis in dieser Stadt."
"Aber Endrig ist alt, mindestens sechzig, und Sylvia ..."
"Rudolf ist 58 Jahre alt, und Sylvia ist 30, wie ich."
"Er ... er könnte ihr Vater sein." Dennis war sichtlich schockiert.
Britta lächelte: "Sylvia ist ohne Vater aufgewachsen, und es ist möglich, dass sie in Rudolf auch den Vater sieht, den sie nie gehabt hat. Sicher ist, dass sie ihn liebt und bewundert, und dass der Altersunterschied sie nicht stört."
"Sie sagen, dass Sylvia seine Lebensgefährtin ist. Warum heiratet Endrig sie nicht?"
"Weil er schon verheiratet ist. Rudolf hatte eine bezaubernde, aber kapriziöse Frau geheiratet. Er war wahnsinnig verliebt in sie, aber sie hinderte ihn mit ihren Ansprüchen und Launen am Schreiben. Sie hatte auch schnell angefangen, ihn zu betrügen, und vor zwölf Jahren trennte sich Rudolf von ihr, um sein Werk fortsetzen zu können. Aber einer Scheidung hat sie nie zugestimmt, und schon gar nicht, seit Sylvia bei ihm ist."
"Nach all der Zeit könnte er sich auch ohne ihre Zustimmung scheiden lassen."
"Seit der Trennung leidet seine Frau häufig unter Depressionen. Sie hat mehrere Aufenthalte in teuren Privatkliniken hinter sich. Er fühlt sich für sie verantwortlich. Ich halte ihr Festklammern an ihn für reine Selbstsucht, denn sie zeigt sich immer noch gern an der Seite anderer und immer wechselnder Männer. Aber eben: Rudolf ist ein wohlhabender Mann, und er ist krank. Seit einem Jahr ist er an den Rollstuhl gefesselt. Wenn ihm etwas zustösst, erbt sie alles."
"Aber ... das ist doch widerlich!" Dennis war empört. "Was sagt denn Sylvia dazu?"
"Ach, Sylvia denkt nicht an diese Dinge. Natürlich weiss sie, dass sie aus der Villa ausziehen muss, wenn Rudolf einmal nicht mehr lebt, aber sie sagt, dass keiner ihr die Zeit nehmen kann, in der sie mit ihm glücklich war."
"Aber er ist krank ..."
"Er war nicht immer krank. Natürlich, jetzt opfert sie sich für ihn auf, sie pflegt ihn. Rudolf selbst redet ihr zu, auch ohne ihn auszugehen. Alle laden sie so oft wie möglich ein, sie ist ja auch zu meiner Vernissage gekommen, aber sie mag ihn nie lange allein lassen." Sie fügte hinzu: "Ich bin froh, dass Sie Sylvia mögen."
Er konnte nur nicken, weil er sich auf einmal sehr unglücklich fühlte. Wie sehr er Sylvia mochte, das konnte auch Britta nicht ahnen ...
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Drei Wochen später war Dennis bei Britta und Andy eingeladen. Andys geräumige,, aber ziemlich ungemütliche Wohnung war kaum wiederzuerkennen. Sie wirkte jetzt anheimelnd, lebendig. Britta hatte wahre Wunder vollbracht.
Die junge Frau war bezaubernder denn je, empfing ihre Gäste in einem langen, aufregend hoch geschlitzten Kleid. Andy barst fast vor Stolz und Liebe.
Britta warf einen Blick auf die festlich gedeckte Tafel und meinte: "Wir können gleich essen, es fehlt nur noch ein Gast."
In diesem Augenblick klingelte es. Andy ging öffnen - und kam mit Sylvia zurück.
Sie sah genau so aus wie am Abend der Vernissage. Die selbe schlichte Frisur, das selbe klare, offene Gesicht. Aber Dennis schien es auf einmal, als wäre es heller geworden im Raum, als verblasste selbst Brittas Schönheit vor ihr. Er hatte ab sofort nur noch Augen für sie, ging ihr entgegen, um sie zu begrüssen.
Er brachte sie auch diesmal wieder nach Hause, und im Wagen erzählte sie ihm von ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte ihre Mutter und sie verlassen, als sie kaum ein Jahr alt war: "Meine Mutter hat meinen Vater abgöttisch geliebt, sie hat ihn nie vergessen können. Ich glaube, manchmal merkte sie gar nicht, dass ich auch da war. Sie kümmerte sich natürlich um mich, tat alles, was eine Mutter tun muss, aber ihr Herz gehörte meinem Vater. Er war der einzige Mann ihres Lebens. Sie ist vor sechs Jahren gestorben. Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Ich glaube es fast."
"Und Ihr Vater?"
"Ich habe ihn nie wiedergesehen. Nach allem, was ich von ihm weiss, muss er ein notorischer Schürzenjäger gewesen sein. Ich habe ihn lange gehasst."
"Und jetzt?"
"Seit ich Rudolf kenne, habe ich meinem Vater verziehen", sagte sie leise.
Er zweifelte nicht daran, dass sie Endrig liebte, aber Endrig war krank, war an den Rollstuhl gefesselt. Was konnte er einer jungen Frau wie Sylvia geben?
Sie standen schon seit einer geraumen Weile mit abgedunkelten Scheinwerfern vor dem Haus. Er wusste nicht, wer die erste Bewegung gemacht hatte, aber auf einmal lagen sie sich in den Armen. Er küsste sie leidenschaftlich, und sie erwiderte seinen Kuss. Er spürte ihr Herz, das zum Zerspringen klopfte. Oder war es sein eigenes Herz? Aber schon riss sie sich mit einem erstickten Laut los, stiess die Wagentür auf, flüchtete ins Haus ...
Auf der ganzen Rückfahrt war ihm elend zumute. Er schalt sich einen Idioten, ein Trampeltier, einen unbelehrbaren Egoisten. Was musste Sylvia jetzt von ihm denken? Dass er ein rücksichtsloser Schürzenjäger war wie ihr Vater? Wie hatte er sich nur derart gehen lassen können! Sicher war sie jetzt völlig verzweifelt, machte sich bittere Vorwürfe.
Sein erster Plan war, Endrig aufzusuchen und ihn zu bitten, Sylvia freizugeben. Er wusste jetzt, dass er sie liebte. Sein innigster Wunsch war es, sie glücklich zu machen. Er konnte ihr, im Gegensatz zu ihm, die Heirat anbieten. Aber gleich darauf zweifelte er wieder. Vielleicht hatte Sylvia seinen Kuss nicht aus Liebe erwidert, sondern nur aus der körperlichen Sehnsucht nach der Umarmung eines Mannes heraus. Dass dieses körperliche Verlangen keine Liebe zu sein brauchte, wusste er selbst am allerbesten.
_ _ _
Er sah Sylvia nicht wieder. Britta sagte ihm, dass sie alle Einladungen ausschlug, das Haus und Rudolf praktisch nicht mehr verliess. Britta besuchte die beiden machmal, erzählte Dennis von der Abgeschiedenheit, in der Sylvia jetzt lebte und die weder Rudolf noch sie billigten. Niemand wusste, warum Sylvia so handelte.
Und Dennis fühlte sich schuldig. Er hatte mit dem Kuss alles zerstört. Zum ersten Mal in seinem Leben war er zutiefst unglücklich.
Einige Monate vergingen. Es war ein Sonntag Nachmittag. Er sass zu Hause an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen zu einem Prozess, als das Telefon läutete.
Es war Britta. Sie sagte: "Dennis, Rudolf ist heute früh gestorben. Morgen wird es in allen Zeitungen stehen, aber ich wollte, dass du es jetzt schon erfährst."
"Und Sylvia?" fragte er sofort.
"Ich gebe dir ihre neue Adresse."
"Sie ist also schon ausgezogen?"
"Rudolfs Frau ist vor zwei Wochen gekommen, gleich nachdem Rudolf ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Sie hat dafür gesorgt, dass Sylvia sofort das Haus verliess. Diese Hexe, diese ..." Britta konnte nicht weitersprechen, sie weinte.
Endlich fuhr sie fort: "Sylvia war bei ihm, als er starb. Seine Frau ist erst gekommen, als alles zu Ende war. Am Dienstag ist die Beerdigung."
"Ich werde da sein", versprach er.
_ _ _
Er sah sie sofort. Sie stand in der Kirche etwas abseits, trug keine Trauerkleidung. Er verbeugte sich vor ihr: "Kann ich etwas für Sie tun, Sylvia?" fragte er einfach. "Oder möchten Sie nicht, dass ich bleibe?"
Sie sah ihn lange aus rotgeweinten Augen an: "Nein, bleiben Sie", flüsterte sie. "Es ist gut, dass Sie gekommen sind."
Jetzt sah er auch Britta und Andreas, die hinter Sylvia standen, bereit, ihr beizustehen, wenn sie Hilfe brauchen sollte. Und dann auch die Witwe, tiefschwarz gekleidet, in der ersten Reihe.
Sylvia war seinem Blick gefolgt: "Rudolf wollte nicht, dass ich schwarz trage. Schwarz hätte mir nie gestanden, sagte er." Sie musste lächeln, und gleichzeitig weinte sie.
Endrig war ihm auf einmal sehr sympathisch. Seine Witwe hingegen widerte ihn an. Welch eine unwürdige Kommödie!
Auch auf dem Friedhof wich er nicht von Sylvias Seite. Zusammen mit Britta und Andreas hätte er sie gern vor allen neugierigen Blicken geschützt. Als alles zu Ende war, fragte er sie, ob er sie nach Hause bringen dürfe.
Das Appartmenthaus, in dem sie jetzt lebte, war ein schmuckloser, ziemlich einfacher Bau, und Dennis bekam es wieder mit der Wut, als er an die prunkvolle Villa dachte, die Endrigs Witwe jetzt bestimmt verkaufen würde.
"Möchten Sie mit hinaufkommen?" fragte Sylvia.
Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung war hell und hübsch eingerichtet. Ein paar Bilder von Britta hingen an den Wänden, und Dennis fielen auch ein paar einzelne hübsche Möbel auf, sowie eine schöne Skulptur, die auf dem niedrigen Tisch stand.
Sylvia lächelte: "Diese Möbel und die Skulptur hat Rudolf mir geschenkt."
"Und seine Witwe hat sie Ihnen gelassen?"
"Erstaunlicherweise, ja. Sie meinte, dass es schlimmer hätte kommen können."
"Und wovon leben Sie jetzt?"
"Ich habe einige Ersparnisse, und ich werde mir eine neue Arbeit suchen."
Und plötzlich füllten ihre Augen sich wieder mit Tränen. Sie sah so erschöpft, so unglücklich aus, dass Dennis nicht anders konnte: Er nahm sie in die Arme, bettete ihr Gesicht an seine Schulter. Er spürte kein Verlangen, nur den Wunsch, ihr zu helfen, sie zu trösten.
Lange blieben sie so stehen, und sie weinte sich ihren Schmerz von der Seele. Schliesslich löste sie sich von ihm: "Ich möchte jetzt allein sein", sagte sie, " aber bitte, kommen Sie bald wieder."
"Ich komme wieder", versprach er. Er wusste, dass er geduldig sein, dass er auf sie warten würde, solange es nötig war. Während er die Treppe hinunterging, dachte er an den Ausdruck ihrer Augen, an die geheime Sehnsucht, die er in ihnen gelesen hatte, und an die Verheissung eines gemeinsamen Glücks ...
ENDE
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Sonntag, 5. Mai 2013
Wunderschöne Ferien
hillebel, 11:35h
Bei Sophie und Bruno war es Liebe auf den ersten Blick. Sie wollen so bald wie möglich heiraten. Doch da sind noch ihr Sohn und seine Tochter. Und die wollen nichts von einer Ehe ihrer Eltern wissen ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Bruno parkte seinen Wagen vor dem Gartentor. Das Haus hatte hellgelb gestrichene Fensterläden und war von einem kleinen, romantisch verwilderten Garten umgeben. Er sah Sophie, die neben ihm sass, lächelnd an und verkündete: "Wir sind da, Liebes. Was meinst du, ist es nicht genau der richtige Ort für unsere gemeinsamen Ferien?"
Sie löste den Sicherheitsgurt, beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss: "Wunderschön. Es muss den Kindern einfach gefallen!"
Die Kinder, das waren Falk und Daniela. Der 22-jährige Falk, Sophies Sohn, studierte Mathematik in Freiburg. Brunos 20-jährige Tochter Daniela hatte ihm Herbst ihr Medizinstudium begonnen. Falk würde morgen ankommen, er hatte einen eigenen Wagen, und Bruno sollte seine Daniela übermorgen am Flughafen von Nizza abholen.
"Ach je, ich hoffe nur, dass alles gut geht", gab Sophie jetzt ihren bangen Gefühlen nach.
"Warum sollte es nicht? Nach allem, was du mir von Falk erzählt hast, mag ich ihn schon jetzt!" Bruno war zuversichtlich von Natur aus.
"Mir geht es genau so mit deiner Daniela, aber was werden die beiden von uns denken? Von einer Frau und einem Mann, die sich gerade vor vier Monaten kennengelernt haben und schon heiraten wollen?"
Bruno lachte und zog sie an sich: "Sie werden denken, dass sie sich sehr lieb haben müssen. Was sollen unsere Kinder denn gegen unsere Heirat haben? Sie sind erwachsen."
Sophie war da nicht so sicher, aber es tat ihr gut, Brunos Arm um sich zu spüren.
"Na, dann wollen wir uns mal das Haus ansehen", meinte Bruno fröhlich.
Sophie öffnete die Fensterläden, um Luft und Sonne hineinzulassen, während Bruno das Gepäck auslud. Das Haus, das Bruno für die Ferien gemietet hatte, lag etwas ausserhalb der Stadtmauern von Saint-Paul-de-Vence, im bergigen Hinterland von Nizza.
Sie wählte den grösseren der drei Schlafräume für Bruno und sich aus. Es war so still, so friedlich, dass sie sich einen Augenblick auf das Bett setzte, um ihren Gedanken nachzuhängen.
Bruno und sie hatten sich während einer internationalen medizinischen Tagung in Hamburg kennengelernt. Er hielt einen Vortrag, den sie simultan ins Französische übersetzte. Später hatte sie ihn in der Halle wiedergesehen, zusammen mit einem französischen Kollegen. Die beiden schienen ernsthafte Verständigungsschwierigkeiten zu haben, und Sophie hatte ihnen spontan ihre Hilfe angeboten. Zum Dank hatte sie ein strahlender Blick voll Charme aus sehr blauen Augen getroffen.
Es hatte damit geendet, dass Dr. Bruno Brakenhoff Sophie Elsberg zum Abendessen einlud. Und in dem gemütlichen kleinen Restaurant war endgültig der Funke übergesprungen. Als er sie dann sehr spät nach Hause brachte, waren sie füreinander schon Sophie und Bruno.
Bruno wusste von Sophie, dass sie viel zu früh ihren geliebten Mann verloren hatte und den damals dreijährigen Sohn allein aufziehen musste. Und Sophie wusste von Bruno, dass seine Ehe vor vier Jahren geschieden worden war. Seine Frau hatte das Leben an der Seite des vielbeschäftigten Arztes nicht mehr ertragen. Daniela war bei der Mutter geblieben, die bereits kurz nach der Scheidung wieder geheiratet hatte.
Aber Sophie dachte auch an Falk. Sie war immer eine berufstätige Mutter gewesen. Wie hätte sie es anders machen können? Falk hatte früh lernen müssen, allein zurechtzukommen und Verantwortung zu übernehmen. Das hatte ihr manchmal bitter leid getan. Falk war ein vernünftiges, sehr zärtliches Kind gewesen. Sie erinnerte sich an die rührenden kleinen Blumensträusse, die er ihr auf Spaziergängen gepflückt hatte. In den letzten Jahren war er seinem Vater, innerlich und äusserlich, immer ähnlicher geworden. Auch die mathematische Begabung hatte er von ihm geerbt.
Sie selbst hatte ihm zugeredet, in Freiburg zu studieren, obwohl sie wusste, dass er ihr fehlen würde. Es war besser für ihn. Er sollte das unbeschwerte Leben eines Studenten führen können. Aber wenn sie sich sahen, war alles wie vorher. Sie waren die besten Freunde der Welt, Komplizen. Falk war stolz auf seine erfolgreiche, jung gebliebene Mutter, und sie auf ihren begabten, gutaussehenden Sohn. Falk war immer bei den anderen beliebt gewesen, auch in Freiburg hatte er gute Freunde gefunden. Gab es eine Liebe in seinem Leben? Sophie wusste es nicht und wollte auch nicht fragen.
Sie selbst hatte ihm von Bruno erzählt. Kennengelernt hatten sich die beiden Männer allerdings noch nicht. Vielleicht war alles zu schnell gegangen, denn als sie Falk anrief um ihm zu sagen, dass Bruno und sie heiraten wollten, hatte er sehr abweisend reagiert: "Du willst wieder heiraten? Aber warum denn, um Himmels Willen? Ausserdem habe ich diesen Mann überhaupt noch nie gesehen!"
Sie war etwas erschrocken, reagierte aber ruhig: "Eben deshalb hat Bruno für uns alle ein Ferienhaus in Saint-Paul-de-Vence gemietet. Seine Tochter Daniela kommt auch."
"Auch das noch ..."
Nein, es hatte alles andere als begeistert geklungen. Immerhin hatte er zugesagt. Er würde kommen.
Bruno betrat das Zimmer mit ihren beiden Koffern, stellte sie ab und setzte sich neben sie: "Du siehst so nachdenklich aus", meinte er.
Sie schüttelte ihre Beklommenheit ab und lächelte ihm zu: "Ich liebe dich."
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zart auf den Mund: "Ich liebe dich auch. Und ich lade dich heute Abend ganz gross in die 'Colombe d'Or' ein. Alle Tage wird das nicht möglich sein, aber den ersten Ferientag, den wollen wir doch feiern."
Nach dem ausgezeichneten Essen im berühmten Restaurant spazierten sie Hand in Hand durch die engen Gassen des malerischen Ortes. Sie bewunderten die ockerfarbigen Häuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren Wappen über den Türen, ihren Arkaden und Balkonen, standen lange auf dem kleinen Platz vor dem Brunnen und lauschten dem leisen Plätschern des Wassers. Sophie lehnte ihren Kopf an Brunos Schulter und wünschte, dieser Augenblick möge ewig dauern ...
_ _ _
Falk kam am frühen Nachmittag. Sophie wollte gerade Kaffee kochen und sah vom Küchenfenster aus, wie er aus seinem alten, mit Liebe und Sachkenntnis instand gehaltenen kleinen Vehikel kletterte, seinen Seesack aus dem Kofferraum holte, ihn über die Schulter warf und mit langen Schritten auf das Haus zuging.
Sophie öffnete ihm die Tür: "Willkommen mein Junge. Hast du eine gute Fahrt gehabt?"
"Hm, geht so. Tag Mutz." Gewöhnlich war Falks Blick offen und wohlwollend. Jetzt stiessen seine dichten Augenbrauen fast über der Nasenwurzel zusammen. Seine Augen, die grauen Augen seines Vaters, gingen über sie hinweg, als suchten sie schon den Gegner. Die Umarmung seiner Mutter erwiderte er nur halbherzig, was ihr sehr weh tat.
Aber sie zwang sich zu einem fröhlichen Ton: "Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Bruno ist auf der Terrasse hinter dem Haus. Wir wollten gerade eine Tasse Kaffee nach dem Essen trinken. Hast du überhaupt schon gegessen?"
"Habe ich. Unterwegs. Vielen Dank", war seine knappe Antwort.
"Aber eine Tasse Kaffee trinkst du doch mit uns?"
"Ja, wenn du möchtest."
Sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Er sah sich kurz um und stellte seinen Seesack ab.
Ein wenig später trat sie mit ihm auf die Terrasse hinaus. Bruno war schon aufgestanden, kam mit ausgestreckter Hand auf Falk zu: "Willkommen, Falk. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen."
Falk musterte ihn, ergriff die Hand aber erst nach ein paar Sekunden. Über seine Lippen kam kein Wort, und Sophie schämte sich zum ersten Mal für ihren Sohn. Das war ja noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Was war denn bloss mit ihm los?
Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Es war Eifersucht. Falk war eifersüchtig. Bis jetzt hatte er sie, seine Mutter, für sich allein gehabt, jetzt würde er sie mit diesem Mann teilen müssen.
In ihrem Bemühen, die Atmosphäre zu entspannen, schlug sie einen munteren Ton an: "Na, dann will ich mal den Kaffee kochen. Setzt euch doch, ich bin gleich wieder da."
Als sie mit dem Tablett zurück kam, sprangen beide Männer auf, um es ihr abzunehmen. Falk machte das 'Rennen', und der Blick, mit dem er Bruno bedachte, liess keinen Zweifel daran, dass die höfliche Geste diesmal nicht so sehr seiner Mutter galt als vielmehr gegen ihn, Bruno, gerichtet war.
Sophie lächelte Bruno entschuldigend zu, drückte kurz seine Hand. Eine stumme Bitte, Geduld zu haben. Und Bruno verstand, lächelte beruhigend zurück.
Sophie seufzte innerlich. Hoffentlich war Bruno nicht allzu leicht zu kränken. Sie schenkte den Kaffee ein, schob Bruno Zuckerdose und Sahnekännchen zu.
Dieser bediente sich genüsslich, gab beides, da Sophie ihren Kaffee schwarz trank, an Falk weiter.
"Danke, nein, ich möchte keinen Bauch bekommen", lehnte dieser schroff ab.
Jetzt erstarrte Sophie förmlich. Da war Falk entschieden zu weit gegangen. Sicher, Bruno war nicht ganz schlank, und sein kleiner Bauchansatz war nicht zu übersehen. Er bestand nun einmal nicht mehr nur aus Knochen und Muskeln wie Falk.
Sie war so wütend, dass sie Falk am liebsten wie ein ungezogenes Kind vom Tisch geschickt hätte. Was sollte sie nur tun, um die Situation zu entschärfen?
Aber schon erwiderte Bruno ganz ruhig: "Du hast recht. Es wäre tatsächlich schlimm, wenn du in deinem Alter schon Speck ansetzen würdest." Gleichmütig rührte er weiter in seiner Tasse und nahm einen Schluck vom süssen Getränk.
Jetzt sah Falk ihm gerade in die Augen: "Man kann in jedem Alter auf seine Figur achten. Mutti tut das ja auch!"
Auch jetzt blieb Bruno noch ruhig: "Früher habe ich viel Sport getrieben, aber mir fehlt schon seit langem die Zeit dazu."
"Ja, das sieht man!"
Das war pure Provokation. Sophie machte den Mund auf. Sie wollte Falk bitten, ihr ins Haus zu folgen, um ihm gehörig den Kopf zu waschen, um ihm zu sagen, dass sie ihn überhaupt nicht wiedererkennen würde, aber vor Aufregung kam kein Ton über ihre Lippen. Und es war auch schon zu spät. Bruno war rot angelaufen, und jetzt explodierte er förmlich: "Ich war früher einmal ein ausgezeichneter Langstreckenläufer. Unter anderem. Und mit einem rotznäsigen Dreikäsehoch wie dir kann ich es auch heute noch aufnehmen!"
Falks Augen blitzten. Er hatte es geschafft, hatte Bruno endlich aus seiner Reserve gelockt: "Soll das eine Herausforderung sein? Ich nehme sie an. Wir können ja einen Wettlauf veranstalten!"
Endlich fand Sophie ihre Stimme wieder: "Falk", schrie sie auf. "Was soll das? Ich verlange, dass du dich sofort bei Bruno entschuldigst. Wenn dir hier etwas nicht passt, kannst du gleich wieder wegfahren!"
"Wegfahren?" knirschte Bruno da schon. "Das kommt überhaupt nicht in Frage. Los, wir ziehen uns um und bringen es hinter uns!"
"Falk, ich verbiete dir ..."
Aber die beiden Männer waren schon aufgesprungen und stürmten an ihr vorbei ins Haus.
Wenig später klappte die Haustür, und Sophie sah, wie sie in Bermudas und T-Shirts Ellenbogen an Ellenbogen den Gartenweg entlang auf die Strasse liefen und sich entfernten.
_ _ _
Untätig hier auf ihre Rückkehr zu warten, das ging über ihre Kräfte. Sie liess das Kaffeegeschirr stehen, holte ihre Umhängetasche und ging den kurzen Weg bis nach Saint-Paul-de-Vence. In der Rue Grande setzte sie sich in ein Café. Was war, wenn Bruno und Falk weiterhin so schlecht miteinander auskamen, grübelte sie, und das Herz tat ihr bei dem Gedanken weh.
Ein Mädchen mit einer Reisetasche betrat das Café. Es hatte ein apartes, schmales Gesicht, das die Frisur - nach hinten gebundenes Haar und dichte Ponyfransen - sehr jung erscheinen liessen. Es trug eine leichte Hose mit einem modischen Top, sah nett aus, aber vor allem müde und unglücklich.
Die Reisetasche plumste zu Boden. Das Mädchen setzte sich an den Nebentisch und liess sich ein Getränk bringen. Es schenkte sich ein, trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch zurück, und plötzlich liess es seinen Kopf auf die verschränkten Arme fallen und brach in Tränen aus.
Liebeskummer? Von zu Hause fortgelaufen? Sophie, die das Mädchen beobachtet hatte, war ganz erschrocken. Sie vergass sofort ihre eigenen Sorgen, beugte sich zum Nachbartisch hinüber und fragte behutsam auf Französisch: "Ich möchte nicht indiskret sein, aber - kann ich etwas für Sie tun?"
Das Mädchen sah nicht auf, schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
"Manchmal tut es gut, mit jemandem zu sprechen", versuchte Sophie es geduldig weiter.
Es dauerte eine Weile, dann richtete das Mädchen sich auf, strich die von Tränen nassen Haare aus dem Gesicht und antwortete ebenfalls auf Französisch: "Es ist dumm, einfach so loszuheulen, aber es ist so viel passiert in letzter Zeit ..."
"Was denn?" hakte Sophie freundlich nach.
"Zum Beispiel: Ich schaffe es nicht mit dem Studium."
"Und was studieren Sie?" Nur das Gespräch nicht abreissen lassen, dachte Sophie.
"Medizin. Meinem Vater zuliebe. Aber ich vertrage den Anblick von Blut nicht. Ich habe das meinem Vater nie sagen mögen, ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen. Aber es ist eher schlimmer geworden. Ich würde so gern anderen Menschen helfen, wie mein Vater, aber das kann ich doch nicht, wenn ich dauernd schlapp mache, oder?" Es zog eine traurige Grimasse.
Sophie musste lächeln. "Das ist allerdings eine schwierige Situation. Vielleicht sollten Sie etwas anderes studieren."
"Ich würde gern Sprachen studieren. Französisch und Italienisch."
Sophie horchte auf: "Dann sind Sie gar keine Französin?"
"Nein, ich bin Deutsche."
"Sie sprechen jedenfalls fabelhaft Französisch."
"Danke!" Endlich lächelte das Mädchen.
Sophie sah es nachdenklich an. Auch Daniela studierte Medizin ... Unsinn, sagte sie sich gleich darauf. Daniela sollte doch erst morgen am Flughafen von Nizza ankommen.
"Sie sollten auf alle Fälle mit Ihren Eltern darüber sprechen", riet sie. Sie sprach weiter Französisch. Es fiel ihr kaum auf, sie war in beiden Sprachen zu Hause.
"Ach, meine Eltern sind geschieden. Sie haben wenig Zeit für mich. Mutti hat wieder geheiratet und ist total mit ihrem neuen Mann beschäftigt. Mein Stiefvater ist nett. Ich mag ihn, aber ich habe immer das Gefühl, dass ich störe. Und Vati hat nie viel Zeit gehabt. Seine Kranken lassen ihn kaum zur Ruhe kommen. Ich nehme ihm das nicht übel, es ist nun mal so. Aber jetzt will er wieder heiraten. Ich soll hierherkommen, um seine zukünftige Frau kennenzulernen." Das Lächeln war erloschen, das hübsche Gesicht hatte sich verhärtet.
"Seit er sie kennt", fuhr es bitter fort, "habe ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Es ist, als hätte ich überhaupt keine Eltern mehr!"
Sophie war jetzt fast sicher, dass das Mädchen Daniela war. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, dass sie ihm tatsächlich, ohne es zu wollen, viel von der kostbaren Zeit ihres Vaters genommen hatte.
Am liebsten hätte sie das Mädchen in die Arme genommen, hätte ihm gesagt, dass sie gern eine Freundin für es sein wollte, aber sie traute sich nicht.
"Mein Vater erwartet mich erst morgen. Ich sollte das Flugzeug bis Nizza nehmen. Aber es ergab sich dann, dass mich Freunde im Wagen mitnehmen konnten", fuhr das Mädchen fort. "Ich habe mir gedacht, dass ich Vati die Fahrt nach Nizza ersparen könnte. Und es kam so ja auch viel preiswerter, aber jetzt sage ich mir, dass er es vielleicht gar nicht gut findet, dass ich jetzt schon da bin, denn heute soll auch der Sohn dieser Frau kommen. Das wird dann mein angeheirateter Bruder, oder wie soll man das nennen? Ich will aber gar keinen Bruder, und schon gar nicht so einen. Er studiert Mathe in Freiburg und soll ein richtiger Wunderknabe sein. Tolle Noten, toller Sportsmann und unglaublich gut erzogen. Vati hat mir am Telefon geradezu was von ihm vorgeschwärmt!"
Plötzlich musste Sophie lachen. Es klang wie befreit: "Also, da kann ich dich gleich beruhigen", sagte sie auf Deutsch. "Falk ist ganz und gar kein Musterknabe. Er benimmt sich im Gegenteil geradezu unmöglich im Augenblick!"
Daniela starrte sie verwirrt mit weit aufgerissenen Augen an: "Sie ... wer sind Sie?"
Sophie seufzte komisch: "Ich bin die schreckliche zukünftige Frau deines Vaters, und ich würde mich sehr freuen, wenn du 'Sophie' und 'du' sagen könntest."
Daniela wurde über und über rot: "Sie ... du bist überhaupt nicht schrecklich. Aber ich ... ich habe all diese schrecklichen Sachen gesagt ..."
"Es war das, was du auf dem Herzen hattest, und ich verstehe dich sehr gut. Was meinst du, wollen wir zum Haus gehen? Dein Vater und Falk veranstalten gerade einen Wettlauf", fügte sie hinzu.
"Einen Wettlauf?"
"Sie laufen um die Wette, um sich etwas zu beweisen. Dein Vater, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört, und mein Schwachkopf von Sohn, dass er der Stärkere ist", erwiderte Sophie grimmig.
Sie bestand darauf, für Daniela mitzubezahlen, und dann gingen sie einträchtig den Weg bis zum Haus. Daniela trug ihre Reisetasche, die zum Glück nicht schwer war.
Als Sophie das Gartentor aufstiess, legte sie einen Finger auf die Lippen: "Horch einmal!" Tatsächlich, von der Terrasse hinter dem Haus kam Gelächter. Leise schlichen sie sich heran. An der Ecke machte Sophie Daniela ein Zeichen, dass sie stehen bleiben sollte. Sie selbst näherte sich den beiden Männern, die, noch in ihren verschwitzten Sachen, vor einem Bier sassen, und fragte laut: "Nun, wer hat gewonnen?"
Bruno und Falk wandten sich gleichzeitig um. Auf Falks Stirn prangte ein grosses Pflaster, aber er lachte über das ganze Gesicht.
"Wie ist denn das passiert?" fragte Sophie erschrocken.
"Meine Schuld, Mum. Ich habe mich umgedreht, um zu sehen, ob Bruno überhaupt noch in Sichtweite war, und dabei bin ich gegen einen überhängenden Ast gerannt."
"Worauf ich erste Hilfe geleistet habe", grinste Bruno. "Es ist nichts, nur abgeschürft."
"Toll, einen Arzt in der Familie zu haben", flachste Falk und wurde dann ernst: "Ich habe mich einfach blöd benommen. Ich habe mich schon bei Bruno entschuldigt und tue es jetzt auch bei dir."
"Na gut, Schwamm drüber", seufzte Sophie erleichtert und blickte ihre beiden Männer liebevoll an. "Und jetzt kommt die Überraschung. Seht mal, wer da ist!"
Es gab ein grosses Hallo, als Daniela auftauchte. Ihr Vater drückte sie fest an sich, und Sophie stellte ihr Falk vor.
Bruno trat dicht an Sophie heran und strich nachdenklich über seinen kleinen Bauchansatz: "Der Bengel hat recht, ich müsste etwas dagegen tun!"
"Der Bengel hat etwas anderes zu tun, als seine Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angehen", flüsterte sie und zeigte verstohlen mit dem Kinn auf die beiden jungen Menschen, die immer noch voreinander standen und ihre Blicke nicht voneinander lösen konnten. "Man hört es ja förmlich knistern!"
Endlich kam Leben in Falk. Er schenkte Daniela sein schönstes Lächeln, griff nach ihrer Reisetasche und fragte: "Soll ich dir dein Zimmer zeigen?"
Sophie und Bruno sahen ihnen lächelnd nach.
Sie schmiegte sich an ihn und meinte: "Du, ich glaube, es werden wunderschöne Ferien."
"Daran habe ich nie gezweifelt", schmunzelte er und gab ihr einen Kuss.
ENDE
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Bruno parkte seinen Wagen vor dem Gartentor. Das Haus hatte hellgelb gestrichene Fensterläden und war von einem kleinen, romantisch verwilderten Garten umgeben. Er sah Sophie, die neben ihm sass, lächelnd an und verkündete: "Wir sind da, Liebes. Was meinst du, ist es nicht genau der richtige Ort für unsere gemeinsamen Ferien?"
Sie löste den Sicherheitsgurt, beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss: "Wunderschön. Es muss den Kindern einfach gefallen!"
Die Kinder, das waren Falk und Daniela. Der 22-jährige Falk, Sophies Sohn, studierte Mathematik in Freiburg. Brunos 20-jährige Tochter Daniela hatte ihm Herbst ihr Medizinstudium begonnen. Falk würde morgen ankommen, er hatte einen eigenen Wagen, und Bruno sollte seine Daniela übermorgen am Flughafen von Nizza abholen.
"Ach je, ich hoffe nur, dass alles gut geht", gab Sophie jetzt ihren bangen Gefühlen nach.
"Warum sollte es nicht? Nach allem, was du mir von Falk erzählt hast, mag ich ihn schon jetzt!" Bruno war zuversichtlich von Natur aus.
"Mir geht es genau so mit deiner Daniela, aber was werden die beiden von uns denken? Von einer Frau und einem Mann, die sich gerade vor vier Monaten kennengelernt haben und schon heiraten wollen?"
Bruno lachte und zog sie an sich: "Sie werden denken, dass sie sich sehr lieb haben müssen. Was sollen unsere Kinder denn gegen unsere Heirat haben? Sie sind erwachsen."
Sophie war da nicht so sicher, aber es tat ihr gut, Brunos Arm um sich zu spüren.
"Na, dann wollen wir uns mal das Haus ansehen", meinte Bruno fröhlich.
Sophie öffnete die Fensterläden, um Luft und Sonne hineinzulassen, während Bruno das Gepäck auslud. Das Haus, das Bruno für die Ferien gemietet hatte, lag etwas ausserhalb der Stadtmauern von Saint-Paul-de-Vence, im bergigen Hinterland von Nizza.
Sie wählte den grösseren der drei Schlafräume für Bruno und sich aus. Es war so still, so friedlich, dass sie sich einen Augenblick auf das Bett setzte, um ihren Gedanken nachzuhängen.
Bruno und sie hatten sich während einer internationalen medizinischen Tagung in Hamburg kennengelernt. Er hielt einen Vortrag, den sie simultan ins Französische übersetzte. Später hatte sie ihn in der Halle wiedergesehen, zusammen mit einem französischen Kollegen. Die beiden schienen ernsthafte Verständigungsschwierigkeiten zu haben, und Sophie hatte ihnen spontan ihre Hilfe angeboten. Zum Dank hatte sie ein strahlender Blick voll Charme aus sehr blauen Augen getroffen.
Es hatte damit geendet, dass Dr. Bruno Brakenhoff Sophie Elsberg zum Abendessen einlud. Und in dem gemütlichen kleinen Restaurant war endgültig der Funke übergesprungen. Als er sie dann sehr spät nach Hause brachte, waren sie füreinander schon Sophie und Bruno.
Bruno wusste von Sophie, dass sie viel zu früh ihren geliebten Mann verloren hatte und den damals dreijährigen Sohn allein aufziehen musste. Und Sophie wusste von Bruno, dass seine Ehe vor vier Jahren geschieden worden war. Seine Frau hatte das Leben an der Seite des vielbeschäftigten Arztes nicht mehr ertragen. Daniela war bei der Mutter geblieben, die bereits kurz nach der Scheidung wieder geheiratet hatte.
Aber Sophie dachte auch an Falk. Sie war immer eine berufstätige Mutter gewesen. Wie hätte sie es anders machen können? Falk hatte früh lernen müssen, allein zurechtzukommen und Verantwortung zu übernehmen. Das hatte ihr manchmal bitter leid getan. Falk war ein vernünftiges, sehr zärtliches Kind gewesen. Sie erinnerte sich an die rührenden kleinen Blumensträusse, die er ihr auf Spaziergängen gepflückt hatte. In den letzten Jahren war er seinem Vater, innerlich und äusserlich, immer ähnlicher geworden. Auch die mathematische Begabung hatte er von ihm geerbt.
Sie selbst hatte ihm zugeredet, in Freiburg zu studieren, obwohl sie wusste, dass er ihr fehlen würde. Es war besser für ihn. Er sollte das unbeschwerte Leben eines Studenten führen können. Aber wenn sie sich sahen, war alles wie vorher. Sie waren die besten Freunde der Welt, Komplizen. Falk war stolz auf seine erfolgreiche, jung gebliebene Mutter, und sie auf ihren begabten, gutaussehenden Sohn. Falk war immer bei den anderen beliebt gewesen, auch in Freiburg hatte er gute Freunde gefunden. Gab es eine Liebe in seinem Leben? Sophie wusste es nicht und wollte auch nicht fragen.
Sie selbst hatte ihm von Bruno erzählt. Kennengelernt hatten sich die beiden Männer allerdings noch nicht. Vielleicht war alles zu schnell gegangen, denn als sie Falk anrief um ihm zu sagen, dass Bruno und sie heiraten wollten, hatte er sehr abweisend reagiert: "Du willst wieder heiraten? Aber warum denn, um Himmels Willen? Ausserdem habe ich diesen Mann überhaupt noch nie gesehen!"
Sie war etwas erschrocken, reagierte aber ruhig: "Eben deshalb hat Bruno für uns alle ein Ferienhaus in Saint-Paul-de-Vence gemietet. Seine Tochter Daniela kommt auch."
"Auch das noch ..."
Nein, es hatte alles andere als begeistert geklungen. Immerhin hatte er zugesagt. Er würde kommen.
Bruno betrat das Zimmer mit ihren beiden Koffern, stellte sie ab und setzte sich neben sie: "Du siehst so nachdenklich aus", meinte er.
Sie schüttelte ihre Beklommenheit ab und lächelte ihm zu: "Ich liebe dich."
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zart auf den Mund: "Ich liebe dich auch. Und ich lade dich heute Abend ganz gross in die 'Colombe d'Or' ein. Alle Tage wird das nicht möglich sein, aber den ersten Ferientag, den wollen wir doch feiern."
Nach dem ausgezeichneten Essen im berühmten Restaurant spazierten sie Hand in Hand durch die engen Gassen des malerischen Ortes. Sie bewunderten die ockerfarbigen Häuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren Wappen über den Türen, ihren Arkaden und Balkonen, standen lange auf dem kleinen Platz vor dem Brunnen und lauschten dem leisen Plätschern des Wassers. Sophie lehnte ihren Kopf an Brunos Schulter und wünschte, dieser Augenblick möge ewig dauern ...
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Falk kam am frühen Nachmittag. Sophie wollte gerade Kaffee kochen und sah vom Küchenfenster aus, wie er aus seinem alten, mit Liebe und Sachkenntnis instand gehaltenen kleinen Vehikel kletterte, seinen Seesack aus dem Kofferraum holte, ihn über die Schulter warf und mit langen Schritten auf das Haus zuging.
Sophie öffnete ihm die Tür: "Willkommen mein Junge. Hast du eine gute Fahrt gehabt?"
"Hm, geht so. Tag Mutz." Gewöhnlich war Falks Blick offen und wohlwollend. Jetzt stiessen seine dichten Augenbrauen fast über der Nasenwurzel zusammen. Seine Augen, die grauen Augen seines Vaters, gingen über sie hinweg, als suchten sie schon den Gegner. Die Umarmung seiner Mutter erwiderte er nur halbherzig, was ihr sehr weh tat.
Aber sie zwang sich zu einem fröhlichen Ton: "Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Bruno ist auf der Terrasse hinter dem Haus. Wir wollten gerade eine Tasse Kaffee nach dem Essen trinken. Hast du überhaupt schon gegessen?"
"Habe ich. Unterwegs. Vielen Dank", war seine knappe Antwort.
"Aber eine Tasse Kaffee trinkst du doch mit uns?"
"Ja, wenn du möchtest."
Sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Er sah sich kurz um und stellte seinen Seesack ab.
Ein wenig später trat sie mit ihm auf die Terrasse hinaus. Bruno war schon aufgestanden, kam mit ausgestreckter Hand auf Falk zu: "Willkommen, Falk. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen."
Falk musterte ihn, ergriff die Hand aber erst nach ein paar Sekunden. Über seine Lippen kam kein Wort, und Sophie schämte sich zum ersten Mal für ihren Sohn. Das war ja noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Was war denn bloss mit ihm los?
Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Es war Eifersucht. Falk war eifersüchtig. Bis jetzt hatte er sie, seine Mutter, für sich allein gehabt, jetzt würde er sie mit diesem Mann teilen müssen.
In ihrem Bemühen, die Atmosphäre zu entspannen, schlug sie einen munteren Ton an: "Na, dann will ich mal den Kaffee kochen. Setzt euch doch, ich bin gleich wieder da."
Als sie mit dem Tablett zurück kam, sprangen beide Männer auf, um es ihr abzunehmen. Falk machte das 'Rennen', und der Blick, mit dem er Bruno bedachte, liess keinen Zweifel daran, dass die höfliche Geste diesmal nicht so sehr seiner Mutter galt als vielmehr gegen ihn, Bruno, gerichtet war.
Sophie lächelte Bruno entschuldigend zu, drückte kurz seine Hand. Eine stumme Bitte, Geduld zu haben. Und Bruno verstand, lächelte beruhigend zurück.
Sophie seufzte innerlich. Hoffentlich war Bruno nicht allzu leicht zu kränken. Sie schenkte den Kaffee ein, schob Bruno Zuckerdose und Sahnekännchen zu.
Dieser bediente sich genüsslich, gab beides, da Sophie ihren Kaffee schwarz trank, an Falk weiter.
"Danke, nein, ich möchte keinen Bauch bekommen", lehnte dieser schroff ab.
Jetzt erstarrte Sophie förmlich. Da war Falk entschieden zu weit gegangen. Sicher, Bruno war nicht ganz schlank, und sein kleiner Bauchansatz war nicht zu übersehen. Er bestand nun einmal nicht mehr nur aus Knochen und Muskeln wie Falk.
Sie war so wütend, dass sie Falk am liebsten wie ein ungezogenes Kind vom Tisch geschickt hätte. Was sollte sie nur tun, um die Situation zu entschärfen?
Aber schon erwiderte Bruno ganz ruhig: "Du hast recht. Es wäre tatsächlich schlimm, wenn du in deinem Alter schon Speck ansetzen würdest." Gleichmütig rührte er weiter in seiner Tasse und nahm einen Schluck vom süssen Getränk.
Jetzt sah Falk ihm gerade in die Augen: "Man kann in jedem Alter auf seine Figur achten. Mutti tut das ja auch!"
Auch jetzt blieb Bruno noch ruhig: "Früher habe ich viel Sport getrieben, aber mir fehlt schon seit langem die Zeit dazu."
"Ja, das sieht man!"
Das war pure Provokation. Sophie machte den Mund auf. Sie wollte Falk bitten, ihr ins Haus zu folgen, um ihm gehörig den Kopf zu waschen, um ihm zu sagen, dass sie ihn überhaupt nicht wiedererkennen würde, aber vor Aufregung kam kein Ton über ihre Lippen. Und es war auch schon zu spät. Bruno war rot angelaufen, und jetzt explodierte er förmlich: "Ich war früher einmal ein ausgezeichneter Langstreckenläufer. Unter anderem. Und mit einem rotznäsigen Dreikäsehoch wie dir kann ich es auch heute noch aufnehmen!"
Falks Augen blitzten. Er hatte es geschafft, hatte Bruno endlich aus seiner Reserve gelockt: "Soll das eine Herausforderung sein? Ich nehme sie an. Wir können ja einen Wettlauf veranstalten!"
Endlich fand Sophie ihre Stimme wieder: "Falk", schrie sie auf. "Was soll das? Ich verlange, dass du dich sofort bei Bruno entschuldigst. Wenn dir hier etwas nicht passt, kannst du gleich wieder wegfahren!"
"Wegfahren?" knirschte Bruno da schon. "Das kommt überhaupt nicht in Frage. Los, wir ziehen uns um und bringen es hinter uns!"
"Falk, ich verbiete dir ..."
Aber die beiden Männer waren schon aufgesprungen und stürmten an ihr vorbei ins Haus.
Wenig später klappte die Haustür, und Sophie sah, wie sie in Bermudas und T-Shirts Ellenbogen an Ellenbogen den Gartenweg entlang auf die Strasse liefen und sich entfernten.
_ _ _
Untätig hier auf ihre Rückkehr zu warten, das ging über ihre Kräfte. Sie liess das Kaffeegeschirr stehen, holte ihre Umhängetasche und ging den kurzen Weg bis nach Saint-Paul-de-Vence. In der Rue Grande setzte sie sich in ein Café. Was war, wenn Bruno und Falk weiterhin so schlecht miteinander auskamen, grübelte sie, und das Herz tat ihr bei dem Gedanken weh.
Ein Mädchen mit einer Reisetasche betrat das Café. Es hatte ein apartes, schmales Gesicht, das die Frisur - nach hinten gebundenes Haar und dichte Ponyfransen - sehr jung erscheinen liessen. Es trug eine leichte Hose mit einem modischen Top, sah nett aus, aber vor allem müde und unglücklich.
Die Reisetasche plumste zu Boden. Das Mädchen setzte sich an den Nebentisch und liess sich ein Getränk bringen. Es schenkte sich ein, trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch zurück, und plötzlich liess es seinen Kopf auf die verschränkten Arme fallen und brach in Tränen aus.
Liebeskummer? Von zu Hause fortgelaufen? Sophie, die das Mädchen beobachtet hatte, war ganz erschrocken. Sie vergass sofort ihre eigenen Sorgen, beugte sich zum Nachbartisch hinüber und fragte behutsam auf Französisch: "Ich möchte nicht indiskret sein, aber - kann ich etwas für Sie tun?"
Das Mädchen sah nicht auf, schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
"Manchmal tut es gut, mit jemandem zu sprechen", versuchte Sophie es geduldig weiter.
Es dauerte eine Weile, dann richtete das Mädchen sich auf, strich die von Tränen nassen Haare aus dem Gesicht und antwortete ebenfalls auf Französisch: "Es ist dumm, einfach so loszuheulen, aber es ist so viel passiert in letzter Zeit ..."
"Was denn?" hakte Sophie freundlich nach.
"Zum Beispiel: Ich schaffe es nicht mit dem Studium."
"Und was studieren Sie?" Nur das Gespräch nicht abreissen lassen, dachte Sophie.
"Medizin. Meinem Vater zuliebe. Aber ich vertrage den Anblick von Blut nicht. Ich habe das meinem Vater nie sagen mögen, ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen. Aber es ist eher schlimmer geworden. Ich würde so gern anderen Menschen helfen, wie mein Vater, aber das kann ich doch nicht, wenn ich dauernd schlapp mache, oder?" Es zog eine traurige Grimasse.
Sophie musste lächeln. "Das ist allerdings eine schwierige Situation. Vielleicht sollten Sie etwas anderes studieren."
"Ich würde gern Sprachen studieren. Französisch und Italienisch."
Sophie horchte auf: "Dann sind Sie gar keine Französin?"
"Nein, ich bin Deutsche."
"Sie sprechen jedenfalls fabelhaft Französisch."
"Danke!" Endlich lächelte das Mädchen.
Sophie sah es nachdenklich an. Auch Daniela studierte Medizin ... Unsinn, sagte sie sich gleich darauf. Daniela sollte doch erst morgen am Flughafen von Nizza ankommen.
"Sie sollten auf alle Fälle mit Ihren Eltern darüber sprechen", riet sie. Sie sprach weiter Französisch. Es fiel ihr kaum auf, sie war in beiden Sprachen zu Hause.
"Ach, meine Eltern sind geschieden. Sie haben wenig Zeit für mich. Mutti hat wieder geheiratet und ist total mit ihrem neuen Mann beschäftigt. Mein Stiefvater ist nett. Ich mag ihn, aber ich habe immer das Gefühl, dass ich störe. Und Vati hat nie viel Zeit gehabt. Seine Kranken lassen ihn kaum zur Ruhe kommen. Ich nehme ihm das nicht übel, es ist nun mal so. Aber jetzt will er wieder heiraten. Ich soll hierherkommen, um seine zukünftige Frau kennenzulernen." Das Lächeln war erloschen, das hübsche Gesicht hatte sich verhärtet.
"Seit er sie kennt", fuhr es bitter fort, "habe ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Es ist, als hätte ich überhaupt keine Eltern mehr!"
Sophie war jetzt fast sicher, dass das Mädchen Daniela war. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, dass sie ihm tatsächlich, ohne es zu wollen, viel von der kostbaren Zeit ihres Vaters genommen hatte.
Am liebsten hätte sie das Mädchen in die Arme genommen, hätte ihm gesagt, dass sie gern eine Freundin für es sein wollte, aber sie traute sich nicht.
"Mein Vater erwartet mich erst morgen. Ich sollte das Flugzeug bis Nizza nehmen. Aber es ergab sich dann, dass mich Freunde im Wagen mitnehmen konnten", fuhr das Mädchen fort. "Ich habe mir gedacht, dass ich Vati die Fahrt nach Nizza ersparen könnte. Und es kam so ja auch viel preiswerter, aber jetzt sage ich mir, dass er es vielleicht gar nicht gut findet, dass ich jetzt schon da bin, denn heute soll auch der Sohn dieser Frau kommen. Das wird dann mein angeheirateter Bruder, oder wie soll man das nennen? Ich will aber gar keinen Bruder, und schon gar nicht so einen. Er studiert Mathe in Freiburg und soll ein richtiger Wunderknabe sein. Tolle Noten, toller Sportsmann und unglaublich gut erzogen. Vati hat mir am Telefon geradezu was von ihm vorgeschwärmt!"
Plötzlich musste Sophie lachen. Es klang wie befreit: "Also, da kann ich dich gleich beruhigen", sagte sie auf Deutsch. "Falk ist ganz und gar kein Musterknabe. Er benimmt sich im Gegenteil geradezu unmöglich im Augenblick!"
Daniela starrte sie verwirrt mit weit aufgerissenen Augen an: "Sie ... wer sind Sie?"
Sophie seufzte komisch: "Ich bin die schreckliche zukünftige Frau deines Vaters, und ich würde mich sehr freuen, wenn du 'Sophie' und 'du' sagen könntest."
Daniela wurde über und über rot: "Sie ... du bist überhaupt nicht schrecklich. Aber ich ... ich habe all diese schrecklichen Sachen gesagt ..."
"Es war das, was du auf dem Herzen hattest, und ich verstehe dich sehr gut. Was meinst du, wollen wir zum Haus gehen? Dein Vater und Falk veranstalten gerade einen Wettlauf", fügte sie hinzu.
"Einen Wettlauf?"
"Sie laufen um die Wette, um sich etwas zu beweisen. Dein Vater, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört, und mein Schwachkopf von Sohn, dass er der Stärkere ist", erwiderte Sophie grimmig.
Sie bestand darauf, für Daniela mitzubezahlen, und dann gingen sie einträchtig den Weg bis zum Haus. Daniela trug ihre Reisetasche, die zum Glück nicht schwer war.
Als Sophie das Gartentor aufstiess, legte sie einen Finger auf die Lippen: "Horch einmal!" Tatsächlich, von der Terrasse hinter dem Haus kam Gelächter. Leise schlichen sie sich heran. An der Ecke machte Sophie Daniela ein Zeichen, dass sie stehen bleiben sollte. Sie selbst näherte sich den beiden Männern, die, noch in ihren verschwitzten Sachen, vor einem Bier sassen, und fragte laut: "Nun, wer hat gewonnen?"
Bruno und Falk wandten sich gleichzeitig um. Auf Falks Stirn prangte ein grosses Pflaster, aber er lachte über das ganze Gesicht.
"Wie ist denn das passiert?" fragte Sophie erschrocken.
"Meine Schuld, Mum. Ich habe mich umgedreht, um zu sehen, ob Bruno überhaupt noch in Sichtweite war, und dabei bin ich gegen einen überhängenden Ast gerannt."
"Worauf ich erste Hilfe geleistet habe", grinste Bruno. "Es ist nichts, nur abgeschürft."
"Toll, einen Arzt in der Familie zu haben", flachste Falk und wurde dann ernst: "Ich habe mich einfach blöd benommen. Ich habe mich schon bei Bruno entschuldigt und tue es jetzt auch bei dir."
"Na gut, Schwamm drüber", seufzte Sophie erleichtert und blickte ihre beiden Männer liebevoll an. "Und jetzt kommt die Überraschung. Seht mal, wer da ist!"
Es gab ein grosses Hallo, als Daniela auftauchte. Ihr Vater drückte sie fest an sich, und Sophie stellte ihr Falk vor.
Bruno trat dicht an Sophie heran und strich nachdenklich über seinen kleinen Bauchansatz: "Der Bengel hat recht, ich müsste etwas dagegen tun!"
"Der Bengel hat etwas anderes zu tun, als seine Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angehen", flüsterte sie und zeigte verstohlen mit dem Kinn auf die beiden jungen Menschen, die immer noch voreinander standen und ihre Blicke nicht voneinander lösen konnten. "Man hört es ja förmlich knistern!"
Endlich kam Leben in Falk. Er schenkte Daniela sein schönstes Lächeln, griff nach ihrer Reisetasche und fragte: "Soll ich dir dein Zimmer zeigen?"
Sophie und Bruno sahen ihnen lächelnd nach.
Sie schmiegte sich an ihn und meinte: "Du, ich glaube, es werden wunderschöne Ferien."
"Daran habe ich nie gezweifelt", schmunzelte er und gab ihr einen Kuss.
ENDE
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Donnerstag, 2. Mai 2013
In den Hügeln der Provence
hillebel, 10:55h
Elisabeth macht allein Urlaub in der Provence. Dort lernt sie Marius kennen - und mit ihm die Liebe. Aber das einfache Leben, das er führt, schreckt sie ab. Sie kehrt zurück in ihre Welt, doch vergessen kann sie ihn nicht ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Die schmale Strasse wandt sich durch die grünen Hügel der Provence. Durch das offene Fenster des Wagens nahm Elisabeth den Duft von Thymian, Rosmarin und Lavendel wahr. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto sehnsüchtiger und schmerzvoller klopfte ihr Herz. Fünf Jahre hatte sie gebraucht, um zu wissen, dass ihr Glück sich hier und nirgendwo anders befand. Aber vielleicht war es zu spät? Alles stand so lebendig vor ihrem inneren Auge, als sei es gestern geschehen ...
Damals wollte sie mit ihrem Freund Ferien in der Provence machen, aber Detlef konnte im letzten Augenblick nicht mitkommen.
Elisabeth war allein gefahren, hatte sich in einem kleinen Hotel in Aix en Provence einquartiert und erkundete von dort aus mit ihrem kleinen Wagen die Umgebung. Eines Morgens folgte sie aufs Geradewohl der Landstrasse. Gegen Mittag suchte sie ein Restaurant, fand aber keins. Schliesslich hielt sie an, um auf der Karte nachzuschauen, wo sie sich befand. Sie war allein inmitten des schrillen, monotonen Zirpens der Grillen und dem Duft eines blühenden Lavendelfeldes, das in der heissen Julisonne lag.
Nein, doch nicht allein. Ein Mann schritt das Feld ab, rupfte hier und da ein Unkraut aus. Als er näher kam, sah sie, dass er kaum älter war als sie selbst. Er trug ein offenes, kariertes Hemd über halblangen, leichten Hosen, und ein Strohhut schützte ihn gegen die sengende Sonne. Sie stieg aus und ging ihm entgegen.
"Pardon, könnten Sie mir wohl sagen, ob sich ein Restaurant in der Nähe befindet?" fragte sie ihn in tadellosem Französisch.
"Un restaurant?" Er sprach es "restaurang" aus, im provenzalischen Dialekt. "Tut mir leid, das gibt es hier nicht." Er lachte sie mit blitzenden Zähnen an, seine dunklen Augen strahlten im gebräunten Gesicht. Unter seiner nackten Brust spielten geschmeidig die Muskeln. Elisabeth konnte ihren Blick nicht von ihm lösen. Nie hatte sie einen attraktiveren Mann gesehen.
Und als er sagte: "Ich habe mir den Lavendel angesehen. In einer Woche können wir ihn ernten", hörte es sich an wie eine Liebeserklärung. Verträumt fuhr er fort: "Ihre Augen haben die Farbe des Himmels der Provence, Mademoiselle, und in Ihrem Haar hat sich die Sonne verfangen."
Er sah nicht nur aus wie ein junger Gott, er war ein Poet!
"Ich habe mein Mittagsbrot mitgebracht", fuhr er fort. "Meine Mutter hat es mir eingepackt, weil unsere Lavendelfelder in einiger Entfernung von unserem Haus liegen. Möchten Sie es mit mir teilen?"
"Danke, gern", lächelte sie ihm zu.
Er führte sie zu einer weit ausladenden Schirmpinie, unter der ein, mit einem rot-weiss karierten Tuch bedeckter, Korb stand. Er breitete das Tuch auf dem Boden aus und ordnete darauf ein Bauernbrot, zwei runde Ziegenkäse, zwei sonnenreife Tomaten, eine Flasche Wasser, eine Flasche Rotwein und vier duftende Pfirsiche an.
Dann lud er Elisabeth ein, sich zu setzen. Als er bedächtig, mit einer fast liebevollen Geste, zwei dicke Scheiben Brot abschnitt und ihr eine hinüberreichte, berührten sich kurz ihre Hände. Elisabeth durchfuhr es wie ein Stromstoss.
"Ich heisse Marius", sagte er.
"Und ich Elisabeth."
Nie hatte eine Mahlzeit so köstlich geschmeckt. Zwischen zwei Bissen erzählte sie ihm, dass sie aus Deutschland kam, aus Hamburg, dass sie Biologie studierte und ihre Ferien hier verbrachte.
"Ganz allein?" fragte er erstaunt.
"Ich wollte mit meinem Freund kommen, aber das hat dann nicht geklappt."
"Lieben Sie sich denn?" Er klang verwundert.
Liebte sie Detlef? Zum ersten Mal stellte sie sich diese Frage. Sie waren stolz auf ihre vernünftige, "zivilisierte" Beziehung, auf den Freiraum, den sie sich gegenseitig liessen. Aber war es Liebe?
"Wenn Sie allein verreisen, und wenn er sie fortlässt, dann ist es keine Liebe", entschied Marius.
Er erzählte ihr, dass er zusammen mit seiner Mutter ein kleines Gehöft betrieb: "Wir bauen Lavendel an und haben Ziegen. Meine Mutter macht den besten Ziegenkäse der Gegend. Wir verkaufen ihn auf dem Markt."
Nach dem Essen pflückte er ihr einen Strauss Lavendel. Als sie vor ihrem Auto standen, fragte er: "Kommen Sie wieder, Elisabeth? Morgen? Da bin ich wieder hier."
"Ja", sagte sie ohne zu überlegen. "Ich werde da sein. Um dieselbe Zeit."
_ _ _
Er hatte wieder das Essen mitgebracht. "Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich sehr hungrig bin. Sie hat mir heute mehr mitgegeben", erklärte er verschmitzt.
Als sie den letzten Pfirsich aufgegessen hatten, wischte er ihr wie einem Kind den süssen Saft vom Kinn. Sie mussten beide lachen, und dann lachten sie nicht mehr. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Ihr Herz schmerzte vor Liebe, aber es war ein unglaublich süsser Schmerz. So süss, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte, auch nicht mit Detlef. Marius breitete sein Hemd auf der roten Erde aus und bettete sie unendlich sanft auf das improvisierte Lager. Sie sah, wie hoch oben am strahlend blauen Himmel ein Bussard kreiste. Sein gleitender Flug kam ihr vor wie der Inbegriff der Freiheit, des Glücks. Sie nahm das Bild mit sich, als sie die Augen schloss, weil Marius sie küsste.
An diesem Nachmittag erfuhr sie, was Liebe war. Eine Liebe, die alles beiseite fegte, die keinen Platz liess für Überlegungen, für kokettes Versteckspiel, für höfliches Zaudern. Eine Liebe, die ihrer beider Leben verändern sollte, aber das wussten sie noch nicht ...
Er strich ihr das lange Haar aus dem Gesicht, umschloss es mit beiden Händen und betrachtete es mit schmerzlicher Intensität: "Ich liebe dich, Elisabeth. Ich liebe deine Augen, dein Haar, deinen Mund, aber am meisten liebe ich deine Seele."
"Ich liebe dich auch, Marius", flüsterte sie glücklich.
Nach einer Weile sprang er auf und zog sie hoch: "Ich möchte dir meine Heimat zeigen", sagte er mit leuchtenden Augen. "Kennst du den Berg Sainte-Victoire?"
Elisabeth hatte ihn schon von ihrem Hotelzimmer aus bewundert. Sie war auch an ihm vorbeigefahren, aber mit Marius zusammen wurde er in den nächsten Tagen zu einem Zauberberg, der von jeder Seite ein anderes Gesicht bot: Hellgrauer, schroffer Felsen von Aix aus betrachtet; grüne Vegetation und rote Erde, wenn sie sich ihm von Süden her näherten.
Auf ihren Streifzügen durch das Massiv, bei denen sich auch immer ein verschwiegenes Liebeslager fand, überraschte Marius die junge Frau mit seiner Bildung. Gleich beim ersten Mal erzählte er ihr, dass hier der römische Feldherr Marius in einer blutigen Schlacht die Teutonen vernichtend schlug.
"Bist du nach ihm benannt?" fragte sie.
"Der Name ist in der Provence nie ausgestorben."
Marius wusste jeden Baum, jedes Gewächs auf Provenzalisch, Französisch und Lateinisch zu benennen, kannte ihre Eigenarten und Lebensbedingungen.
"Woher weisst du das alles?" staunte Elisabeth.
"Mein Vater hat es mir beigebracht", erklärte er ihr stolz. "Er interessierte sich sehr für Botanik, aber natürlich konnte er nicht studieren."
Einen Augenblick glaubte sie, dass Marius studierte, dass er nur in den Semesterferien heimgekommen war. Als erriet er ihre Gedanken, schüttelte er den Kopf. "Nein, ich konnte auch nicht studieren. Ich habe in Aix mein Abitur gemacht, weil ich dort bei meiner Tante wohnen konnte, aber dann starb mein Vater, und meine Mutter brauchte mich." Er fügte hinzu: "Die Erde, die wir seit Generationen hier besitzen, ist sehr wichtig für uns. Sie macht uns zu freien Menschen."
"Auch Wissen macht frei", rutschte es ihr heraus.
"Man ist nicht frei, wenn man für einen Chef, einen Patron arbeitet", kam es scharf zurück.
"Ich möchte später in der Forschung arbeiten. Helfen, Pflanzenarten zu entwickeln, die unter extremen Bedingungen gedeihen. Damit die Menschen keinen Hunger mehr zu leiden brauchen."
"Das ist bestimmt nützlich, aber für mich wäre das nichts." Er reckte sich.
"Marius, wenn man so intelligent ist wie du, muss man studieren. Es ist eine Pflicht sich selbst und den anderen gegenüber."
Er lachte ihr ins Gesicht: "Als wenn die Wissenschaftler nicht auch zu grossem Blödsinn fähig wären. Ausserdem brauche ich nicht zu studieren, um glücklich zu sein." Plötzlich sah er auf die Uhr, meinte erschrocken: "Wir müssen zurückfahren, ich muss die Ziegen melken. Komm, ich zeige dir mein Haus und stelle dich meiner Mutter vor."
Das letzte Stück des Weges war so steil und steinig, dass sie den Wagen stehen lassen und zu Fuss gehen mussten. Dann standen sie vor einem einfachen, von Pinien beschatten Steinhaus. Eine schlanke Frau in blauer Kittelschürze kam mit einem Eimer voll Milch aus dem Stall. Elisabeth dachte, dass sie sehr schön gewesen sein musste, es immer noch war, aber die harte Arbeit und die Sonne hatten ihr Gesicht gezeichnet.
"Maman, hast du die Ziegen etwa schon gemolken?"
"Was bleibt mir anderes übrig? Mein Sohn treibt sich nur noch herum. Ist das das Mädchen, von dem du mir erzählt hast? Die Studentin aus Deutschland?"
"Ja, das ist Elisabeth. Sie spricht sehr gut Französisch. Elisabeth, das ist meine Mutter."
"Bonjour, Madame", sagte Elisabeth höflich.
Marius' Mutter sah sie verärgert an und ging grusslos an ihr vorbei. Dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu: "Und was ist mit Mireille? Sie ist schon zweimal vorbeigekommen, und du warst nicht da."
"Mireille ist eine gute Freundin,. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, aber ich liebe sie nicht."
"Sie liebt dich aber. Sie ist mit der Arbeit hier vertraut und würde eine gute Frau für dich sein."
"Schlag dir das aus dem Kopf, Maman. Ich werde sie nie heiraten!"
Jetzt wurde seine Mutter zornig: "Morgen ernten wir den Lavendel, die Nachbarn kommen, um zu helfen, und du hast die Handsicheln noch nicht geschärft!"
"Das mache ich nachher, ich bringe nur noch Elisabeth zu ihrem Wagen zurück."
Marius' Mutter drehte sich um und ging ins Haus, ohne Elisabeth noch eines Blickes zu würdigen.
Marius legte den Arm um die Schultern der jungen Frau: "Sie ist nicht immer so", entschuldigte er seine Mutter, während sie langsam den Weg zurückgingen. "Sie ist nur böse, weil ich ihr in den letzten Tagen nicht viel geholfen habe, und auch wegen Mireille, die sie sich als Schwiegertochter wünscht."
Sie standen jetzt vor Elisabeths Wagen, und Marius sah sie voll Liebe und Bewunderung an: "Du bist es, die ich liebe, Elisabeth. Fahr nicht nach Deutschland zurück! Wir werden heiraten und hier wohnen. Wenn meine Mutter merkt, dass es uns beiden ernst ist, wird sie dich mit offenen Armen aufnehmen und lieben wie eine Tochter. Ich kenne sie."
Die ganze Zeit hatte Elisabeth jeden Gedanken an eine Zukunft verdrängt, jetzt konnte sie es nicht mehr.
Sie hatte das Steinhaus gesehen, den feindseligen Blick seiner Mutter. Selbst ihre leidenschaftliche Liebe konnte sie nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass Marius und sie nicht das gleiche Lebensziel hatten. Sie gehörten zwei verschiedenen Welten an. Mit einer fast unmenschlichen Anstrengung sagte sie: "Marius, ich liebe dich auch, aber ... wir können nicht zusammen glücklich werden. Nicht, wenn wir mit deiner Mutter zusammenleben. Ich möchte mein Studium beenden, möchte arbeiten und der Gemeinschaft nützlich sein. Deine Mutter wird mich nicht lieben. Sie kann nur ein Mädchen als Schwiegertochter akzeptieren, das sich einfügen kann in euer Leben. Ich könnte es nicht. Und wenn ich es versuchte, würde ich unglücklich und frustriert sein. Und dich auf diese Weise ebenfalls unglücklich machen ..."
Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass es knirschte. Dann sagte er mit einer Stimme, die rauh war vor Enttäuschung und verletztem Stolz: "Wenn du so denkst, dann liebst du mich nicht. Dann ist es wohl tatsächlich besser, wir sehen uns nicht wieder. Viel Glück, Elisabeth!"
Er ging fort, ohne sich noch einmal umzuwenden, wie vorhin seine Mutter ...
_ _ _
Elisabeth erzählte Detlef ehrlich von Marius. Er verzieh ihr so leicht, dass sie sich wieder fragte, ob sie sich wirklich liebten. Aber als er anfing, sich über ihren "Bauernsohn" lustig zu machen, wies sie ihn scharf zurecht. Niemand, auch Detlef nicht, sollte über Marius lachen. Detlef zog sich beleidigt zurück, "tröstete" sich schon eine Woche später mit einer anderen. Jetzt wusste sie, dass sie sich nie wirklich geliebt hatten.
Andere Männer bemühten sich in den folgenden Jahren um sie. Sie waren klug und studiert, aber mit keinem empfand sie, was sie in Marius' Armen empfunden hatte. Verzweifelt verwandte sie schliesslich ihre ganze Kraft und Zeit nur noch auf ihr Studium. Anschliessend arbeitete sie engagiert in der Forschung. Ihr Kopf funktionierte hervorragend, aber ihr Herz war tot ...
_ _ _
Und nun war sie wieder in Aix, wo morgen ein wissenschaftlicher Kongress begann. Übermorgen sollte sie einen Vortrag halten über eine neuentwickelte Getreidesorte, die resistent war gegen die üblichen Krankheiten.
Sie war etwas eher angereist, und nun befand sie sich auf dem Weg zum Steinhaus.
Wenn Marius sie noch wollte, dann war sie bereit, dort mit ihm zu leben. Es gab keinen anderen Weg für sie, denn mit diesem toten Herzen konnte sie nicht weiterleben. Vielleicht gab es ja auch eine Möglichkeit für sie, hier zu arbeiten. Marius könnte sich weiter um seine Lavendelfelder und seine Ziegen kümmern. Vielleicht konnte sie ihm ab und zu sogar helfen bei der Arbeit mit den Tieren und auf den Feldern. Und auch mit seiner Mutter würde sie, wenn sie sich ehrlich bemühte, sicher auskommen. Aber vielleicht hatte er inzwischen geheiratet. Bei dem Gedanken spürte sie einen Schmerz, wie sie ihn nie für möglich gehalten hätte.
Sie parkte den Wagen unten am Weg, ging den Rest, wie damals mit Marius, zu Fuss. Und dann lag das Steinhaus vor ihr. Immer noch wurde es von den hohen Pinien beschattet, aber die Tür und die Fensterläden waren geschlossen, Unkraut wucherte überall. Was war geschehen? Wo waren Marius und seine Mutter?
Verzweifelt klopfte sie an die Tür, rüttelte an den Fensterläden: Nichts. Nur das durchdringende Zirpen der Grillen und das Rauschen des Mistrals waren zu hören ...
Am nächsten Morgen sass sie blass im Konferenzsaal. Mit Marius hatte sie auch sich selbst verloren. Alles kam ihr nur noch sinnlos vor.
Ein Mann trat ans Podium. Bevor er anfing zu sprechen, schweiften seine Augen über den Saal, ruhten kurz auf jeder anwesenden Person.
Sein Blick, seine ganze Haltung kamen Elisabeth unendlich vertraut vor. Plötzlich stockte ihr Atem, alles Blut strömte zu ihrem Herzen. Es war Marius!
Sie wollte aufspringen, seinen Namen rufen, aber sie konnte sich nicht rühren, kein Laut kam über ihre Lippen. Es war auch nicht nötig, er hatte sie ebenfalls erkannt. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, und endlich begann er zu sprechen. Er sah nicht ein einziges Mal auf die Blätter, die vor ihm lagen. Er sah Elisabeth an. Und er sprach mit einem inneren Feuer, einer Begeisterung, die den ganzen Saal mitriss. Es ging um die Aufforstung nach Waldbränden, um den Versuch, die ursprüngliche Vielfalt des provenzalischen Waldes wieder herzustellen, die dem Feuer mehr Widerstand bot als die leicht entzündbaren Pinien.
Später, während Applaus den Konferenzsaal erfüllte, kam er den Gang entlang zu ihr. Auch sie war aufgestanden. Ohne auf die Umstehenden zu achten, nahm er sie in die Arme. Dann reichte er ihr die Hand, und zusammen verliessen sie den Saal.
Auf einer Caféterrasse erzählte er ihr, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte: "Maman und ich haben nach vielen Diskussionen das einfache Leben aufgegeben und sind nach Aix gezogen. Die Felder sind verpachtet, die Ziegen hat ein anderer Nachbar übernommen. Hier habe ich studiert. Du weisst ja, mein Vater hatte es sich so sehr gewünscht. Er hätte es selbst so gern getan. Maman lebt bei ihrer Schwester, ist glücklich wie eine Schwalbe und sagt, dass sie den Komfort ihres neuen Lebens nie wieder missen möchte. Ich arbeite jetzt in einem wissenschaftlichen Institut in Aix und bin in letzter Minute für einen kranken Kollegen eingesprungen. Deswegen ist mein Name nicht auf der Kongressliste aufgeführt. Aber als ich deinen Namen entdeckte, kam es mir vor wie ein Wunder. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Und jetzt sitzen wir hier zusammen ..."
"Marius, ich möchte bei dir bleiben. Ich liebe dich. Das wurde mir erst klar, als ich dich verloren hatte. Meine Heimat ist dort, wo du bist."
Er ergriff ihre Hände. "Ich war so dumm damals. Wenn du mich heiratest, könnte ich auch in Deutschland leben."
"Nein, Marius. Es gefällt mir hier. Auch das Steinhaus gefällt mir. Gehört es immer noch euch?"
"Ja, davon werden wir uns nie trennen."
"Dann können wir später mit unseren Kindern die Ferien dort verbringen. Kinder brauchen Wurzeln."
Er lächelte glücklich. "Und wir werden ihnen die Namen aller Pflanzen beibringen, die im Sainte-Victoire Massiv wachsen."
Sie dachte daran, dass sie ihren Vortrag erst morgen halten würde und fragte: "Können wir den Rest des Tages schwänzen?"
"Wir können", entschied er.
Dann standen sie auf der Terrasse seiner kleinen Wohnung in Aix, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Mont Sainte-Victoire hatte. Der Himmel war so blau wie einst, und Elisabeth glaubte sogar, den Bussard zu entdecken, ehe sie die Augen schloss, weil Marius sie so leidenschaftlich küsste, als hätte es nie eine Trennung gegeben ...
ENDE
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Die schmale Strasse wandt sich durch die grünen Hügel der Provence. Durch das offene Fenster des Wagens nahm Elisabeth den Duft von Thymian, Rosmarin und Lavendel wahr. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto sehnsüchtiger und schmerzvoller klopfte ihr Herz. Fünf Jahre hatte sie gebraucht, um zu wissen, dass ihr Glück sich hier und nirgendwo anders befand. Aber vielleicht war es zu spät? Alles stand so lebendig vor ihrem inneren Auge, als sei es gestern geschehen ...
Damals wollte sie mit ihrem Freund Ferien in der Provence machen, aber Detlef konnte im letzten Augenblick nicht mitkommen.
Elisabeth war allein gefahren, hatte sich in einem kleinen Hotel in Aix en Provence einquartiert und erkundete von dort aus mit ihrem kleinen Wagen die Umgebung. Eines Morgens folgte sie aufs Geradewohl der Landstrasse. Gegen Mittag suchte sie ein Restaurant, fand aber keins. Schliesslich hielt sie an, um auf der Karte nachzuschauen, wo sie sich befand. Sie war allein inmitten des schrillen, monotonen Zirpens der Grillen und dem Duft eines blühenden Lavendelfeldes, das in der heissen Julisonne lag.
Nein, doch nicht allein. Ein Mann schritt das Feld ab, rupfte hier und da ein Unkraut aus. Als er näher kam, sah sie, dass er kaum älter war als sie selbst. Er trug ein offenes, kariertes Hemd über halblangen, leichten Hosen, und ein Strohhut schützte ihn gegen die sengende Sonne. Sie stieg aus und ging ihm entgegen.
"Pardon, könnten Sie mir wohl sagen, ob sich ein Restaurant in der Nähe befindet?" fragte sie ihn in tadellosem Französisch.
"Un restaurant?" Er sprach es "restaurang" aus, im provenzalischen Dialekt. "Tut mir leid, das gibt es hier nicht." Er lachte sie mit blitzenden Zähnen an, seine dunklen Augen strahlten im gebräunten Gesicht. Unter seiner nackten Brust spielten geschmeidig die Muskeln. Elisabeth konnte ihren Blick nicht von ihm lösen. Nie hatte sie einen attraktiveren Mann gesehen.
Und als er sagte: "Ich habe mir den Lavendel angesehen. In einer Woche können wir ihn ernten", hörte es sich an wie eine Liebeserklärung. Verträumt fuhr er fort: "Ihre Augen haben die Farbe des Himmels der Provence, Mademoiselle, und in Ihrem Haar hat sich die Sonne verfangen."
Er sah nicht nur aus wie ein junger Gott, er war ein Poet!
"Ich habe mein Mittagsbrot mitgebracht", fuhr er fort. "Meine Mutter hat es mir eingepackt, weil unsere Lavendelfelder in einiger Entfernung von unserem Haus liegen. Möchten Sie es mit mir teilen?"
"Danke, gern", lächelte sie ihm zu.
Er führte sie zu einer weit ausladenden Schirmpinie, unter der ein, mit einem rot-weiss karierten Tuch bedeckter, Korb stand. Er breitete das Tuch auf dem Boden aus und ordnete darauf ein Bauernbrot, zwei runde Ziegenkäse, zwei sonnenreife Tomaten, eine Flasche Wasser, eine Flasche Rotwein und vier duftende Pfirsiche an.
Dann lud er Elisabeth ein, sich zu setzen. Als er bedächtig, mit einer fast liebevollen Geste, zwei dicke Scheiben Brot abschnitt und ihr eine hinüberreichte, berührten sich kurz ihre Hände. Elisabeth durchfuhr es wie ein Stromstoss.
"Ich heisse Marius", sagte er.
"Und ich Elisabeth."
Nie hatte eine Mahlzeit so köstlich geschmeckt. Zwischen zwei Bissen erzählte sie ihm, dass sie aus Deutschland kam, aus Hamburg, dass sie Biologie studierte und ihre Ferien hier verbrachte.
"Ganz allein?" fragte er erstaunt.
"Ich wollte mit meinem Freund kommen, aber das hat dann nicht geklappt."
"Lieben Sie sich denn?" Er klang verwundert.
Liebte sie Detlef? Zum ersten Mal stellte sie sich diese Frage. Sie waren stolz auf ihre vernünftige, "zivilisierte" Beziehung, auf den Freiraum, den sie sich gegenseitig liessen. Aber war es Liebe?
"Wenn Sie allein verreisen, und wenn er sie fortlässt, dann ist es keine Liebe", entschied Marius.
Er erzählte ihr, dass er zusammen mit seiner Mutter ein kleines Gehöft betrieb: "Wir bauen Lavendel an und haben Ziegen. Meine Mutter macht den besten Ziegenkäse der Gegend. Wir verkaufen ihn auf dem Markt."
Nach dem Essen pflückte er ihr einen Strauss Lavendel. Als sie vor ihrem Auto standen, fragte er: "Kommen Sie wieder, Elisabeth? Morgen? Da bin ich wieder hier."
"Ja", sagte sie ohne zu überlegen. "Ich werde da sein. Um dieselbe Zeit."
_ _ _
Er hatte wieder das Essen mitgebracht. "Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich sehr hungrig bin. Sie hat mir heute mehr mitgegeben", erklärte er verschmitzt.
Als sie den letzten Pfirsich aufgegessen hatten, wischte er ihr wie einem Kind den süssen Saft vom Kinn. Sie mussten beide lachen, und dann lachten sie nicht mehr. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Ihr Herz schmerzte vor Liebe, aber es war ein unglaublich süsser Schmerz. So süss, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte, auch nicht mit Detlef. Marius breitete sein Hemd auf der roten Erde aus und bettete sie unendlich sanft auf das improvisierte Lager. Sie sah, wie hoch oben am strahlend blauen Himmel ein Bussard kreiste. Sein gleitender Flug kam ihr vor wie der Inbegriff der Freiheit, des Glücks. Sie nahm das Bild mit sich, als sie die Augen schloss, weil Marius sie küsste.
An diesem Nachmittag erfuhr sie, was Liebe war. Eine Liebe, die alles beiseite fegte, die keinen Platz liess für Überlegungen, für kokettes Versteckspiel, für höfliches Zaudern. Eine Liebe, die ihrer beider Leben verändern sollte, aber das wussten sie noch nicht ...
Er strich ihr das lange Haar aus dem Gesicht, umschloss es mit beiden Händen und betrachtete es mit schmerzlicher Intensität: "Ich liebe dich, Elisabeth. Ich liebe deine Augen, dein Haar, deinen Mund, aber am meisten liebe ich deine Seele."
"Ich liebe dich auch, Marius", flüsterte sie glücklich.
Nach einer Weile sprang er auf und zog sie hoch: "Ich möchte dir meine Heimat zeigen", sagte er mit leuchtenden Augen. "Kennst du den Berg Sainte-Victoire?"
Elisabeth hatte ihn schon von ihrem Hotelzimmer aus bewundert. Sie war auch an ihm vorbeigefahren, aber mit Marius zusammen wurde er in den nächsten Tagen zu einem Zauberberg, der von jeder Seite ein anderes Gesicht bot: Hellgrauer, schroffer Felsen von Aix aus betrachtet; grüne Vegetation und rote Erde, wenn sie sich ihm von Süden her näherten.
Auf ihren Streifzügen durch das Massiv, bei denen sich auch immer ein verschwiegenes Liebeslager fand, überraschte Marius die junge Frau mit seiner Bildung. Gleich beim ersten Mal erzählte er ihr, dass hier der römische Feldherr Marius in einer blutigen Schlacht die Teutonen vernichtend schlug.
"Bist du nach ihm benannt?" fragte sie.
"Der Name ist in der Provence nie ausgestorben."
Marius wusste jeden Baum, jedes Gewächs auf Provenzalisch, Französisch und Lateinisch zu benennen, kannte ihre Eigenarten und Lebensbedingungen.
"Woher weisst du das alles?" staunte Elisabeth.
"Mein Vater hat es mir beigebracht", erklärte er ihr stolz. "Er interessierte sich sehr für Botanik, aber natürlich konnte er nicht studieren."
Einen Augenblick glaubte sie, dass Marius studierte, dass er nur in den Semesterferien heimgekommen war. Als erriet er ihre Gedanken, schüttelte er den Kopf. "Nein, ich konnte auch nicht studieren. Ich habe in Aix mein Abitur gemacht, weil ich dort bei meiner Tante wohnen konnte, aber dann starb mein Vater, und meine Mutter brauchte mich." Er fügte hinzu: "Die Erde, die wir seit Generationen hier besitzen, ist sehr wichtig für uns. Sie macht uns zu freien Menschen."
"Auch Wissen macht frei", rutschte es ihr heraus.
"Man ist nicht frei, wenn man für einen Chef, einen Patron arbeitet", kam es scharf zurück.
"Ich möchte später in der Forschung arbeiten. Helfen, Pflanzenarten zu entwickeln, die unter extremen Bedingungen gedeihen. Damit die Menschen keinen Hunger mehr zu leiden brauchen."
"Das ist bestimmt nützlich, aber für mich wäre das nichts." Er reckte sich.
"Marius, wenn man so intelligent ist wie du, muss man studieren. Es ist eine Pflicht sich selbst und den anderen gegenüber."
Er lachte ihr ins Gesicht: "Als wenn die Wissenschaftler nicht auch zu grossem Blödsinn fähig wären. Ausserdem brauche ich nicht zu studieren, um glücklich zu sein." Plötzlich sah er auf die Uhr, meinte erschrocken: "Wir müssen zurückfahren, ich muss die Ziegen melken. Komm, ich zeige dir mein Haus und stelle dich meiner Mutter vor."
Das letzte Stück des Weges war so steil und steinig, dass sie den Wagen stehen lassen und zu Fuss gehen mussten. Dann standen sie vor einem einfachen, von Pinien beschatten Steinhaus. Eine schlanke Frau in blauer Kittelschürze kam mit einem Eimer voll Milch aus dem Stall. Elisabeth dachte, dass sie sehr schön gewesen sein musste, es immer noch war, aber die harte Arbeit und die Sonne hatten ihr Gesicht gezeichnet.
"Maman, hast du die Ziegen etwa schon gemolken?"
"Was bleibt mir anderes übrig? Mein Sohn treibt sich nur noch herum. Ist das das Mädchen, von dem du mir erzählt hast? Die Studentin aus Deutschland?"
"Ja, das ist Elisabeth. Sie spricht sehr gut Französisch. Elisabeth, das ist meine Mutter."
"Bonjour, Madame", sagte Elisabeth höflich.
Marius' Mutter sah sie verärgert an und ging grusslos an ihr vorbei. Dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu: "Und was ist mit Mireille? Sie ist schon zweimal vorbeigekommen, und du warst nicht da."
"Mireille ist eine gute Freundin,. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, aber ich liebe sie nicht."
"Sie liebt dich aber. Sie ist mit der Arbeit hier vertraut und würde eine gute Frau für dich sein."
"Schlag dir das aus dem Kopf, Maman. Ich werde sie nie heiraten!"
Jetzt wurde seine Mutter zornig: "Morgen ernten wir den Lavendel, die Nachbarn kommen, um zu helfen, und du hast die Handsicheln noch nicht geschärft!"
"Das mache ich nachher, ich bringe nur noch Elisabeth zu ihrem Wagen zurück."
Marius' Mutter drehte sich um und ging ins Haus, ohne Elisabeth noch eines Blickes zu würdigen.
Marius legte den Arm um die Schultern der jungen Frau: "Sie ist nicht immer so", entschuldigte er seine Mutter, während sie langsam den Weg zurückgingen. "Sie ist nur böse, weil ich ihr in den letzten Tagen nicht viel geholfen habe, und auch wegen Mireille, die sie sich als Schwiegertochter wünscht."
Sie standen jetzt vor Elisabeths Wagen, und Marius sah sie voll Liebe und Bewunderung an: "Du bist es, die ich liebe, Elisabeth. Fahr nicht nach Deutschland zurück! Wir werden heiraten und hier wohnen. Wenn meine Mutter merkt, dass es uns beiden ernst ist, wird sie dich mit offenen Armen aufnehmen und lieben wie eine Tochter. Ich kenne sie."
Die ganze Zeit hatte Elisabeth jeden Gedanken an eine Zukunft verdrängt, jetzt konnte sie es nicht mehr.
Sie hatte das Steinhaus gesehen, den feindseligen Blick seiner Mutter. Selbst ihre leidenschaftliche Liebe konnte sie nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass Marius und sie nicht das gleiche Lebensziel hatten. Sie gehörten zwei verschiedenen Welten an. Mit einer fast unmenschlichen Anstrengung sagte sie: "Marius, ich liebe dich auch, aber ... wir können nicht zusammen glücklich werden. Nicht, wenn wir mit deiner Mutter zusammenleben. Ich möchte mein Studium beenden, möchte arbeiten und der Gemeinschaft nützlich sein. Deine Mutter wird mich nicht lieben. Sie kann nur ein Mädchen als Schwiegertochter akzeptieren, das sich einfügen kann in euer Leben. Ich könnte es nicht. Und wenn ich es versuchte, würde ich unglücklich und frustriert sein. Und dich auf diese Weise ebenfalls unglücklich machen ..."
Er hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass es knirschte. Dann sagte er mit einer Stimme, die rauh war vor Enttäuschung und verletztem Stolz: "Wenn du so denkst, dann liebst du mich nicht. Dann ist es wohl tatsächlich besser, wir sehen uns nicht wieder. Viel Glück, Elisabeth!"
Er ging fort, ohne sich noch einmal umzuwenden, wie vorhin seine Mutter ...
_ _ _
Elisabeth erzählte Detlef ehrlich von Marius. Er verzieh ihr so leicht, dass sie sich wieder fragte, ob sie sich wirklich liebten. Aber als er anfing, sich über ihren "Bauernsohn" lustig zu machen, wies sie ihn scharf zurecht. Niemand, auch Detlef nicht, sollte über Marius lachen. Detlef zog sich beleidigt zurück, "tröstete" sich schon eine Woche später mit einer anderen. Jetzt wusste sie, dass sie sich nie wirklich geliebt hatten.
Andere Männer bemühten sich in den folgenden Jahren um sie. Sie waren klug und studiert, aber mit keinem empfand sie, was sie in Marius' Armen empfunden hatte. Verzweifelt verwandte sie schliesslich ihre ganze Kraft und Zeit nur noch auf ihr Studium. Anschliessend arbeitete sie engagiert in der Forschung. Ihr Kopf funktionierte hervorragend, aber ihr Herz war tot ...
_ _ _
Und nun war sie wieder in Aix, wo morgen ein wissenschaftlicher Kongress begann. Übermorgen sollte sie einen Vortrag halten über eine neuentwickelte Getreidesorte, die resistent war gegen die üblichen Krankheiten.
Sie war etwas eher angereist, und nun befand sie sich auf dem Weg zum Steinhaus.
Wenn Marius sie noch wollte, dann war sie bereit, dort mit ihm zu leben. Es gab keinen anderen Weg für sie, denn mit diesem toten Herzen konnte sie nicht weiterleben. Vielleicht gab es ja auch eine Möglichkeit für sie, hier zu arbeiten. Marius könnte sich weiter um seine Lavendelfelder und seine Ziegen kümmern. Vielleicht konnte sie ihm ab und zu sogar helfen bei der Arbeit mit den Tieren und auf den Feldern. Und auch mit seiner Mutter würde sie, wenn sie sich ehrlich bemühte, sicher auskommen. Aber vielleicht hatte er inzwischen geheiratet. Bei dem Gedanken spürte sie einen Schmerz, wie sie ihn nie für möglich gehalten hätte.
Sie parkte den Wagen unten am Weg, ging den Rest, wie damals mit Marius, zu Fuss. Und dann lag das Steinhaus vor ihr. Immer noch wurde es von den hohen Pinien beschattet, aber die Tür und die Fensterläden waren geschlossen, Unkraut wucherte überall. Was war geschehen? Wo waren Marius und seine Mutter?
Verzweifelt klopfte sie an die Tür, rüttelte an den Fensterläden: Nichts. Nur das durchdringende Zirpen der Grillen und das Rauschen des Mistrals waren zu hören ...
Am nächsten Morgen sass sie blass im Konferenzsaal. Mit Marius hatte sie auch sich selbst verloren. Alles kam ihr nur noch sinnlos vor.
Ein Mann trat ans Podium. Bevor er anfing zu sprechen, schweiften seine Augen über den Saal, ruhten kurz auf jeder anwesenden Person.
Sein Blick, seine ganze Haltung kamen Elisabeth unendlich vertraut vor. Plötzlich stockte ihr Atem, alles Blut strömte zu ihrem Herzen. Es war Marius!
Sie wollte aufspringen, seinen Namen rufen, aber sie konnte sich nicht rühren, kein Laut kam über ihre Lippen. Es war auch nicht nötig, er hatte sie ebenfalls erkannt. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, und endlich begann er zu sprechen. Er sah nicht ein einziges Mal auf die Blätter, die vor ihm lagen. Er sah Elisabeth an. Und er sprach mit einem inneren Feuer, einer Begeisterung, die den ganzen Saal mitriss. Es ging um die Aufforstung nach Waldbränden, um den Versuch, die ursprüngliche Vielfalt des provenzalischen Waldes wieder herzustellen, die dem Feuer mehr Widerstand bot als die leicht entzündbaren Pinien.
Später, während Applaus den Konferenzsaal erfüllte, kam er den Gang entlang zu ihr. Auch sie war aufgestanden. Ohne auf die Umstehenden zu achten, nahm er sie in die Arme. Dann reichte er ihr die Hand, und zusammen verliessen sie den Saal.
Auf einer Caféterrasse erzählte er ihr, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte: "Maman und ich haben nach vielen Diskussionen das einfache Leben aufgegeben und sind nach Aix gezogen. Die Felder sind verpachtet, die Ziegen hat ein anderer Nachbar übernommen. Hier habe ich studiert. Du weisst ja, mein Vater hatte es sich so sehr gewünscht. Er hätte es selbst so gern getan. Maman lebt bei ihrer Schwester, ist glücklich wie eine Schwalbe und sagt, dass sie den Komfort ihres neuen Lebens nie wieder missen möchte. Ich arbeite jetzt in einem wissenschaftlichen Institut in Aix und bin in letzter Minute für einen kranken Kollegen eingesprungen. Deswegen ist mein Name nicht auf der Kongressliste aufgeführt. Aber als ich deinen Namen entdeckte, kam es mir vor wie ein Wunder. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Und jetzt sitzen wir hier zusammen ..."
"Marius, ich möchte bei dir bleiben. Ich liebe dich. Das wurde mir erst klar, als ich dich verloren hatte. Meine Heimat ist dort, wo du bist."
Er ergriff ihre Hände. "Ich war so dumm damals. Wenn du mich heiratest, könnte ich auch in Deutschland leben."
"Nein, Marius. Es gefällt mir hier. Auch das Steinhaus gefällt mir. Gehört es immer noch euch?"
"Ja, davon werden wir uns nie trennen."
"Dann können wir später mit unseren Kindern die Ferien dort verbringen. Kinder brauchen Wurzeln."
Er lächelte glücklich. "Und wir werden ihnen die Namen aller Pflanzen beibringen, die im Sainte-Victoire Massiv wachsen."
Sie dachte daran, dass sie ihren Vortrag erst morgen halten würde und fragte: "Können wir den Rest des Tages schwänzen?"
"Wir können", entschied er.
Dann standen sie auf der Terrasse seiner kleinen Wohnung in Aix, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Mont Sainte-Victoire hatte. Der Himmel war so blau wie einst, und Elisabeth glaubte sogar, den Bussard zu entdecken, ehe sie die Augen schloss, weil Marius sie so leidenschaftlich küsste, als hätte es nie eine Trennung gegeben ...
ENDE
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Montag, 29. April 2013
Vertrau dem Schicksal
hillebel, 22:39h
Mark steht vor den Ruinen seiner Existenz: Die Firma ist pleite, seine Frau verlässt ihn. Doch er reisst sich zusammen und beginnt ein neues Leben. Da begegnet er Heike, der Frau, die er vor 22 Jahren über alles geliebt hat ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Mark Böttcher schloss die Haustür auf. Er fühlte sich leer und erschöpft. Heute war seine letzte Hoffnung gescheitert, seine Baufirma doch noch über die Runden zu bringen. Er hatte den grossen Sanierungsauftrag eines öffentlichen Gebäudes nicht bekommen.
Sein grösster Konkurrent, die Kohne-Bau, hatte seine scharf kalkulierten Preise noch unterboten. Für Mark Böttcher bedeutete es das Ende ...
Der Unternehmer goss sich ein Glas Whisky ein, als Isa ausgehfertig die Treppe herunterkam. Schon seit Jahren führten sie ein getrenntes Leben unter einem Dach. Er hatte zuviel gearbeitet, sie zuviel allein gelassen, warf er sich vor. Vielleicht war wenigstens ihre Ehe zu retten?
"Komm, setz dich zu mir", bat er seine Frau.
"Ich habe keine Zeit ..."
"Isa, ich muss den Konkurs anmelden", sagte er mit müder Stimme. "Wir werden alles verkaufen müssen, aber ich komme wieder auf die Beine, Liebes, ganz bestimmt ..." Er hatte ihr schon wiederholt von seinen Schwierigkeiten erzählt.
Ihr schönes Gesicht zeigte keine Gefühlsregung: "Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen, ich muss jetzt weg!"
Mark sprang auf: "Aber wohin denn bloss?"
Schon fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Mark war allein in dem Haus, das er für Isa und sich gebaut hatte. Er hatte sich Kinder gewünscht, die Isa ihm nicht hatte schenken wollen. Dieses Haus war viel zu gross für nur zwei Menschen, kam es ihm wieder einmal in den Sinn.
_ _ _
"Du bist noch auf?" fragte Isa. Es war fast zwei Uhr früh, als sie nach Hause kam.
"Hast du jetzt Zeit für mich, für uns?" fragte er, doch es lag kein Vorwurf in seiner Stimme. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass ihre Zweisamkeit in den letzten Jahren vor lauter Arbeit zu kurz gekommen war, aber sie kam ihm zuvor: "Mark, ich möchte dich um die Scheidung bitten."
Bitter lachte er auf. Er hätte wissen müssen, dass Isa nicht bereit war, auch die schlechten Zeiten mit ihm zu teilen.
"Wer ist es?" fragte er.
Es war Detlef Kohne, sein siegreicher Konkurrent. Auch das hätte er wissen müssen: Isa war eine Frau, die immer dem Sieger gehörte ...
_ _ _
Es wurde das schwerste Jahr in seinem Leben. Nichts blieb ihm, alles ging in die Konkursmasse ein. Dann fand der 42-jährige eine Stelle als Polier, zog in eine kleine Mietwohnung ein - und fühlte sich zu seinem Erstaunen viel wohler, als sich ein Mann fühlen müsste, dessen Lebenswerk zerstört war.
Nur das Alleinsein lastete auf ihm. Aber war er eigentlich nicht immer allein gewesen? Ausser einmal, ein paar Monate lang, vor zweiundzwanzig Jahren. Rasch schob er die Erinnerung beiseite. Sie tat zu weh ...
Als ihm zufällig ein historischer Roman in die Hände fiel, begann er zu lesen - und war gefesselt. In der Schule hatte er sich nie für Geschichte interessiert, jetzt tat sich eine andere Welt vor ihm auf. Er beschloss, ein Geschichtsbuch zu kaufen. Am nächsten Samstag stand er im Buchladen ratlos vor dem reichhaltigen Angebot.
Neben ihm griff sich eine Kundin zielsicher ein Buch heraus.
"Ist das ein gutes Buch, um sich allgemeine Geschichtskenntnisse anzueignen?" fragte er auf's Geradewohl.
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu - und im selben Augenblick erkannte er sie. Nach zweiundzwanzig Jahren.
"Heike", sagte er leise.
"Mark!" Auch sie hatte ihn erkannt.
"Wie geht es dir? Du bist ... sicher verheiratet?" Er konnte nicht anders, er musste ihr diese Frage stellen.
"Ich bin verwitwet", erwiderte sie. "Seit langem."
"Das tut mir leid."
"Und du?" wollte sie jetzt wissen.
"Geschieden."
Ein Junge von elf oder zwölf Jahren lief mit einem Buch in der Hand auf sie zu: "Mami, darf ich das haben?"
"Ah, Jules Vernes. Ja, natürlich."
"Gehen wir zur Kasse?" drängte er.
"Einen Augenblickl noch, Jan. Ich möchte diesem Herrn helfen, ein Buch auszusuchen. Das ist übrigens Mark, ein ... Freund von früher. Mark, das ist Jan, mein Sohn."
Mark lächelte dem Jungen zu: "Ich freue mich, dich kennenzulernen, Jan." Er meinte es ehrlich. Der Junge hatte ein offenes Gesicht, dunkle, kurzgeschorene Haare und die blauen Augen seiner Mutter.
Heike fand im Handumdrehen das passende Buch: "Das empfehle ich immer meinen Schülern."
"Du bist Lehrerin?"
Sie nickte: "Für Deutsch und Geschichte."
Als sie ihre Einkäufe bezahlt hatten, lud Mark die beiden zu Hamburgern und Pommes ein: "Das heisst, wenn ihr nichts Besseres vorhabt."
Heike zögerte, aber in Jan hatte Mark schon einen Verbündeten gefunden: "Oh ja, super. Bitte, Mami!"
"Na gut", lächelte sie schliesslich.
Auf dem Weg zum Schnellrestaurant kamen sie an einer grossen Bank vorbei: "Das Gebäude haben wir restauriert", sagte Mark nicht ohne Stolz.
Jan war beeindruckt. "Was haben Sie noch gemacht?"
"Wir haben auch andere Häuser restauriert. Oder neu gebaut. Villen, eine Schule ..."
"Können Sie auch einen Kaninchenstall bauen?" unterbrach ihn Jan mit leuchtenden Augen.
"Natürlich kann ich das", lachte Mark, "möchtest du einen Kaninchenstall haben?"
"Ja, im Garten!"
"Ich hab dir schon gesagt, dass das nicht in Frage kommt", erwiderte Heike schroffer, als sie beabsichtigte: "Wer wird den Kaninchen zu fressen geben? Wer wird ihren Stall saubermachen?"
"Ich! Mannomann, hab ich dir doch schon gesagt!" Jan klang richtig verletzt.
Zu Heikes Erleichterung waren sie im Restaurant angekommen. Sie wusste immer noch nicht, was sie von dieser Begegnung halten sollte. Die drei fanden einen freien Tisch, und Jan bestellte glücklich einen doppelten Hamburger.
"Darf ich auch Pommes und ein Cola haben?"
Er durfte. Einen Salat gab es auch dazu, und als Nachtisch ein Eis.
Während des Essens sah Heike immer wieder Mark verstohlen an. Er war gross und kräftig, sah immer noch gut aus. Aber am meisten berührten sie einige graue Haare, die sie in seinem dunklen Haarschopf entdeckte. Vielleicht, weil sie ihn irgendwie verletzlich erscheinen liessen? Ihn, der damals so grausam war ...
"Und der Kaninchenstall?" kam Jan hartnäckig auf seine Pläne zurück, als sie das Restaurant verliessen.
"Wenn du es mir erlaubst, Heike, komme ich gern vorbei und sehe mir das mal an."
"Also gut", gab sie nach. "Sagen wir morgen Nachmittag?"
_ _ _
Heike bewohnte ein hübsches kleines Vorstadthaus. Im Erker des gemütlichen Wohnzimmers war der Kaffeetisch gedeckt.
"Nur für uns zwei?" Mark warf ihr einen fragenden Blick zu.
"Jan ist bei einem Freund nebenan. Weil ich finde, dass wir uns erst mal miteinander unterhalten müssen."
Sie schenkte Kaffee ein, dann schob sie ihm den selbstgebackenen Kuchen zu: "Nimm dir, Mark."
Kaffee und Kuchen schmeckten köstlich. Und sie hatte recht. Sie mussten miteinander sprechen. Über das, was vor zweiundzwanzig Jahren geschehen war ...
Heike war 18, er zwei Jahre älter, als sie sich auf eine etwas gewaltsame Weise begegneten. Er radelte damals zu einer Baustelle, als ein Auto ihn überholte, ohne zu blinken rechts einbog und eine Radfahrerin anfuhr, die schwer stürzte.
Der Fahrer beging Fahrerflucht. Doch Mark merkte sich geistesgegenwärtig die Nummer, dann kümmerte er sich um das verletzte junge Mädchen. Am nächsten Tag besuchte er Heike mit einem Blumenstrauss im Krankenhaus. Sie hatte sich das Schlüsselbein gebrochen, hatte Schürf- und Platzwunden erlitten. Es war nichts wirklich Ernstes, nur schmerzhaft.
Dank Marks Besonnenheit wurde der schuldige Autofahrer gefunden. Bei der Gerichtsverhandlung trat Mark als Zeuge auf. Heikes Eltern luden ihn zum Dank in ihre schöne Villa ein, und unversehens verliebten sich die beiden jungen Leute ineinander.
Er erinnerte sich noch so gut an die Heike von damals. Ihr langes dunkles Haar, die grossen dunkelblauen Augen, das feingeschnittene Gesicht. Ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Hausfrau. Heike lebte in einer heilen Welt, wie Mark sie nie kennengelernt hatte. Seine Mutter hatte ihn allein aufgezogen. Bei einem Onkel, der Maurer war, hatte er seinen Beruf gelernt.
Die Schule hatte ihn nie interessiert, er trieb sich lieber auf der Strasse herum. Der gutaussehende Maurergeselle hatte immer Erfolg bei den Mädchen gehabt, aber was es hiess, wirklich zu lieben, merkte er erst jetzt. Er wollte Heike ein ganzes Leben lang auf Händen tragen, sie beschützen, ihr Glück und Geborgenheit schenken, aber wie konnte er das? Der Unterschied zwischen ihnen schien ihm unüberbrückbar zu sein.
Er war es, der Schluss machte. Brutal. Unwiderruflich. Er sagte Heike, dass er ein anderes Mädchen liebte.
Er erinnerte sich noch an den ungläubigen Ausdruck ihrer Augen, das Begreifen, den Schmerz. Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass er die Wahrheit sagte.
Heikes Tränen zerrissen ihm fast das Herz, aber er glaubte, zu ihrem Besten zu handeln. Sie würde einen Mann aus ihrer Welt heiraten. Einen Mann, mit dem sie glücklich werden konnte ...
Jetzt lehnte sie sich vor und sah ihm fest in die Augen: "Mark, ich möchte verstehen, was damals passiert ist."
"Es war eine Lüge. Ich meine, als ich dir sagte, dass ich ein anderes Mädchen lieben würde."
"Aber warum? Du hast mir so weh getan!"
Sie trug ihr Haar heute kürzer, aber ihre Augen waren noch genauso klar und blau. Zarte Fältchen hatten sich um sie herum eingegraben. Spuren des Lebens. Er hätte sie am liebsten voll Zärtlichkeit geküsst.
Dumpf sagte er: "Heike, das konnte doch nicht gutgehen zwischen uns. Du warst gebildet, ich war dumm. Deine Eltern hätten nie einer Heirat zugestimmt."
"Wieso bist du da so sicher? War es nicht eher dein Stolz, der dir verbot, mich zu heiraten? Und dann, du warst doch nicht dumm, nur ungebildet. Man kann dazulernen. Ich hätte dir geholfen."
"Ich wollte es allein schaffen. Und ich habe es geschafft. Ich hatte mein eigenes Bauunternehmen. Aber letztes Jahr ist alles den Bach runtergegangen. Gleichzeitig hat meine Frau mich verlassen. Heute glaube ich, dass das ein Glück war. Meine Heirat war ein Irrtum. Von vornherein."
"Warum hast du sie dann überhaupt geheiratet?"
"Isa war schön und anspruchsvoll. Es beeindruckte mich, dass sie mich wollte. Ich habe zu spät begriffen, dass sie nicht mich wollte, sondern nur das Leben, das ich ihr bieten konnte."
"Hast du Kinder?" fragte sie weich.
"Nein, Isa wollte keine. Leider. Aber jetzt haben wir genug von mir geredet. Wie ist es dir ergangen?"
"Ich bin Lehrerin geworden, habe lange in Süddeutschland gelebt. Mit 27 Jahren lernte ich Martin kennen, einen Arzt, der für eine humanitäre Einrichtung tätig war. Ich habe ihn zutiefst bewundert und auch geliebt. Selbst wenn es nicht die leidenschaftliche Liebe war, die ich für dich empfunden hatte. Jan war drei, als Martin bei einem Attentat in einem Kriegsgebiet ums Leben kam ..."
"Das tut mir leid", sagte Mark betroffen.
"Letztes Jahr bin ich in meine Heimatstadt zurückgekommen. Mark, ich möchte dir etwas sagen ..."
"Ja?" Er sah sie an und hielt den Atem an.
"Ich liebe dich noch immer."
Eine unendliche Freude und gleich darauf ein tiefer Schmerz erfüllten seine Brust. "Ich dich auch, Heike. Auch ich habe dich niemals vergessen können, aber ..."
Jan stürzte ins Zimmer: "Ist der Kaninchenstall fertig?"
Mark lachte: "So schnell geht das nicht, junger Mann. Wir müssen planen, müssen den geeigneten Ort finden ..."
"Und guten Tag könntest du auch zuerst sagen", bemerkte Heike.
"Guten Tag, Mark."
"Guten Tag, Jan", lachte Mark ihn an und wandte sich Heike zu: "Wenn es dir recht ist, fangen Jan und ich gleich mit der Arbeit an!"
_ _ _
Zwei Wochen später war der Stall fertig, und zwei junge Kaninchen hatten ihn bezogen. Jan war begeistert: "Danke, Mark, und ich hab ihn mitgebaut, stimmt's?"
"Und ob. Du kannst stolz sein auf deine Arbeit."
Heike lächelte ihm zu: "Du bleibst doch zum Abendessen?"
Er blieb. Heike hatte einen schmackhaften Eintopf zubereitet, den Jan ohne sein gewohntes Murren ass, weil er sah, mit welcher Begeisterung Mark sich über seinen gut gefüllten Teller hermachte. Danach holte Heike eine Käseplatte aus der Küche, und als Nachtisch gab es rote Grütze mit Schlagsahne.
Es wurde ein richtiges kleines Fest.
"Zeit für's Bett", mahnte Heike schliesslich ihren Sohn. "Du musst morgen zur Schule."
"Kommt ihr, um mir gute Nacht zu sagen?"
Jan roch nach Seife und frisch geputzten Zähnen, als Heike und Mark in sein Zimmer kamen.
"Was willst du denn später werden?" fragte Mark und setzte sich zu Jans aufs Bett.
"Arzt, wie mein Vati", kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
"Das ist ein schöner Beruf."
"Ja, aber ich muss ein gutes Abi machen und dann lange studieren ..."
"Das schaffst du." Mark lächelte Jan zu und wuschelte kurz durch dessen Bürstenschnitt. Er mochte den Jungen. Sehr sogar.
Unten holte Heike eine Flasche Wein. Mark öffnete sie und schenkte ein.
"Weisst du, dass Jan ständig von dir redet?" lächelte Heike, als sie sich zuprosteten. "Er bewundert dich. Und wir ... es wird Zeit, dass wir unsere Unterhaltung fortsetzen, die Jan vor zwei Wochen unterbrochen hat."
Sein Gesicht wurde nachdenklich, dann verschloss es sich. Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück und stand auf: "Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe ..."
"Aber warum?" fragte sie fassungslos.
"Es geht nicht, Heike, begreif es doch!"
"Du hast doch nicht schon wieder ... eine andere Frau kennengelernt?" fragte sie mit dem schwachen Wunsch zu scherzen.
Unbeirrt fuhr er fort: "Du hast studiert. Du hast einen intelligenten Sohn, der einmal Arzt werden möchte. Es gibt keinen Platz für mich in deinem Leben. Schon damals irrte sich das Schicksal, als unsere Wege sich kreuzten, und daran hat sich auch diesmal nichts geändert."
Heike schnellte in die Höhe, baute sich vor ihm auf und funkelte ihn zornig an: "So einfach kommst du mir heute nicht davon. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen damals und heute. Wir sind beide erwachsen. Wir lieben uns, Mark. Und Jan liebt dich auch. Mehr noch, er braucht dich ..."
"Er wird bald merken, wie ungebildet ich bin."
"Mark, du hast etwas, was wichtiger ist als Wissen: Herzensbildung. Sie ist angeboren. Die andere Bildung kann man sich aneignen, du hast doch schon damit angefangen! Ausserdem solltest du Jan jetzt gut genug kennen, um zu wissen, dass er dir nie dumm kommen wird."
Wieder wehrte er ab: "Es kann Jahre dauern, bis ich wieder irgend etwas Eigenes aufgebaut habe ..."
"Dein dummer Stolz, nicht? Du hast alles verloren, na und? Wir begegnen uns immer, wenn du nichts hast. Das Schicksal irrt sich nicht, es gibt uns im Gegenteil eine zweite Chance. Wir werden gemeinsam etwas aufbauen. Eines sage ich dir nämlich, Mark Böttcher, diesmal wirst du mich nicht los. Ich möchte endlich wirklich glücklich sein, und das kann ich nur mit dir!"
Mit flammenden Augen und geröteten Wagen stand sie vor ihm. Wie schön sie war. Wie er diese Frau liebte! Und musste er nicht wirklich endlich lernen, zu vertrauen? Sich helfen zu lassen?
Seine Stimme klang rauh vor Liebe, als er fragte: "Heike, möchtest du meine Frau werden? Hast du wirklich genug Mut, um einen Versuch mit mir zu machen?"
Als Antwort schlang sie die Arme um seinen Hals, und sie versanken beide in einem Kuss, wie sie ihn so leidenschaftlich und innig nie gegeben noch je empfangen hatten ...
ENDE
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Mark Böttcher schloss die Haustür auf. Er fühlte sich leer und erschöpft. Heute war seine letzte Hoffnung gescheitert, seine Baufirma doch noch über die Runden zu bringen. Er hatte den grossen Sanierungsauftrag eines öffentlichen Gebäudes nicht bekommen.
Sein grösster Konkurrent, die Kohne-Bau, hatte seine scharf kalkulierten Preise noch unterboten. Für Mark Böttcher bedeutete es das Ende ...
Der Unternehmer goss sich ein Glas Whisky ein, als Isa ausgehfertig die Treppe herunterkam. Schon seit Jahren führten sie ein getrenntes Leben unter einem Dach. Er hatte zuviel gearbeitet, sie zuviel allein gelassen, warf er sich vor. Vielleicht war wenigstens ihre Ehe zu retten?
"Komm, setz dich zu mir", bat er seine Frau.
"Ich habe keine Zeit ..."
"Isa, ich muss den Konkurs anmelden", sagte er mit müder Stimme. "Wir werden alles verkaufen müssen, aber ich komme wieder auf die Beine, Liebes, ganz bestimmt ..." Er hatte ihr schon wiederholt von seinen Schwierigkeiten erzählt.
Ihr schönes Gesicht zeigte keine Gefühlsregung: "Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen, ich muss jetzt weg!"
Mark sprang auf: "Aber wohin denn bloss?"
Schon fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Mark war allein in dem Haus, das er für Isa und sich gebaut hatte. Er hatte sich Kinder gewünscht, die Isa ihm nicht hatte schenken wollen. Dieses Haus war viel zu gross für nur zwei Menschen, kam es ihm wieder einmal in den Sinn.
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"Du bist noch auf?" fragte Isa. Es war fast zwei Uhr früh, als sie nach Hause kam.
"Hast du jetzt Zeit für mich, für uns?" fragte er, doch es lag kein Vorwurf in seiner Stimme. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass ihre Zweisamkeit in den letzten Jahren vor lauter Arbeit zu kurz gekommen war, aber sie kam ihm zuvor: "Mark, ich möchte dich um die Scheidung bitten."
Bitter lachte er auf. Er hätte wissen müssen, dass Isa nicht bereit war, auch die schlechten Zeiten mit ihm zu teilen.
"Wer ist es?" fragte er.
Es war Detlef Kohne, sein siegreicher Konkurrent. Auch das hätte er wissen müssen: Isa war eine Frau, die immer dem Sieger gehörte ...
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Es wurde das schwerste Jahr in seinem Leben. Nichts blieb ihm, alles ging in die Konkursmasse ein. Dann fand der 42-jährige eine Stelle als Polier, zog in eine kleine Mietwohnung ein - und fühlte sich zu seinem Erstaunen viel wohler, als sich ein Mann fühlen müsste, dessen Lebenswerk zerstört war.
Nur das Alleinsein lastete auf ihm. Aber war er eigentlich nicht immer allein gewesen? Ausser einmal, ein paar Monate lang, vor zweiundzwanzig Jahren. Rasch schob er die Erinnerung beiseite. Sie tat zu weh ...
Als ihm zufällig ein historischer Roman in die Hände fiel, begann er zu lesen - und war gefesselt. In der Schule hatte er sich nie für Geschichte interessiert, jetzt tat sich eine andere Welt vor ihm auf. Er beschloss, ein Geschichtsbuch zu kaufen. Am nächsten Samstag stand er im Buchladen ratlos vor dem reichhaltigen Angebot.
Neben ihm griff sich eine Kundin zielsicher ein Buch heraus.
"Ist das ein gutes Buch, um sich allgemeine Geschichtskenntnisse anzueignen?" fragte er auf's Geradewohl.
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu - und im selben Augenblick erkannte er sie. Nach zweiundzwanzig Jahren.
"Heike", sagte er leise.
"Mark!" Auch sie hatte ihn erkannt.
"Wie geht es dir? Du bist ... sicher verheiratet?" Er konnte nicht anders, er musste ihr diese Frage stellen.
"Ich bin verwitwet", erwiderte sie. "Seit langem."
"Das tut mir leid."
"Und du?" wollte sie jetzt wissen.
"Geschieden."
Ein Junge von elf oder zwölf Jahren lief mit einem Buch in der Hand auf sie zu: "Mami, darf ich das haben?"
"Ah, Jules Vernes. Ja, natürlich."
"Gehen wir zur Kasse?" drängte er.
"Einen Augenblickl noch, Jan. Ich möchte diesem Herrn helfen, ein Buch auszusuchen. Das ist übrigens Mark, ein ... Freund von früher. Mark, das ist Jan, mein Sohn."
Mark lächelte dem Jungen zu: "Ich freue mich, dich kennenzulernen, Jan." Er meinte es ehrlich. Der Junge hatte ein offenes Gesicht, dunkle, kurzgeschorene Haare und die blauen Augen seiner Mutter.
Heike fand im Handumdrehen das passende Buch: "Das empfehle ich immer meinen Schülern."
"Du bist Lehrerin?"
Sie nickte: "Für Deutsch und Geschichte."
Als sie ihre Einkäufe bezahlt hatten, lud Mark die beiden zu Hamburgern und Pommes ein: "Das heisst, wenn ihr nichts Besseres vorhabt."
Heike zögerte, aber in Jan hatte Mark schon einen Verbündeten gefunden: "Oh ja, super. Bitte, Mami!"
"Na gut", lächelte sie schliesslich.
Auf dem Weg zum Schnellrestaurant kamen sie an einer grossen Bank vorbei: "Das Gebäude haben wir restauriert", sagte Mark nicht ohne Stolz.
Jan war beeindruckt. "Was haben Sie noch gemacht?"
"Wir haben auch andere Häuser restauriert. Oder neu gebaut. Villen, eine Schule ..."
"Können Sie auch einen Kaninchenstall bauen?" unterbrach ihn Jan mit leuchtenden Augen.
"Natürlich kann ich das", lachte Mark, "möchtest du einen Kaninchenstall haben?"
"Ja, im Garten!"
"Ich hab dir schon gesagt, dass das nicht in Frage kommt", erwiderte Heike schroffer, als sie beabsichtigte: "Wer wird den Kaninchen zu fressen geben? Wer wird ihren Stall saubermachen?"
"Ich! Mannomann, hab ich dir doch schon gesagt!" Jan klang richtig verletzt.
Zu Heikes Erleichterung waren sie im Restaurant angekommen. Sie wusste immer noch nicht, was sie von dieser Begegnung halten sollte. Die drei fanden einen freien Tisch, und Jan bestellte glücklich einen doppelten Hamburger.
"Darf ich auch Pommes und ein Cola haben?"
Er durfte. Einen Salat gab es auch dazu, und als Nachtisch ein Eis.
Während des Essens sah Heike immer wieder Mark verstohlen an. Er war gross und kräftig, sah immer noch gut aus. Aber am meisten berührten sie einige graue Haare, die sie in seinem dunklen Haarschopf entdeckte. Vielleicht, weil sie ihn irgendwie verletzlich erscheinen liessen? Ihn, der damals so grausam war ...
"Und der Kaninchenstall?" kam Jan hartnäckig auf seine Pläne zurück, als sie das Restaurant verliessen.
"Wenn du es mir erlaubst, Heike, komme ich gern vorbei und sehe mir das mal an."
"Also gut", gab sie nach. "Sagen wir morgen Nachmittag?"
_ _ _
Heike bewohnte ein hübsches kleines Vorstadthaus. Im Erker des gemütlichen Wohnzimmers war der Kaffeetisch gedeckt.
"Nur für uns zwei?" Mark warf ihr einen fragenden Blick zu.
"Jan ist bei einem Freund nebenan. Weil ich finde, dass wir uns erst mal miteinander unterhalten müssen."
Sie schenkte Kaffee ein, dann schob sie ihm den selbstgebackenen Kuchen zu: "Nimm dir, Mark."
Kaffee und Kuchen schmeckten köstlich. Und sie hatte recht. Sie mussten miteinander sprechen. Über das, was vor zweiundzwanzig Jahren geschehen war ...
Heike war 18, er zwei Jahre älter, als sie sich auf eine etwas gewaltsame Weise begegneten. Er radelte damals zu einer Baustelle, als ein Auto ihn überholte, ohne zu blinken rechts einbog und eine Radfahrerin anfuhr, die schwer stürzte.
Der Fahrer beging Fahrerflucht. Doch Mark merkte sich geistesgegenwärtig die Nummer, dann kümmerte er sich um das verletzte junge Mädchen. Am nächsten Tag besuchte er Heike mit einem Blumenstrauss im Krankenhaus. Sie hatte sich das Schlüsselbein gebrochen, hatte Schürf- und Platzwunden erlitten. Es war nichts wirklich Ernstes, nur schmerzhaft.
Dank Marks Besonnenheit wurde der schuldige Autofahrer gefunden. Bei der Gerichtsverhandlung trat Mark als Zeuge auf. Heikes Eltern luden ihn zum Dank in ihre schöne Villa ein, und unversehens verliebten sich die beiden jungen Leute ineinander.
Er erinnerte sich noch so gut an die Heike von damals. Ihr langes dunkles Haar, die grossen dunkelblauen Augen, das feingeschnittene Gesicht. Ihr Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Hausfrau. Heike lebte in einer heilen Welt, wie Mark sie nie kennengelernt hatte. Seine Mutter hatte ihn allein aufgezogen. Bei einem Onkel, der Maurer war, hatte er seinen Beruf gelernt.
Die Schule hatte ihn nie interessiert, er trieb sich lieber auf der Strasse herum. Der gutaussehende Maurergeselle hatte immer Erfolg bei den Mädchen gehabt, aber was es hiess, wirklich zu lieben, merkte er erst jetzt. Er wollte Heike ein ganzes Leben lang auf Händen tragen, sie beschützen, ihr Glück und Geborgenheit schenken, aber wie konnte er das? Der Unterschied zwischen ihnen schien ihm unüberbrückbar zu sein.
Er war es, der Schluss machte. Brutal. Unwiderruflich. Er sagte Heike, dass er ein anderes Mädchen liebte.
Er erinnerte sich noch an den ungläubigen Ausdruck ihrer Augen, das Begreifen, den Schmerz. Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass er die Wahrheit sagte.
Heikes Tränen zerrissen ihm fast das Herz, aber er glaubte, zu ihrem Besten zu handeln. Sie würde einen Mann aus ihrer Welt heiraten. Einen Mann, mit dem sie glücklich werden konnte ...
Jetzt lehnte sie sich vor und sah ihm fest in die Augen: "Mark, ich möchte verstehen, was damals passiert ist."
"Es war eine Lüge. Ich meine, als ich dir sagte, dass ich ein anderes Mädchen lieben würde."
"Aber warum? Du hast mir so weh getan!"
Sie trug ihr Haar heute kürzer, aber ihre Augen waren noch genauso klar und blau. Zarte Fältchen hatten sich um sie herum eingegraben. Spuren des Lebens. Er hätte sie am liebsten voll Zärtlichkeit geküsst.
Dumpf sagte er: "Heike, das konnte doch nicht gutgehen zwischen uns. Du warst gebildet, ich war dumm. Deine Eltern hätten nie einer Heirat zugestimmt."
"Wieso bist du da so sicher? War es nicht eher dein Stolz, der dir verbot, mich zu heiraten? Und dann, du warst doch nicht dumm, nur ungebildet. Man kann dazulernen. Ich hätte dir geholfen."
"Ich wollte es allein schaffen. Und ich habe es geschafft. Ich hatte mein eigenes Bauunternehmen. Aber letztes Jahr ist alles den Bach runtergegangen. Gleichzeitig hat meine Frau mich verlassen. Heute glaube ich, dass das ein Glück war. Meine Heirat war ein Irrtum. Von vornherein."
"Warum hast du sie dann überhaupt geheiratet?"
"Isa war schön und anspruchsvoll. Es beeindruckte mich, dass sie mich wollte. Ich habe zu spät begriffen, dass sie nicht mich wollte, sondern nur das Leben, das ich ihr bieten konnte."
"Hast du Kinder?" fragte sie weich.
"Nein, Isa wollte keine. Leider. Aber jetzt haben wir genug von mir geredet. Wie ist es dir ergangen?"
"Ich bin Lehrerin geworden, habe lange in Süddeutschland gelebt. Mit 27 Jahren lernte ich Martin kennen, einen Arzt, der für eine humanitäre Einrichtung tätig war. Ich habe ihn zutiefst bewundert und auch geliebt. Selbst wenn es nicht die leidenschaftliche Liebe war, die ich für dich empfunden hatte. Jan war drei, als Martin bei einem Attentat in einem Kriegsgebiet ums Leben kam ..."
"Das tut mir leid", sagte Mark betroffen.
"Letztes Jahr bin ich in meine Heimatstadt zurückgekommen. Mark, ich möchte dir etwas sagen ..."
"Ja?" Er sah sie an und hielt den Atem an.
"Ich liebe dich noch immer."
Eine unendliche Freude und gleich darauf ein tiefer Schmerz erfüllten seine Brust. "Ich dich auch, Heike. Auch ich habe dich niemals vergessen können, aber ..."
Jan stürzte ins Zimmer: "Ist der Kaninchenstall fertig?"
Mark lachte: "So schnell geht das nicht, junger Mann. Wir müssen planen, müssen den geeigneten Ort finden ..."
"Und guten Tag könntest du auch zuerst sagen", bemerkte Heike.
"Guten Tag, Mark."
"Guten Tag, Jan", lachte Mark ihn an und wandte sich Heike zu: "Wenn es dir recht ist, fangen Jan und ich gleich mit der Arbeit an!"
_ _ _
Zwei Wochen später war der Stall fertig, und zwei junge Kaninchen hatten ihn bezogen. Jan war begeistert: "Danke, Mark, und ich hab ihn mitgebaut, stimmt's?"
"Und ob. Du kannst stolz sein auf deine Arbeit."
Heike lächelte ihm zu: "Du bleibst doch zum Abendessen?"
Er blieb. Heike hatte einen schmackhaften Eintopf zubereitet, den Jan ohne sein gewohntes Murren ass, weil er sah, mit welcher Begeisterung Mark sich über seinen gut gefüllten Teller hermachte. Danach holte Heike eine Käseplatte aus der Küche, und als Nachtisch gab es rote Grütze mit Schlagsahne.
Es wurde ein richtiges kleines Fest.
"Zeit für's Bett", mahnte Heike schliesslich ihren Sohn. "Du musst morgen zur Schule."
"Kommt ihr, um mir gute Nacht zu sagen?"
Jan roch nach Seife und frisch geputzten Zähnen, als Heike und Mark in sein Zimmer kamen.
"Was willst du denn später werden?" fragte Mark und setzte sich zu Jans aufs Bett.
"Arzt, wie mein Vati", kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
"Das ist ein schöner Beruf."
"Ja, aber ich muss ein gutes Abi machen und dann lange studieren ..."
"Das schaffst du." Mark lächelte Jan zu und wuschelte kurz durch dessen Bürstenschnitt. Er mochte den Jungen. Sehr sogar.
Unten holte Heike eine Flasche Wein. Mark öffnete sie und schenkte ein.
"Weisst du, dass Jan ständig von dir redet?" lächelte Heike, als sie sich zuprosteten. "Er bewundert dich. Und wir ... es wird Zeit, dass wir unsere Unterhaltung fortsetzen, die Jan vor zwei Wochen unterbrochen hat."
Sein Gesicht wurde nachdenklich, dann verschloss es sich. Er stellte sein Glas auf den Tisch zurück und stand auf: "Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe ..."
"Aber warum?" fragte sie fassungslos.
"Es geht nicht, Heike, begreif es doch!"
"Du hast doch nicht schon wieder ... eine andere Frau kennengelernt?" fragte sie mit dem schwachen Wunsch zu scherzen.
Unbeirrt fuhr er fort: "Du hast studiert. Du hast einen intelligenten Sohn, der einmal Arzt werden möchte. Es gibt keinen Platz für mich in deinem Leben. Schon damals irrte sich das Schicksal, als unsere Wege sich kreuzten, und daran hat sich auch diesmal nichts geändert."
Heike schnellte in die Höhe, baute sich vor ihm auf und funkelte ihn zornig an: "So einfach kommst du mir heute nicht davon. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen damals und heute. Wir sind beide erwachsen. Wir lieben uns, Mark. Und Jan liebt dich auch. Mehr noch, er braucht dich ..."
"Er wird bald merken, wie ungebildet ich bin."
"Mark, du hast etwas, was wichtiger ist als Wissen: Herzensbildung. Sie ist angeboren. Die andere Bildung kann man sich aneignen, du hast doch schon damit angefangen! Ausserdem solltest du Jan jetzt gut genug kennen, um zu wissen, dass er dir nie dumm kommen wird."
Wieder wehrte er ab: "Es kann Jahre dauern, bis ich wieder irgend etwas Eigenes aufgebaut habe ..."
"Dein dummer Stolz, nicht? Du hast alles verloren, na und? Wir begegnen uns immer, wenn du nichts hast. Das Schicksal irrt sich nicht, es gibt uns im Gegenteil eine zweite Chance. Wir werden gemeinsam etwas aufbauen. Eines sage ich dir nämlich, Mark Böttcher, diesmal wirst du mich nicht los. Ich möchte endlich wirklich glücklich sein, und das kann ich nur mit dir!"
Mit flammenden Augen und geröteten Wagen stand sie vor ihm. Wie schön sie war. Wie er diese Frau liebte! Und musste er nicht wirklich endlich lernen, zu vertrauen? Sich helfen zu lassen?
Seine Stimme klang rauh vor Liebe, als er fragte: "Heike, möchtest du meine Frau werden? Hast du wirklich genug Mut, um einen Versuch mit mir zu machen?"
Als Antwort schlang sie die Arme um seinen Hals, und sie versanken beide in einem Kuss, wie sie ihn so leidenschaftlich und innig nie gegeben noch je empfangen hatten ...
ENDE
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Mittwoch, 24. April 2013
Der Zauber von Paris
hillebel, 10:33h
Gesa hat ihren Verlobten unter tragischen Umständen verloren. Sie ist dabei, sich ein neues Leben aufzubauen, als es eine unerwartete Wendung nimmt - in Paris.
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Lars Westphal stand neben der weit geöffneten Flügeltür des Wohnzimmers. Die Hauseinweihungs-Party von Patrick und Sigrid schlug hohe Wellen. Ein gutbestücktes Buffet, Getränke aller Art. Musik, die in die Glieder fuhr: Alle Zutaten eines Erfolgsrezeptes waren vorhanden. Nur bei ihm wirkte es nicht.
Er überlegte noch, ob er sich nicht diskret von seinen Gastgebern verabschieden sollte, als er die junge Frau bemerkte, die nicht weit von ihm entfernt gedankenverloren in den Garten hinaussah. Ihm war, als sei ihm alles an dieser Frau seit jeher vertraut.
Als er sich gefasst hatte, füllte er zwei Gläser mit Champagner und bahnte sich damit einen Weg durch das Gewühl.
"Ich heisse Lars Westphal. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?"
Sie nahm das Glas, bedankte sich und stellte sich ebenfalls vor: "Ich heisse Gesa Angermann." Ihre Stimme war wie Samt und Seide.
"Wo haben Sie sich bloss die ganze Zeit versteckt?" fragte er.
Sie lachte: "In der Küche. Ich habe Sigrid geholfen."
Dann wurde sie wieder ernst, stellte ihr Glas ab und sagte leise: "Es tut mir leid, aber ich möchte jetzt gehen."
Als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie erklärend hinzu: "Ich bin nur gekommen, weil Patrick und Sigrid derart darauf bestanden haben."
"Darf ich Sie wenigstens nach Hause bringen?"
Sie sah ihn an und nickte dann: "Gern. Mein Auto ist nämlich in der Werkstatt." Sie war mit einem Taxi gekommen.
Schweigend ging sie neben ihm her bis zum Wagen.
Zehn Minuten später hielten sie vor einem Apartementhaus. Ehe er ihr helfen konnte, war sie schon ausgestiegen und lächelte ihm ein letztes Mal zu: "Gute Nacht, Lars, und vielen Dank für's Bringen!"
Enttäuscht liess er den Motor an und fuhr los.
_ _ _
"Du hast dich ja früh aus dem Staub gemacht", sagte Patrick vorwurfsvoll, als Lars am Montag Morgen im Büro den Computerraum betrat.
"Wer ist Gesa Angermann?" fragte er.
Patrick warf seinem Freund und Kollegen einen prüfenden Blick zu: "Gesa ist eine gute Freundin von Sigrid. Sie wird nächsten Monat nach Amerika gehen."
"Nach Amerika?" Verzweiflung stieg in Lars auf.
_ _ _
"Oh", sagte Gesa, als sie öffnete: "Sie sind es, Lars? Guten Morgen."
"Guten Morgen, Gesa. Ich kam zufällig vorbei", log er.
Sie sah ihn an und lächelte: "Wo Sie nun schon mal hier sind, könnten Sie mich vielleicht zum Supermarkt fahren?"
Noch nie hatte ihm das Einkaufen so viel Spass gemacht. Als sie die Tüten im Kofferraum verstaut hatten, entschuldigte sie sich: "Ich halte Sie auf. Sie haben sicher noch nicht zu Mittag gegessen?"
"Wie wär's, wenn wir da drüben etwas essen würden?" schlug er sofort vor.
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: "Stimmt es, dass Sie nach Amerika gehen, Gesa?"
Sie hob sie Augenbrauen: "Wer hat Ihnen das gesagt?"
"Patrick. Ich habe ihn gefragt, weil ich mehr über Sie wissen wollte", antwortete er ehrlich.
"Ja, es stimmt. In drei Wochen trete ich in San Francisco meine neue Stelle an."
"Bitte, erzählen Sie mir mehr über sich."
"Sie können gern meinen Steckbrief haben: Geboren bin ich vor 28 Jahren in dieser Stadt. Ich unterrichte Deutsch und Englisch an einem Gymnasium. In San Francisco werde ich ebenfalls unterrichten. An einer Privatschule."
"Und wie lange bleiben Sie dort?" fragte er angespannt.
"Ich hoffe, für immer."
"Für immer?" wiederholte er fassungslos. "Aber warum?"
Ihr Blick verdunkelte sich, und sie seufzte: "Das ist eine traurige Geschichte."
"Wo ist der Kerl, damit ich ihm meine Meinung sage?"
Traurig lächelnd schüttelte sie den Kopf: "Das wird nicht möglich sein. Er fährt Motorrad - im Paradis der Motorradfahrer. Falls es so etwas gibt."
"Und wie ist das passiert?"
"Regen. Eine unübersichtliche Kurve. Ein Auto, das mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkam. Einen Monat vor unserer Hochzeit. Es ist jetzt 18 Monate her."
"Das tut mir leid", sagte er und wusste nicht mehr weiter.
"Vielleicht könnten wir jetzt mal von Ihnen sprechen?"
Er räusperte seine Stimme frei: "Geboren vor 32 Jahren in Kiel. Nach dem Abi Studium der Betriebswissenschaft. Danach hat's mich in diese Stadt verschlagen. Ich arbeite in einer Bank."
Sie hatten ihre Mahlzeit beendet. Gesa stand auf und bat: "Könnten wir wohl fahren?"
_ _ _
Gesa bereitete die letzte Unterrichtsstunde vor. In zwei Wochen würde sie in San Francisco sein. Würde dort ein neues Leben anfangen, fern von den Erinnerungen. Das Telefon klingelte. Sie hob ab und meldete sich.
"Hier ist Lars", kam es aus dem Hörer. "Kennen Sie Paris?"
"Nein", antwortete sie wahrheitsgemäss. "Leider nicht."
"Ich habe in einem Preisausschreiben eine Wochenendreise nach Paris gewonnen. Ich lade Sie ein, Gesa. Hinflug am Freitag Abend, Rückflug am Montag Morgen."
Sie überlegte. Irgendwie glaubte sie nicht, dass er die Reise gewonnen hatte, stellte aber fest, dass sie sich freuen würde, dieses letzte Wochenende nicht allein verbringen zu müssen.
"Also gut", sagte sie kurz entschlossen. "Ich komme mit."
_ _ _
Paris. Brausender Verkehr, hastende Menschen, Clochards. Schmutz in den Rinnsteinen. Aber auch prächtige Strassen und Plätze. Herrliche Architektur. Farbenfrohe Märkte.
Als Lars am ersten Abend auf einer Seinebrücke den Arm um Gesas Schultern legte und ihr den im Abendrot verglühenden Himmel zeigte, stand plötzlich ihr Körper lichterloh in Flammen. War es der Zauber von Paris? Aber warum, beschloss sie spontan, als er sie küsste und sie seinen Kuss erwiderte, warum sollte ihr letztes Wochenende in Europa nicht zu einem Fest werden?
Nach der ersten gemeinsamen Nacht wusste sie, dass sie diese Paris-Reise nie vergessen würde, dass es sich mit dieser Erinnerung aber leben liess. Während der zweiten Nacht wünschte sie schon, dass diese Reise nie ein Ende nehmen würde, und am Montag, als sie im Taxi zum Flughafen fuhren, wusste sie, dass der Abschied von Lars ungeheuer weh tun würde.
Während des ganzen Rückflugs umschloss Lars' Hand die ihre, und sie dachte, dass sie sich nie auf diese Reise hätte einlassen dürfen. Wie würde sie bloss die nächste Zeit überstehen? Und Lars war so schweigsam. Woran dachte er?
Er brachte sie nach Hause. Sie standen voreinander, und er nahm sie ein letztes Mal in die Arme: "Adieu, Gesa. Viel Glück in Amerika", sagte er leise.
_ _ _
Als Gesa San Francisco aus der Luft entdeckte, hatte sich der Morgennebel schon gehoben, und die Bucht glitzerte in der Sonne. Ein grandioses Schauspiel, das sie aber nicht wirklich in sich aufnehmen konnte. Sie war erschöpft vom langen Flug, und vor allem, vor allem, hatte sie Liebeskummer.
Nach dem Wochenende in Paris hatte sie nichts mehr von Lars gehört, und sie hatte tapfer dem Wunsch widerstanden, ihn anzurufen. Es war zu Ende. Daran liess sich nichts ändern. Wahrscheinlich war auch Lars zu dem Schluss gekommen, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte. Ein ganzer Ozean würde künftig zwischen ihnen liegen. Und wer wusste denn schon, ob sie wirklich zueinander passten? Sie kannten sich doch noch nicht lange genug!
Das Flugzeug setzte auf der Rollbahn auf.
Als Gesa mit gesenktem Kopf durch die Sperre kam, sagte eine wohlbekannte Stimme: "Guten Morgen, Gesa."
Ungläubig sah sie auf - in Lars' graue Augen. Sie glaubte, das Opfer einer Halluzination zu sein.
Er lachte, und dieses jungenhafte Lachen konnte wirklich nur Lars gehören. Schon schlossen sich seine Arme um sie, und er fragte besorgt: "Ich habe dich doch nicht erschreckt? Es sollte eine Überraschung sein. Eine gute, hoffe ich. Nun sag doch endlich etwas!"
"Lars", stammelte Gesa und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte: "Lars, was machst du denn hier?"
"Diese Frage verdient es, ausführlich beantwortet zu werden", lächelte er zärtlich. "Ich schlage vor, wir holen dein Gepäck und essen dann hier im Flughafen-Restaurant zu Mittag."
_ _ _
"Es war Sigrid, die mir verraten hat, wann du ankommst", erzählte er, während der Ober das riesige Steak vor sie hinstellte. "Ich bin schon seit drei Tagen hier. Ich werde ein halbes Jahr in unserer amerikanischen Niederlassung von San Francisco arbeiten. Ob ich länger bleibe, hängt von dir ab." Erwartungsvoll sah er sie an.
Sie konnte es immer noch nicht fassen: "Wie hast du das fertiggebracht, Lars? In dieser kurzen Zeit?"
"Heisst es nicht, Liebe könne Berge versetzen? Es war ein Glück, dass ich ein gültiges Visum hatte, dann haben eine Verhandlung mit Big Boss und ein paar Telefongespräche über den grossen Teich genügt, um alles in die Wege zu leiten."
Er sah ihr tief in die Augen und sagte mit vor Bewegung heiserer Stimme: "Gesa, ich liebe dich. Ich kann nicht ohne dich leben. Sag mir, willst du mich?"
"Ja Lars, ich will dich", erwiderte sie mit ihrer schönsten Samtstimme. "Ich liebe dich ja auch. Das ist mir auf dem Flug hierher endgültig klargeworden."
"Ich warne dich, Liebste", sagte er ernst. "Du wirst mich nicht mehr los!"
"Ich möchte dich auch nie mehr loswerden. Lass es dir nie in den Sinn kommen, mich zu verlassen, auf welche Art auch immer." Sie schluckte und fügte hinzu: "Ich könnte mir jetzt sogar vorstellen, eines Tages wieder nach Deutschland zurückzugehen. Mit dir."
Er lächelte ihr zu: "Glaubst du, dass bis dahin eine Dreizimmerwohnung in einem guten Wohnviertel von San Francisco, in der Nähe deiner Schule und meiner Bank, für uns das Passende ist?"
Eine Stunde später schloss er die Tür auf und trug Gesa über die Schwelle. "Es ist die verkehrte Reihenfolge", entschuldigte er sich, "aber die Hochzeit wird so schnell wie möglich nachgeholt!"
"Vorher musst du mir aber noch eine Frage beantworten: Hattest du die Paris-Reise wirklich in einem Preisausschreiben gewonnen?"
"Manchmal muss man dem Glück ein wenig nachhelfen", lachte er und verschloss ihre Lippen mit einem Kuss.
ENDE
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Lars Westphal stand neben der weit geöffneten Flügeltür des Wohnzimmers. Die Hauseinweihungs-Party von Patrick und Sigrid schlug hohe Wellen. Ein gutbestücktes Buffet, Getränke aller Art. Musik, die in die Glieder fuhr: Alle Zutaten eines Erfolgsrezeptes waren vorhanden. Nur bei ihm wirkte es nicht.
Er überlegte noch, ob er sich nicht diskret von seinen Gastgebern verabschieden sollte, als er die junge Frau bemerkte, die nicht weit von ihm entfernt gedankenverloren in den Garten hinaussah. Ihm war, als sei ihm alles an dieser Frau seit jeher vertraut.
Als er sich gefasst hatte, füllte er zwei Gläser mit Champagner und bahnte sich damit einen Weg durch das Gewühl.
"Ich heisse Lars Westphal. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?"
Sie nahm das Glas, bedankte sich und stellte sich ebenfalls vor: "Ich heisse Gesa Angermann." Ihre Stimme war wie Samt und Seide.
"Wo haben Sie sich bloss die ganze Zeit versteckt?" fragte er.
Sie lachte: "In der Küche. Ich habe Sigrid geholfen."
Dann wurde sie wieder ernst, stellte ihr Glas ab und sagte leise: "Es tut mir leid, aber ich möchte jetzt gehen."
Als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie erklärend hinzu: "Ich bin nur gekommen, weil Patrick und Sigrid derart darauf bestanden haben."
"Darf ich Sie wenigstens nach Hause bringen?"
Sie sah ihn an und nickte dann: "Gern. Mein Auto ist nämlich in der Werkstatt." Sie war mit einem Taxi gekommen.
Schweigend ging sie neben ihm her bis zum Wagen.
Zehn Minuten später hielten sie vor einem Apartementhaus. Ehe er ihr helfen konnte, war sie schon ausgestiegen und lächelte ihm ein letztes Mal zu: "Gute Nacht, Lars, und vielen Dank für's Bringen!"
Enttäuscht liess er den Motor an und fuhr los.
_ _ _
"Du hast dich ja früh aus dem Staub gemacht", sagte Patrick vorwurfsvoll, als Lars am Montag Morgen im Büro den Computerraum betrat.
"Wer ist Gesa Angermann?" fragte er.
Patrick warf seinem Freund und Kollegen einen prüfenden Blick zu: "Gesa ist eine gute Freundin von Sigrid. Sie wird nächsten Monat nach Amerika gehen."
"Nach Amerika?" Verzweiflung stieg in Lars auf.
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"Oh", sagte Gesa, als sie öffnete: "Sie sind es, Lars? Guten Morgen."
"Guten Morgen, Gesa. Ich kam zufällig vorbei", log er.
Sie sah ihn an und lächelte: "Wo Sie nun schon mal hier sind, könnten Sie mich vielleicht zum Supermarkt fahren?"
Noch nie hatte ihm das Einkaufen so viel Spass gemacht. Als sie die Tüten im Kofferraum verstaut hatten, entschuldigte sie sich: "Ich halte Sie auf. Sie haben sicher noch nicht zu Mittag gegessen?"
"Wie wär's, wenn wir da drüben etwas essen würden?" schlug er sofort vor.
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: "Stimmt es, dass Sie nach Amerika gehen, Gesa?"
Sie hob sie Augenbrauen: "Wer hat Ihnen das gesagt?"
"Patrick. Ich habe ihn gefragt, weil ich mehr über Sie wissen wollte", antwortete er ehrlich.
"Ja, es stimmt. In drei Wochen trete ich in San Francisco meine neue Stelle an."
"Bitte, erzählen Sie mir mehr über sich."
"Sie können gern meinen Steckbrief haben: Geboren bin ich vor 28 Jahren in dieser Stadt. Ich unterrichte Deutsch und Englisch an einem Gymnasium. In San Francisco werde ich ebenfalls unterrichten. An einer Privatschule."
"Und wie lange bleiben Sie dort?" fragte er angespannt.
"Ich hoffe, für immer."
"Für immer?" wiederholte er fassungslos. "Aber warum?"
Ihr Blick verdunkelte sich, und sie seufzte: "Das ist eine traurige Geschichte."
"Wo ist der Kerl, damit ich ihm meine Meinung sage?"
Traurig lächelnd schüttelte sie den Kopf: "Das wird nicht möglich sein. Er fährt Motorrad - im Paradis der Motorradfahrer. Falls es so etwas gibt."
"Und wie ist das passiert?"
"Regen. Eine unübersichtliche Kurve. Ein Auto, das mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkam. Einen Monat vor unserer Hochzeit. Es ist jetzt 18 Monate her."
"Das tut mir leid", sagte er und wusste nicht mehr weiter.
"Vielleicht könnten wir jetzt mal von Ihnen sprechen?"
Er räusperte seine Stimme frei: "Geboren vor 32 Jahren in Kiel. Nach dem Abi Studium der Betriebswissenschaft. Danach hat's mich in diese Stadt verschlagen. Ich arbeite in einer Bank."
Sie hatten ihre Mahlzeit beendet. Gesa stand auf und bat: "Könnten wir wohl fahren?"
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Gesa bereitete die letzte Unterrichtsstunde vor. In zwei Wochen würde sie in San Francisco sein. Würde dort ein neues Leben anfangen, fern von den Erinnerungen. Das Telefon klingelte. Sie hob ab und meldete sich.
"Hier ist Lars", kam es aus dem Hörer. "Kennen Sie Paris?"
"Nein", antwortete sie wahrheitsgemäss. "Leider nicht."
"Ich habe in einem Preisausschreiben eine Wochenendreise nach Paris gewonnen. Ich lade Sie ein, Gesa. Hinflug am Freitag Abend, Rückflug am Montag Morgen."
Sie überlegte. Irgendwie glaubte sie nicht, dass er die Reise gewonnen hatte, stellte aber fest, dass sie sich freuen würde, dieses letzte Wochenende nicht allein verbringen zu müssen.
"Also gut", sagte sie kurz entschlossen. "Ich komme mit."
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Paris. Brausender Verkehr, hastende Menschen, Clochards. Schmutz in den Rinnsteinen. Aber auch prächtige Strassen und Plätze. Herrliche Architektur. Farbenfrohe Märkte.
Als Lars am ersten Abend auf einer Seinebrücke den Arm um Gesas Schultern legte und ihr den im Abendrot verglühenden Himmel zeigte, stand plötzlich ihr Körper lichterloh in Flammen. War es der Zauber von Paris? Aber warum, beschloss sie spontan, als er sie küsste und sie seinen Kuss erwiderte, warum sollte ihr letztes Wochenende in Europa nicht zu einem Fest werden?
Nach der ersten gemeinsamen Nacht wusste sie, dass sie diese Paris-Reise nie vergessen würde, dass es sich mit dieser Erinnerung aber leben liess. Während der zweiten Nacht wünschte sie schon, dass diese Reise nie ein Ende nehmen würde, und am Montag, als sie im Taxi zum Flughafen fuhren, wusste sie, dass der Abschied von Lars ungeheuer weh tun würde.
Während des ganzen Rückflugs umschloss Lars' Hand die ihre, und sie dachte, dass sie sich nie auf diese Reise hätte einlassen dürfen. Wie würde sie bloss die nächste Zeit überstehen? Und Lars war so schweigsam. Woran dachte er?
Er brachte sie nach Hause. Sie standen voreinander, und er nahm sie ein letztes Mal in die Arme: "Adieu, Gesa. Viel Glück in Amerika", sagte er leise.
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Als Gesa San Francisco aus der Luft entdeckte, hatte sich der Morgennebel schon gehoben, und die Bucht glitzerte in der Sonne. Ein grandioses Schauspiel, das sie aber nicht wirklich in sich aufnehmen konnte. Sie war erschöpft vom langen Flug, und vor allem, vor allem, hatte sie Liebeskummer.
Nach dem Wochenende in Paris hatte sie nichts mehr von Lars gehört, und sie hatte tapfer dem Wunsch widerstanden, ihn anzurufen. Es war zu Ende. Daran liess sich nichts ändern. Wahrscheinlich war auch Lars zu dem Schluss gekommen, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte. Ein ganzer Ozean würde künftig zwischen ihnen liegen. Und wer wusste denn schon, ob sie wirklich zueinander passten? Sie kannten sich doch noch nicht lange genug!
Das Flugzeug setzte auf der Rollbahn auf.
Als Gesa mit gesenktem Kopf durch die Sperre kam, sagte eine wohlbekannte Stimme: "Guten Morgen, Gesa."
Ungläubig sah sie auf - in Lars' graue Augen. Sie glaubte, das Opfer einer Halluzination zu sein.
Er lachte, und dieses jungenhafte Lachen konnte wirklich nur Lars gehören. Schon schlossen sich seine Arme um sie, und er fragte besorgt: "Ich habe dich doch nicht erschreckt? Es sollte eine Überraschung sein. Eine gute, hoffe ich. Nun sag doch endlich etwas!"
"Lars", stammelte Gesa und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte: "Lars, was machst du denn hier?"
"Diese Frage verdient es, ausführlich beantwortet zu werden", lächelte er zärtlich. "Ich schlage vor, wir holen dein Gepäck und essen dann hier im Flughafen-Restaurant zu Mittag."
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"Es war Sigrid, die mir verraten hat, wann du ankommst", erzählte er, während der Ober das riesige Steak vor sie hinstellte. "Ich bin schon seit drei Tagen hier. Ich werde ein halbes Jahr in unserer amerikanischen Niederlassung von San Francisco arbeiten. Ob ich länger bleibe, hängt von dir ab." Erwartungsvoll sah er sie an.
Sie konnte es immer noch nicht fassen: "Wie hast du das fertiggebracht, Lars? In dieser kurzen Zeit?"
"Heisst es nicht, Liebe könne Berge versetzen? Es war ein Glück, dass ich ein gültiges Visum hatte, dann haben eine Verhandlung mit Big Boss und ein paar Telefongespräche über den grossen Teich genügt, um alles in die Wege zu leiten."
Er sah ihr tief in die Augen und sagte mit vor Bewegung heiserer Stimme: "Gesa, ich liebe dich. Ich kann nicht ohne dich leben. Sag mir, willst du mich?"
"Ja Lars, ich will dich", erwiderte sie mit ihrer schönsten Samtstimme. "Ich liebe dich ja auch. Das ist mir auf dem Flug hierher endgültig klargeworden."
"Ich warne dich, Liebste", sagte er ernst. "Du wirst mich nicht mehr los!"
"Ich möchte dich auch nie mehr loswerden. Lass es dir nie in den Sinn kommen, mich zu verlassen, auf welche Art auch immer." Sie schluckte und fügte hinzu: "Ich könnte mir jetzt sogar vorstellen, eines Tages wieder nach Deutschland zurückzugehen. Mit dir."
Er lächelte ihr zu: "Glaubst du, dass bis dahin eine Dreizimmerwohnung in einem guten Wohnviertel von San Francisco, in der Nähe deiner Schule und meiner Bank, für uns das Passende ist?"
Eine Stunde später schloss er die Tür auf und trug Gesa über die Schwelle. "Es ist die verkehrte Reihenfolge", entschuldigte er sich, "aber die Hochzeit wird so schnell wie möglich nachgeholt!"
"Vorher musst du mir aber noch eine Frage beantworten: Hattest du die Paris-Reise wirklich in einem Preisausschreiben gewonnen?"
"Manchmal muss man dem Glück ein wenig nachhelfen", lachte er und verschloss ihre Lippen mit einem Kuss.
ENDE
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Sonntag, 21. April 2013
Mutter kommt zu Besuch
hillebel, 12:19h
Der junge Jurastudent Steffen ist unsterblich in die hübsche Claudia verliebt. Doch er hat keinen Mut, ihr seine Liebe zu gestehen, denn er ist arm. Claudia dagegen hat reiche Eltern ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Es klopfte leise.
"Die Tür ist offen", rief Steffen.
Claudia schlängelte sich herein. "Ich weiss, es ist spät", entschuldigte sie sich, "aber ich sah noch Licht bei dir ...", sie lächelte.
Wie immer, wenn Steffen die junge Studentin sah, gab es ihm einen schmerzlichen Stich. Wie hübsch Claudia war! Sie trug ein weisses Sommerkleid, geschmückt mit einem aparten Gürtel, dazu hochhackige Abendsandaletten. Ihre gebräunten Schultern waren frei, und ihr langes, dunkles Haar fiel glatt auf den Rücken. Steffen liebte Claudia, aber es war eine schmerzliche, heimliche Liebe. Unwillkürlich biss er die Zähne aufeinander.
"Du arbeitest?" zögerte sie.
Er schob seine Notizen beiseite: "Es war nur ein Fallbeispiel, um nicht aus der Übung zu kommen", erklärte er. Steffen studierte Jura. Nächstes Jahr würde er sein Referendar-Examen machen.
Claudia schob beide Hände unter ihre dunkle Haarmasse im Nacken: "Puh, ist das heiss", stöhnte sie.
Rasch sprang er auf und schob ihr den Stuhl hin: "Setz dich doch! Möchtest du etwas trinken?"
"Hast du ein Glas Wasser?"
Er nahm die Flasche Mineralwasser vom Bord und füllte ein Glas: "Sie ist nicht kaltgestellt", bedauerte er.
"Du brauchst dich nicht immer zu entschuldigen, ich weiss, dass du im Augenblick keinen Kühlschrank hast", lächelte sie und trank.
"Ich brauchte einen neuen Computer. Bis ich ihn abgestottert habe, muss ich halt ohne Kühlschrank auskommen." Steffen konnte die Augen nicht von ihr abwenden, schliesslich brachte er mühsam heraus: "Warst du mit ihm aus?"
Sie setzte das Glas ab und nickte: "Ja, ich war mit Eberhard aus."
"Warum tust du das?" brach es aus ihm heraus. "Du bist viel zu schade für einen solchen Mann. Der Reichelt ist verheiratet, und er ist zwanzig Jahre älter als du!"
"Ich weiss", seufzte Claudia. "Fang doch bitte nicht immer wieder davon an!"
Aber er konnte nicht aufhören: "Was sagt denn überhaupt seine Frau dazu?"
"Die Ehe besteht seit Jahren nur noch auf dem Papier. Sie bleiben nur der Kinder wegen zusammen."
"Das sagen alle verheiratete Männer", stiess er verächtlich hervor.
Sie sprang so heftig auf, dass der Stuhl fast umfiel: "Warum kritisierst du ständig an Eberhard und mir herum? Ich gehe wohl besser. Gute Nacht, Steffen." Ihre Augen funkelten. Vor Zorn? Vor Tränen?
Jetzt hätte Steffen sich am liebsten noch nachträglich die Zunge abgebissen. Er hatte wieder einmal alles falsch gemacht. Claudia hatte so glücklich ausgesehen, als sie kam. Er hatte alles verdorben ...
"Warte, ich bringe dich wenigstens hinunter", schlug er reumütig vor. Claudia lebte eine Etage tiefer in einer komfortablen Zweizimmerwohnung, er hier oben in einem Dachstübchen, für das er gerade die Miete aufbringen konnte.
Aber Claudia hatte schon die Beleuchtung im Treppenhaus eingeschaltet und lief die Stufen hinunter. Einen Augenblick später hörte er ihre Tür klappen.
Langsam ging er in sein Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er dachte daran, dass Claudias Vater ein erfolgreicher Unternehmer war. Er hatte Geld. Auch dieser fiese Eberhard Reichelt hatte Geld. Er lud Claudia in teure Restaurants ein. Manchmal flogen sie für ein Wochenende nach Paris oder Rom, neulich war es sogar eine Woche New-York gewesen! Und seine Frau? War er ihr wirklich so gleichgültig, wie er Claudia gegenüber vorgab? Er würde diesem Kerl mit Vergnügen den Hals umdrehen. Aber was dann?
Gequält stöhnte er auf. Nie würde er es wagen, Claudia seine Liebe zu gestehen. Sie würde ihn auch gar nicht wollen. Er konnte ihr nichts bieten. Und es würde noch ein paar Jahre dauern, ehe er sein Studium beendet haben und endlich richtig Geld verdienen würde. Seine Mutter war Krankenschwester in einem Dorf in der Lüneburger Heide. Sein Vater, ein junger Anwalt, war tödlich mit dem Wagen verunglückt, als er, Steffen, vier Jahre alt war. Seine Mutter und er hatten nie mehr als ihr Auskommen gehabt, und für ihn war es eine Ehrenfrage, ihr nicht mehr als unbedingt nötig auf der Tasche zu liegen.
In der Zeit liess Claudia unten ihren Tränen freien Lauf. Sie hasste ihn. Sie hasste diesen Steffen Overbeck. Warum war sie bloss zu ihm raufgegangen? Sie hätte sich denken können, dass er ihr wieder eine seiner Moralpredigten halten würde. Und doch ging ihr Steffens gut geschnittenes Gesicht mit den ersten grauen Augen und dem sensiblen Mund nicht aus dem Sinn. Es war wie verhext! Sie bewunderte ihn. Er hatte es so viel schwerer als als sie zu studieren. Er nahm alle möglichen Jobs an, um etwas Geld dazuzuverdienen, und trotzdem hatte er ausgezeichnete Noten. Den ganzen Sommer hatte er gearbeitet, während sie den Tag damit verbrachte, auf einen Anruf von Eberhard zu warten. Heute hatte er endlich Zeit gehabt für sie, und er hatte ihr versprochen, sie demnächst nach Kalifornien mitzunehmen. Es waren keine Ferien für ihn, er hatte dort geschäftlich zu tun, aber sie hatte sich so gefreut! Im Überschwang ihres Glücks hatte sie Steffen davon erzählen wollen. Welch ein Irrtum! Steffen, der so hilfsbereit sein konnte, so verständnisvoll und einfühlsam, flippte förmlich aus, wenn es um Eberhard Reichelt ging. Als ob er ihr diese Liebe nicht gönnte ...
_ _ _
Steffen war davon überzeugt, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, als es schon wieder klopfte.
Er öffnete die Augen und sah auf die Uhr. Es war neun. Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein. Er schlug die Decke zurück, zog das Band um seine Pyjamahose enger und öffnete die Tür.
"Mutti!" rief er überrascht.
Anne Overbeck sah ihren Sohn lächelnd an: "Wenn du nicht den Weg zu mir findest, muss ich eben zu dir kommen. Unser neuer Nachbar, du weisst doch, der Schriftsteller Rafael Mehrtens, hat heute in Hamburg zu tun. Er hat mich netterweise mitgenommen. Ich hoffe, ich störe dich nicht?"
"Natürlich störst du nicht, im Gegenteil. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich so wenig von mir hab hören lassen. Komm rein, Mutti. Und entschuldige die Unordnung, ich komme gerade aus dem Bett."
"Das sehe ich", lachte sie. "Bist du spät schlafen gegangen?"
"Ich habe gearbeitet."
"War es wirklich nur Arbeit?" wagte Anne einen Vorstoss. Sie fand, dass der Junge fiel zu ernst war für sein Alter. Dabei sah er so gut aus. Er wurde seinem Vater immer ähnlicher.
Eine flüchtige Röte überflog Steffens Gesicht: "Ach, eine Hausbewohnerin, die unter mir wohnt, war auch da. Claudia studiert Sprachen, und sie bleibt den Sommer über in Hamburg."
"Und da leistest du ihr Gesellschaft?" neckte sie ihn.
Sofort verschloss sich sein Gesicht: "Zieh jetzt bloss keine falschen Schlüsse. Claudia hat einen Freund."
Das hatte so abweisend geklungen, dass Anne keine weiteren Fragen stellen mochte. Aber sie dachte sich ihr Teil. Vielleicht bestand trotz allem ein Zusammenhang zwischen dieser Claudia und der Tatsache, dass Steffen sich so rar machte?
Mittags lud Anne ihren Sohn in ein hübsches kleines Restaurant an der Alster ein. Anschliessend gingen sie spazieren. Sie hatten sich viel zu erzählen, aber Anne spürte, dass Steffen oft mit seinen Gedanken ganz woanders war.
Plötzlich sah er auf die Uhr und rief erschrocken aus: "Ach je, ich muss los. Weisst du, ich begleite jeden Donnerstag Nachmittag eine alte Dame zu einer ambulanten Behandlung ins Krankenhaus. Das ist einer meiner Jobs. In etwa zwei Stunden bin ich zurück, aber was machst du in der Zeit?"
"Kein Problem, ich mache noch schnell einige Besorgungen und gehe dann zu dir. Gib mir nur den Schlüssel, damit ich hereinkomme. Ich denke, wir sehen uns noch, ehe Rafael Mehrtens mich abholt."
Anne sass am Schreibtisch ihres Sohnes. Die Bücher, die Hefte und Notizen beeindruckten sie, aber es bekümmerte sie ein wenig, dass bei Steffen das Leben über all der Arbeit zu kurz zu kommen schien.
Es klopfte, und sie erhob sich und ging zur Tür. Ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt sah sie verwirrt an: "Ich dachte ... ich meine ... ist Steffen wohl da?"
"Er muss eine alte Dame ins Krankenhaus begleiten. Ich bin Anne Overbeck, Steffens Mutter."
"Ach, natürlich, heute ist ja Donnerstag, ich hatte das völlig vergessen. Entschuldigen Sie die Störung, ich komme dann später wieder." Aber das Mädchen machte keine Anstalten zu gehen. Plötzlich zitterte es am ganzen Körper, und Anne sah erschrocken, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Kurz entschlossen legte sie den Arm um die schmalen, zuckenden Schultern des Mädchens und zog es ins Zimmer: "Setzen Sie sich erst einmal. Möchten Sie etwas trinken?" Leise schloss sie die Tür.
"Gern. Ein Glas Wasser. Die Flasche steht auf dem Bord. Warten Sie, ich helfe Ihnen ..."
Aber Anne hatte schon alles gefunden und reichte ihr das gefüllte Glas. "Ganz langsam trinken", forderte sie das Mädchen auf.
"Sind Sie vielleicht Claudia?" fragte sie, als das Mädchen etwas ruhiger geworden war.
"Oh, entschuldigen Sie, ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Ja, ich bin Claudia Lenz. Hat ... hat Steffen Ihnen etwas von mir erzählt?"
Anne nickte ernsthaft.
"Dann ... wissen Sie vielleicht auch, dass ich einen Freund habe?"
Wieder nickte Anne. Und wartete. Ihre Geduld wurde belohnt. Claudia stellte das leere Glas auf den Schreibtisch und fuhr fort, ohne Anne anzusehen: "Er ist verheiratet. Steffen hat mir deshalb immer Vorhaltungen gemacht. Wir haben uns gerade gestern wieder deswegen gestritten. Aber als ich vor zwei Jahren nach Hamburg kam, fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich habe mich eigentlich mein ganzes Leben lang allein gefühlt. Meine Mutter hat meinen Vater und mich verlassen, als ich noch ein Baby war. Und Vati ... nun ja, er hatte seine Arbeit. An Geld hat es mir nie gefehlt, das nicht. Da war Vati immer sehr grosszügig. Aber mir wäre lieber gewesen, wenn er Zeit für mich gehabt hätte. Hier lernte ich also Eberhard kennen. Er hat mir nicht sofort gesagt, dass er verheiratet ist, und später sagte er immer betont, dass seine Frau und er nur nebeneinanderher lebten. Und jetzt ... " Sie stockte, biss sich auf die Lippen. Ihre Augen standen wieder voller Tränen.
Anne reichte ihr ein sauberes Taschentuch und sagte behutsam: "Sprechen Sie nur weiter. Es wird Ihnen gut tun."
Claudia fing sich wieder. Sie putzte sich die Nase und fuhr fort: "Ich bin ihnen vorhin in der Stadt begegnet. Eberhard und seiner Frau. Er hat den Kopf weggedreht, und ich habe gesehen, dass seine Frau ein Baby erwartet. All diese Lügen ... ich schäme mich so ..."
"Was werden Sie jetzt tun?" fragte Anne erschüttert.
"Ich habe es schon getan. Ich habe ihm ein SMS geschickt, dass alles aus sei zwischen uns. Jetzt weiss ich, dass ich auf Steffen hätte hören sollen ..."
"Steffen sagte mir, dass Sie den ganzen Sommer in Hamburg bleiben?"
"Ja, und jetzt noch mehr als vorher." Sie dachte daran, dass sie Eberhard nicht mehr sehen, ihn auch nicht nach Kalifornien begleiten würde und fügte hinzu: "Und wo sollte ich auch hin?"
"Besuchen Sie nicht einmal Ihren Vater?"
"Ach, Vati. Er hat eine neue Freundin. Sie ist nicht älter als ich. Sie machen Ferien in der Karibik. Natürlich können sie mich nicht dabei brauchen."
Armes, reiches Mädchen, dachte Anne mitleidig.
Claudia sah sie jetzt an: "Verurteilen Sie mich jetzt? Ich meine, wegen meiner Freundschaft zu einem verheirateten Mann?"
"Mit welchem Recht würde ich Sie verurteilen?" erwiderte Anne ruhig.
"Steffen verurteilt mich. Und trotzdem: Er ist so anders als alle Jungen, die ich sonst kenne ..."
"Ich lebe in einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide", sagte Anne. "Würde es Ihnen Freude machen, einmal zu kommen? Vielleicht mit Steffen zusammen?"
Diese flüchtige Röte hatte Anne schon an ihrem Sohn gesehen.
"Glauben Sie, dass es Steffen recht wäre?" zögerte Claudia.
"Ich bin mir da ziemlich sicher", lächelte Anne.
_ _ _
"Was hast du getan? Du hast Claudia zu uns eingeladen? Du hättest mich vorher fragen können! Unser kleines Dorf, das kleine Haus. Du bist dir wohl nicht im Klaren darüber ..."
"... dass es bei uns so ärmlich zugeht?" unterbrach ihn Anne.
"Das wollte ich nicht sagen." Steffen war jetzt verlegen.
"Doch, mein Junge, das wolltest du. Natürlich ärmlich im Vergleich zu dem, was Claudia gewohnt ist. Und nun setz dich und höre zu." Resolut drückte sie ihn auf den Stuhl, setzte sich selbst auf das schmale Bett ihres Sohnes, und dann erzählte sie ihm von Claudias Bruch mit Eberhard. Auf Steffens Gesicht spiegelten sich Kummer und Zorn wider, aber auch Erleichterung und ... Liebe.
"Sie hat also endlich den Mut gefunden, Schluss zu machen mit diesem widerlichen Kerl", murmelte er, als Anne geendet hatte.
Sie schmunzelte ein wenig: "Deine Moralvorstellungen in Ehren, aber bist du sicher, dass auf deiner Seite nicht auch ganz unrühmliche Eifersucht im Spiel ist?"
Er schwieg lange, dann sagte er in verändertem Ton: "Sind Mütter immer so klug? Aber was soll's, ich bin ihr doch völlig egal!"
"Warum, glaubst du dann, kommt sie so oft zu dir?"
"Weil sie jemanden braucht, dem sie von diesem Eberhard erzählen kann", erwiderte er heftig.
"Sie hat mir gesagt, dass du ihr ständig Vorhaltungen machtest. Meinst du, das hat ihr Spass gemacht?"
"Es ist ganz zwecklos, darüber zu reden. Ich bin nichts, ich habe nichts. Was kann ich ihr schon bieten?"
"Das wird nicht immer so bleiben, und vielleicht ist ihr das gar nicht so wichtig?"
"Hast du ihre Garderobe gesehen?"
"Eben trug sie Jeans und ein ganz einfaches T-Shirt."
"Aber abends, wenn sie mit diesem Eberhard ausging, da trug sie Kleidung, die mehr kostet, als ich in drei Monaten ausgeben kann."
"Vielleicht hat sie sich auch für dich schön gemacht? Was meinst du, was ich mir für Mühe geben musste, damit dein Vater mich endlich bemerkte!"
Er sah sie ungläubig an: "Du? Aber du bist so hübsch. Und überhaupt ..."
Sie lachte: "Claudia ist auch hübsch, und ich bin sicher, dass sie viele andere Verehrer hat."
Er war aufgestanden und ging unruhig im kleinen Raum auf und ab: "Ich sollte vielleicht nach ihr sehen", meinte er und fügte entschuldigend hinzu: "Sie ist sicher unglücklich."
Sie stand ebenfalls auf: "Ich muss auch gehen. Rafael Mehrtens ist bestimmt schon da!"
_ _ _
Er wartete tatsächlich auf sie. Lächelnd kam er ihr entgegen und schloss sie in die Arme: "Endlich, Liebling. Der Tag war so lang ohne dich. Wie geht es Steffen?"
"Gut. Er wird uns bald besuchen. Mit einer Freundin."
Er schmunzelte: "War sie der Grund seines Fernbleibens?"
Sie nickte und fragte ihrerseits: "Wie war's bei deinem Verleger?"
"Ich habe den Vertrag für mein neues Buch unterschrieben."
"Fein!"
Er hielt ihr die Wagentür auf und setzte sich dann hinter das Steuer: "Hast du Steffen gesagt, dass wir heiraten wollen?"
"Es schien mir nicht der richtige Moment zu sein. Er war heute nicht sehr aufnahmefähig. Ich erzähl's dir noch. Aber ich weiss, dass er dich mag. Ihr kennt euch doch auch schon."
"Flüchtig. Ich segne heute noch meine Grippe vor zwei Monaten, die es mir erlaubte, dir näher zu kommen. Du warst eine hinreissende Krankenpflegerin."
Sie lachte: "Ich verzeihe dir sogar, dass du mich angesteckt hast!"
"Was mir die Gelegenheit gab, wiederum dich gesund zu pflegen. Glaubst du wirklich, dass Steffen mich als Stiefvater akzeptieren wird?"
"Er wird froh sein, dass seine alte Mutter noch einmal unter die Haube kommt!"
"An dem Wort 'alt' nehme ich Anstoss. Ich bekomme eine wunderbar junge Frau."
"Eine junge Frau von 44 Jahren", lächelte sie.
"Die einen ebenso jungen Mann von 47 Jahren heiratet."
"Ende gut, alles gut", seufzte sie glücklich und dachte dabei auch an Steffen und Claudia ...
ENDE
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Es klopfte leise.
"Die Tür ist offen", rief Steffen.
Claudia schlängelte sich herein. "Ich weiss, es ist spät", entschuldigte sie sich, "aber ich sah noch Licht bei dir ...", sie lächelte.
Wie immer, wenn Steffen die junge Studentin sah, gab es ihm einen schmerzlichen Stich. Wie hübsch Claudia war! Sie trug ein weisses Sommerkleid, geschmückt mit einem aparten Gürtel, dazu hochhackige Abendsandaletten. Ihre gebräunten Schultern waren frei, und ihr langes, dunkles Haar fiel glatt auf den Rücken. Steffen liebte Claudia, aber es war eine schmerzliche, heimliche Liebe. Unwillkürlich biss er die Zähne aufeinander.
"Du arbeitest?" zögerte sie.
Er schob seine Notizen beiseite: "Es war nur ein Fallbeispiel, um nicht aus der Übung zu kommen", erklärte er. Steffen studierte Jura. Nächstes Jahr würde er sein Referendar-Examen machen.
Claudia schob beide Hände unter ihre dunkle Haarmasse im Nacken: "Puh, ist das heiss", stöhnte sie.
Rasch sprang er auf und schob ihr den Stuhl hin: "Setz dich doch! Möchtest du etwas trinken?"
"Hast du ein Glas Wasser?"
Er nahm die Flasche Mineralwasser vom Bord und füllte ein Glas: "Sie ist nicht kaltgestellt", bedauerte er.
"Du brauchst dich nicht immer zu entschuldigen, ich weiss, dass du im Augenblick keinen Kühlschrank hast", lächelte sie und trank.
"Ich brauchte einen neuen Computer. Bis ich ihn abgestottert habe, muss ich halt ohne Kühlschrank auskommen." Steffen konnte die Augen nicht von ihr abwenden, schliesslich brachte er mühsam heraus: "Warst du mit ihm aus?"
Sie setzte das Glas ab und nickte: "Ja, ich war mit Eberhard aus."
"Warum tust du das?" brach es aus ihm heraus. "Du bist viel zu schade für einen solchen Mann. Der Reichelt ist verheiratet, und er ist zwanzig Jahre älter als du!"
"Ich weiss", seufzte Claudia. "Fang doch bitte nicht immer wieder davon an!"
Aber er konnte nicht aufhören: "Was sagt denn überhaupt seine Frau dazu?"
"Die Ehe besteht seit Jahren nur noch auf dem Papier. Sie bleiben nur der Kinder wegen zusammen."
"Das sagen alle verheiratete Männer", stiess er verächtlich hervor.
Sie sprang so heftig auf, dass der Stuhl fast umfiel: "Warum kritisierst du ständig an Eberhard und mir herum? Ich gehe wohl besser. Gute Nacht, Steffen." Ihre Augen funkelten. Vor Zorn? Vor Tränen?
Jetzt hätte Steffen sich am liebsten noch nachträglich die Zunge abgebissen. Er hatte wieder einmal alles falsch gemacht. Claudia hatte so glücklich ausgesehen, als sie kam. Er hatte alles verdorben ...
"Warte, ich bringe dich wenigstens hinunter", schlug er reumütig vor. Claudia lebte eine Etage tiefer in einer komfortablen Zweizimmerwohnung, er hier oben in einem Dachstübchen, für das er gerade die Miete aufbringen konnte.
Aber Claudia hatte schon die Beleuchtung im Treppenhaus eingeschaltet und lief die Stufen hinunter. Einen Augenblick später hörte er ihre Tür klappen.
Langsam ging er in sein Zimmer zurück, setzte sich an den Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er dachte daran, dass Claudias Vater ein erfolgreicher Unternehmer war. Er hatte Geld. Auch dieser fiese Eberhard Reichelt hatte Geld. Er lud Claudia in teure Restaurants ein. Manchmal flogen sie für ein Wochenende nach Paris oder Rom, neulich war es sogar eine Woche New-York gewesen! Und seine Frau? War er ihr wirklich so gleichgültig, wie er Claudia gegenüber vorgab? Er würde diesem Kerl mit Vergnügen den Hals umdrehen. Aber was dann?
Gequält stöhnte er auf. Nie würde er es wagen, Claudia seine Liebe zu gestehen. Sie würde ihn auch gar nicht wollen. Er konnte ihr nichts bieten. Und es würde noch ein paar Jahre dauern, ehe er sein Studium beendet haben und endlich richtig Geld verdienen würde. Seine Mutter war Krankenschwester in einem Dorf in der Lüneburger Heide. Sein Vater, ein junger Anwalt, war tödlich mit dem Wagen verunglückt, als er, Steffen, vier Jahre alt war. Seine Mutter und er hatten nie mehr als ihr Auskommen gehabt, und für ihn war es eine Ehrenfrage, ihr nicht mehr als unbedingt nötig auf der Tasche zu liegen.
In der Zeit liess Claudia unten ihren Tränen freien Lauf. Sie hasste ihn. Sie hasste diesen Steffen Overbeck. Warum war sie bloss zu ihm raufgegangen? Sie hätte sich denken können, dass er ihr wieder eine seiner Moralpredigten halten würde. Und doch ging ihr Steffens gut geschnittenes Gesicht mit den ersten grauen Augen und dem sensiblen Mund nicht aus dem Sinn. Es war wie verhext! Sie bewunderte ihn. Er hatte es so viel schwerer als als sie zu studieren. Er nahm alle möglichen Jobs an, um etwas Geld dazuzuverdienen, und trotzdem hatte er ausgezeichnete Noten. Den ganzen Sommer hatte er gearbeitet, während sie den Tag damit verbrachte, auf einen Anruf von Eberhard zu warten. Heute hatte er endlich Zeit gehabt für sie, und er hatte ihr versprochen, sie demnächst nach Kalifornien mitzunehmen. Es waren keine Ferien für ihn, er hatte dort geschäftlich zu tun, aber sie hatte sich so gefreut! Im Überschwang ihres Glücks hatte sie Steffen davon erzählen wollen. Welch ein Irrtum! Steffen, der so hilfsbereit sein konnte, so verständnisvoll und einfühlsam, flippte förmlich aus, wenn es um Eberhard Reichelt ging. Als ob er ihr diese Liebe nicht gönnte ...
_ _ _
Steffen war davon überzeugt, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, als es schon wieder klopfte.
Er öffnete die Augen und sah auf die Uhr. Es war neun. Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein. Er schlug die Decke zurück, zog das Band um seine Pyjamahose enger und öffnete die Tür.
"Mutti!" rief er überrascht.
Anne Overbeck sah ihren Sohn lächelnd an: "Wenn du nicht den Weg zu mir findest, muss ich eben zu dir kommen. Unser neuer Nachbar, du weisst doch, der Schriftsteller Rafael Mehrtens, hat heute in Hamburg zu tun. Er hat mich netterweise mitgenommen. Ich hoffe, ich störe dich nicht?"
"Natürlich störst du nicht, im Gegenteil. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich so wenig von mir hab hören lassen. Komm rein, Mutti. Und entschuldige die Unordnung, ich komme gerade aus dem Bett."
"Das sehe ich", lachte sie. "Bist du spät schlafen gegangen?"
"Ich habe gearbeitet."
"War es wirklich nur Arbeit?" wagte Anne einen Vorstoss. Sie fand, dass der Junge fiel zu ernst war für sein Alter. Dabei sah er so gut aus. Er wurde seinem Vater immer ähnlicher.
Eine flüchtige Röte überflog Steffens Gesicht: "Ach, eine Hausbewohnerin, die unter mir wohnt, war auch da. Claudia studiert Sprachen, und sie bleibt den Sommer über in Hamburg."
"Und da leistest du ihr Gesellschaft?" neckte sie ihn.
Sofort verschloss sich sein Gesicht: "Zieh jetzt bloss keine falschen Schlüsse. Claudia hat einen Freund."
Das hatte so abweisend geklungen, dass Anne keine weiteren Fragen stellen mochte. Aber sie dachte sich ihr Teil. Vielleicht bestand trotz allem ein Zusammenhang zwischen dieser Claudia und der Tatsache, dass Steffen sich so rar machte?
Mittags lud Anne ihren Sohn in ein hübsches kleines Restaurant an der Alster ein. Anschliessend gingen sie spazieren. Sie hatten sich viel zu erzählen, aber Anne spürte, dass Steffen oft mit seinen Gedanken ganz woanders war.
Plötzlich sah er auf die Uhr und rief erschrocken aus: "Ach je, ich muss los. Weisst du, ich begleite jeden Donnerstag Nachmittag eine alte Dame zu einer ambulanten Behandlung ins Krankenhaus. Das ist einer meiner Jobs. In etwa zwei Stunden bin ich zurück, aber was machst du in der Zeit?"
"Kein Problem, ich mache noch schnell einige Besorgungen und gehe dann zu dir. Gib mir nur den Schlüssel, damit ich hereinkomme. Ich denke, wir sehen uns noch, ehe Rafael Mehrtens mich abholt."
Anne sass am Schreibtisch ihres Sohnes. Die Bücher, die Hefte und Notizen beeindruckten sie, aber es bekümmerte sie ein wenig, dass bei Steffen das Leben über all der Arbeit zu kurz zu kommen schien.
Es klopfte, und sie erhob sich und ging zur Tür. Ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt sah sie verwirrt an: "Ich dachte ... ich meine ... ist Steffen wohl da?"
"Er muss eine alte Dame ins Krankenhaus begleiten. Ich bin Anne Overbeck, Steffens Mutter."
"Ach, natürlich, heute ist ja Donnerstag, ich hatte das völlig vergessen. Entschuldigen Sie die Störung, ich komme dann später wieder." Aber das Mädchen machte keine Anstalten zu gehen. Plötzlich zitterte es am ganzen Körper, und Anne sah erschrocken, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Kurz entschlossen legte sie den Arm um die schmalen, zuckenden Schultern des Mädchens und zog es ins Zimmer: "Setzen Sie sich erst einmal. Möchten Sie etwas trinken?" Leise schloss sie die Tür.
"Gern. Ein Glas Wasser. Die Flasche steht auf dem Bord. Warten Sie, ich helfe Ihnen ..."
Aber Anne hatte schon alles gefunden und reichte ihr das gefüllte Glas. "Ganz langsam trinken", forderte sie das Mädchen auf.
"Sind Sie vielleicht Claudia?" fragte sie, als das Mädchen etwas ruhiger geworden war.
"Oh, entschuldigen Sie, ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Ja, ich bin Claudia Lenz. Hat ... hat Steffen Ihnen etwas von mir erzählt?"
Anne nickte ernsthaft.
"Dann ... wissen Sie vielleicht auch, dass ich einen Freund habe?"
Wieder nickte Anne. Und wartete. Ihre Geduld wurde belohnt. Claudia stellte das leere Glas auf den Schreibtisch und fuhr fort, ohne Anne anzusehen: "Er ist verheiratet. Steffen hat mir deshalb immer Vorhaltungen gemacht. Wir haben uns gerade gestern wieder deswegen gestritten. Aber als ich vor zwei Jahren nach Hamburg kam, fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich habe mich eigentlich mein ganzes Leben lang allein gefühlt. Meine Mutter hat meinen Vater und mich verlassen, als ich noch ein Baby war. Und Vati ... nun ja, er hatte seine Arbeit. An Geld hat es mir nie gefehlt, das nicht. Da war Vati immer sehr grosszügig. Aber mir wäre lieber gewesen, wenn er Zeit für mich gehabt hätte. Hier lernte ich also Eberhard kennen. Er hat mir nicht sofort gesagt, dass er verheiratet ist, und später sagte er immer betont, dass seine Frau und er nur nebeneinanderher lebten. Und jetzt ... " Sie stockte, biss sich auf die Lippen. Ihre Augen standen wieder voller Tränen.
Anne reichte ihr ein sauberes Taschentuch und sagte behutsam: "Sprechen Sie nur weiter. Es wird Ihnen gut tun."
Claudia fing sich wieder. Sie putzte sich die Nase und fuhr fort: "Ich bin ihnen vorhin in der Stadt begegnet. Eberhard und seiner Frau. Er hat den Kopf weggedreht, und ich habe gesehen, dass seine Frau ein Baby erwartet. All diese Lügen ... ich schäme mich so ..."
"Was werden Sie jetzt tun?" fragte Anne erschüttert.
"Ich habe es schon getan. Ich habe ihm ein SMS geschickt, dass alles aus sei zwischen uns. Jetzt weiss ich, dass ich auf Steffen hätte hören sollen ..."
"Steffen sagte mir, dass Sie den ganzen Sommer in Hamburg bleiben?"
"Ja, und jetzt noch mehr als vorher." Sie dachte daran, dass sie Eberhard nicht mehr sehen, ihn auch nicht nach Kalifornien begleiten würde und fügte hinzu: "Und wo sollte ich auch hin?"
"Besuchen Sie nicht einmal Ihren Vater?"
"Ach, Vati. Er hat eine neue Freundin. Sie ist nicht älter als ich. Sie machen Ferien in der Karibik. Natürlich können sie mich nicht dabei brauchen."
Armes, reiches Mädchen, dachte Anne mitleidig.
Claudia sah sie jetzt an: "Verurteilen Sie mich jetzt? Ich meine, wegen meiner Freundschaft zu einem verheirateten Mann?"
"Mit welchem Recht würde ich Sie verurteilen?" erwiderte Anne ruhig.
"Steffen verurteilt mich. Und trotzdem: Er ist so anders als alle Jungen, die ich sonst kenne ..."
"Ich lebe in einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide", sagte Anne. "Würde es Ihnen Freude machen, einmal zu kommen? Vielleicht mit Steffen zusammen?"
Diese flüchtige Röte hatte Anne schon an ihrem Sohn gesehen.
"Glauben Sie, dass es Steffen recht wäre?" zögerte Claudia.
"Ich bin mir da ziemlich sicher", lächelte Anne.
_ _ _
"Was hast du getan? Du hast Claudia zu uns eingeladen? Du hättest mich vorher fragen können! Unser kleines Dorf, das kleine Haus. Du bist dir wohl nicht im Klaren darüber ..."
"... dass es bei uns so ärmlich zugeht?" unterbrach ihn Anne.
"Das wollte ich nicht sagen." Steffen war jetzt verlegen.
"Doch, mein Junge, das wolltest du. Natürlich ärmlich im Vergleich zu dem, was Claudia gewohnt ist. Und nun setz dich und höre zu." Resolut drückte sie ihn auf den Stuhl, setzte sich selbst auf das schmale Bett ihres Sohnes, und dann erzählte sie ihm von Claudias Bruch mit Eberhard. Auf Steffens Gesicht spiegelten sich Kummer und Zorn wider, aber auch Erleichterung und ... Liebe.
"Sie hat also endlich den Mut gefunden, Schluss zu machen mit diesem widerlichen Kerl", murmelte er, als Anne geendet hatte.
Sie schmunzelte ein wenig: "Deine Moralvorstellungen in Ehren, aber bist du sicher, dass auf deiner Seite nicht auch ganz unrühmliche Eifersucht im Spiel ist?"
Er schwieg lange, dann sagte er in verändertem Ton: "Sind Mütter immer so klug? Aber was soll's, ich bin ihr doch völlig egal!"
"Warum, glaubst du dann, kommt sie so oft zu dir?"
"Weil sie jemanden braucht, dem sie von diesem Eberhard erzählen kann", erwiderte er heftig.
"Sie hat mir gesagt, dass du ihr ständig Vorhaltungen machtest. Meinst du, das hat ihr Spass gemacht?"
"Es ist ganz zwecklos, darüber zu reden. Ich bin nichts, ich habe nichts. Was kann ich ihr schon bieten?"
"Das wird nicht immer so bleiben, und vielleicht ist ihr das gar nicht so wichtig?"
"Hast du ihre Garderobe gesehen?"
"Eben trug sie Jeans und ein ganz einfaches T-Shirt."
"Aber abends, wenn sie mit diesem Eberhard ausging, da trug sie Kleidung, die mehr kostet, als ich in drei Monaten ausgeben kann."
"Vielleicht hat sie sich auch für dich schön gemacht? Was meinst du, was ich mir für Mühe geben musste, damit dein Vater mich endlich bemerkte!"
Er sah sie ungläubig an: "Du? Aber du bist so hübsch. Und überhaupt ..."
Sie lachte: "Claudia ist auch hübsch, und ich bin sicher, dass sie viele andere Verehrer hat."
Er war aufgestanden und ging unruhig im kleinen Raum auf und ab: "Ich sollte vielleicht nach ihr sehen", meinte er und fügte entschuldigend hinzu: "Sie ist sicher unglücklich."
Sie stand ebenfalls auf: "Ich muss auch gehen. Rafael Mehrtens ist bestimmt schon da!"
_ _ _
Er wartete tatsächlich auf sie. Lächelnd kam er ihr entgegen und schloss sie in die Arme: "Endlich, Liebling. Der Tag war so lang ohne dich. Wie geht es Steffen?"
"Gut. Er wird uns bald besuchen. Mit einer Freundin."
Er schmunzelte: "War sie der Grund seines Fernbleibens?"
Sie nickte und fragte ihrerseits: "Wie war's bei deinem Verleger?"
"Ich habe den Vertrag für mein neues Buch unterschrieben."
"Fein!"
Er hielt ihr die Wagentür auf und setzte sich dann hinter das Steuer: "Hast du Steffen gesagt, dass wir heiraten wollen?"
"Es schien mir nicht der richtige Moment zu sein. Er war heute nicht sehr aufnahmefähig. Ich erzähl's dir noch. Aber ich weiss, dass er dich mag. Ihr kennt euch doch auch schon."
"Flüchtig. Ich segne heute noch meine Grippe vor zwei Monaten, die es mir erlaubte, dir näher zu kommen. Du warst eine hinreissende Krankenpflegerin."
Sie lachte: "Ich verzeihe dir sogar, dass du mich angesteckt hast!"
"Was mir die Gelegenheit gab, wiederum dich gesund zu pflegen. Glaubst du wirklich, dass Steffen mich als Stiefvater akzeptieren wird?"
"Er wird froh sein, dass seine alte Mutter noch einmal unter die Haube kommt!"
"An dem Wort 'alt' nehme ich Anstoss. Ich bekomme eine wunderbar junge Frau."
"Eine junge Frau von 44 Jahren", lächelte sie.
"Die einen ebenso jungen Mann von 47 Jahren heiratet."
"Ende gut, alles gut", seufzte sie glücklich und dachte dabei auch an Steffen und Claudia ...
ENDE
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Mittwoch, 17. April 2013
Inkas Puppenhaus
hillebel, 22:43h
Mit grossem Engagement versucht Inka, den verschuldeten Familienbetrieb zu retten. Ihr Freund Lars zeigt dafür kein Verständnis ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Inka Grothe stand in ihrem alten Parka am Küchentisch und zerteilte ein Hühnchen. Draussen fror es Stein und Bein, und im Haus war es fast genau so kalt gewesen, als sie vorhin aus der Werkstatt herübergekommen war. Die alte Zentralheizung hatte wieder einmal den Geist aufgegeben. Sie hoffte inständig, dass sie noch einmal repariert werden konnte. Woher sollte sie das Geld für eine neue nehmen? Im Grund gehörte das ganze Haus von Grund auf renoviert, aber davon durfte sie nicht einmal träumen ...
Wenn sie wenigstens eine Schulter zum Anlehnen gehabt hätte, aber da konnte sie auf Lars nicht zählen. Er wartete förmlich darauf, dass sie vor den Schwierigkeiten kapitulierte.
Sie hatte den Backofen angemacht, und allmählich wurde es warm, so dass sie den Parka ausziehen konnte. Endlich klappte die Eingangstür. Das musste Lars sein.
"Ich bin in der Küche", rief sie. "Hier ist es warm. Morgen kommt der Klempner, um die Heizung zu reparieren, oder es zumindest zu versuchen."
Er setzte sich an den Küchentisch: "Wieso bist du denn schon da?" fragte er.
"Es ist so lange her, dass wir richtig gemütlich zusammengesessen haben", erwiderte sie.
Weniger heftig als sonst fragte er: "Wann entschliesst du dich endlich, diese Bruchbude zu verkaufen? Und die Werkstatt gleich mit? Zumindest aus dem Grundstück könntest du eine nette Summe schlagen. Herrgott, du hast doch Betriebswirtschaft studiert, wie ich. Du könntest eine gutbezahlte Stelle haben!"
"Ja, auch wie du. Aber ich kann's nicht, Lars", verteidigte sie sich. "Meine Grosseltern haben diese Puppenwerkstatt gegründet und das Haus gebaut. Ich möchte die Familientradition fortsetzen. Und dann gibt es die Angestellten. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen."
"Deine Grosseltern hatten genug Geld, um das Haus zu bauen, aber du hast nicht einmal die Mittel, um es instand zu halten!"
Sie reichte ihm eine Flasche Wein zum Entkorken. "Die Puppen wurden einst in ganz Europa verkauft, und ich möchte, dass es eines Tages wieder so wird."
"Wir leben im Zeitalter der Barbie-Puppen. Deine handgemachten Puppen sind zu teuer. Schon dein Vater kam nicht damit klar. Er hat dir vor zwei Jahren einen völlig verschuldeten Betrieb hinterlassen!"
"Das lag daran, dass er kein Kaufmann war, aber die Angestellten haben immer ihr Gehalt bekommen, und ich konnte studieren."
Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie den Angestellten ehrlich gesagt, wie es um den Betrieb stand. Gemeinsam hatten sie beschlossen, weiterzumachen. Inzwischen hatte Inka sogar einen Teil der Schulden abbezahlen können, aber noch immer ging es den meisten ihrer Angestellten finanziell besser als ihr. In Lars' Augen eine absurde Situation.
Lars stocherte lustlos im liebevoll zubereiteten Essen herum. Eine Welle von Zärtlichkeit und Schuldgefühlen überflutete sie. Sie streckte ihm über den Tisch die Hand entgegen und sagte leise: "Ich weiss, du hast es nicht leicht mit mir. Möchtest du, dass wir endlich heiraten?"
Er zog seine Hand zurück, und dann platzte er heraus: "Wie stellst du dir denn diese Ehe vor? Wir sehen uns doch kaum noch. Du bist mit deinen Puppen verheiratet! Ich möchte Kinder haben, Inka. Und eine Frau, die Zeit hat, sich um sie zu kümmern."
"Wenn du noch ein klein bisschen warten könntest, vielleicht geht es ja bald besser?"
"Entschuldige, aber daran glaube ich nicht mehr."
Leiser fuhr er fort: "Ich hätte es dir längst sagen müssen, Inka, aber wir haben in letzter Zeit nie Gelegenheit zu einem solchen Gespäch gehabt. Ich - also, ich liebe eine andere Frau. Birgit erwartet ein Baby, und wir wollen so schnell wie möglich heiraten."
Inka starrte ihn fassungslos an. Das war also der Grund für seine häufigen Abwesenheiten in letzter Zeit. Und sie hatte ihm vertraut, hatte nicht das Geringste geahnt!
Lars dagegen wirkte erleichtert. Er hatte das Geständnis hinter sich gebracht und die Situation geklärt. Nach dem Essen fuhr er sofort zu Birgit, seine Sachen nahm er mit.
Als er gegangen war, lief Inka durch den Garten in die Werkstatt, machte Licht und sah sich das Puppenmuseum an. Dort wurde ein Exemplar jeder Puppe aufbewahrt. Inka kannte und liebte sie alle.
Sie nahm eine von ihren Lieblingspuppen in den Arm, und bald fühlte sie sich auf eine geheimnisvolle Weise getröstet. Wie damals als kleines Mädchen, wenn sie ihrer Puppe einen Kummer anvertraute ...
_ _ _
In den folgenden Monaten gönnte sie sich keine Pause. Sie arbeitete, um zu vergessen, um das Unternehmen zu retten. Das Wort Privatleben hatte sie aus ihrem Vokabular gestrichen.
Es wurde Frühling - und wieder Sommer. Eines Tages klopfte es an die Tür ihres Büros, die wie immer offen stand.
"Herein", rief sie.
Es war ein Mann von etwa Mitte dreissig. Blondes Wuschelhaar fiel ihm in die Stirn. Er hatte blaue, aufmerksame Augen und einen sensiblen Mund.
"Entschuldigen Sie, dass ich ohne Voranmeldung hereinplatze. Haben Sie etwas Zeit, um sich einige Entwürfe anzusehen? Übrigens, mein Name ist Tobias Riese. Ich bin Designer."
Er legte vorsichtig die grosse grüne Mappe auf den Schreibtisch und sah gespannt zu, wie Inka die Seiten umblätterte. Er hatte verschiedene Puppen gezeichnet, und ihr stockte fast der Atem. Sie hatte nie etwas Besseres zu Gesicht bekommen, seit sie den Betrieb übernommen hatte. Es waren keine Puppen der alten Art, auch keine Barbie-Puppen, es war etwas völlig Neues.
"Bitte, setzten Sie sich doch. Sie scheinen eine Menge von Puppen zu verstehen", sagte sie beeindruckt.
"Kein Wunder, ich habe drei Schwestern, die begeisterte Puppenmütter waren. Und manchmal liessen sie mich mitspielen. Ich glaube, ich habe einen ganz passablen Puppenvater abgegeben." In seiner Bass-Stimme klang ein Lachen mit, und lauter sympathische Fältchen erschienen um seine Augenwinkel.
So trat Tobias Riese in Inkas Leben.
Gemeinsam setzten sie einen Vertrag auf. Und alle machten sich begeistert an die Arbeit. Die Prototypen der neuen Puppen wurden gerade rechtzeitig zur nächsten Spielzeugmesse fertig. Inka selbst führte sie vor - und kam mit vollen Auftragsbüchern zurück.
Sofort rief sie Tobias Riese an: "Ich glaube, wir sind endgültig über den Berg! Darf ich Sie zum Dank zum Essen einladen? Sagen wir Sonntag Mittag um eins bei mir?" Ihr Stimme klang so fröhlich, wie sie sich fühlte.
Er kam. Mit einem riesigen Blumenstrauss.
Sie sassen auf der Terrasse. Wilder Wein formte ein grünes Laubdach über ihnen, schützte sie vor der Sonne. "Ein wunderschönes Haus", meinte Tobias bewundernd.
"Es ist das Haus meiner Grosseltern, aber sehr reparaturbedürftig und viel zu gross für mich allein."
"Wenn man die Ärmel hochkrempelt, lässt sich eine Menge daraus machen." Seine blauen Augen lachten, und auf einmal kam ihr die Gewissheit, dass sie nie mehr allein sein würde, dass das Haus wieder auferstehen und schon bald von Leben, Liebe und Kinderlachen erfüllt sein würde.
Schweigend sahen sie sich an. Tobias' Blick wurde weich und zärtlich, und als er schliesslich lächelte, wusste sie, dass auch er gerade eine ähnliche Zukunftsvision hatte ...
ENDE
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Inka Grothe stand in ihrem alten Parka am Küchentisch und zerteilte ein Hühnchen. Draussen fror es Stein und Bein, und im Haus war es fast genau so kalt gewesen, als sie vorhin aus der Werkstatt herübergekommen war. Die alte Zentralheizung hatte wieder einmal den Geist aufgegeben. Sie hoffte inständig, dass sie noch einmal repariert werden konnte. Woher sollte sie das Geld für eine neue nehmen? Im Grund gehörte das ganze Haus von Grund auf renoviert, aber davon durfte sie nicht einmal träumen ...
Wenn sie wenigstens eine Schulter zum Anlehnen gehabt hätte, aber da konnte sie auf Lars nicht zählen. Er wartete förmlich darauf, dass sie vor den Schwierigkeiten kapitulierte.
Sie hatte den Backofen angemacht, und allmählich wurde es warm, so dass sie den Parka ausziehen konnte. Endlich klappte die Eingangstür. Das musste Lars sein.
"Ich bin in der Küche", rief sie. "Hier ist es warm. Morgen kommt der Klempner, um die Heizung zu reparieren, oder es zumindest zu versuchen."
Er setzte sich an den Küchentisch: "Wieso bist du denn schon da?" fragte er.
"Es ist so lange her, dass wir richtig gemütlich zusammengesessen haben", erwiderte sie.
Weniger heftig als sonst fragte er: "Wann entschliesst du dich endlich, diese Bruchbude zu verkaufen? Und die Werkstatt gleich mit? Zumindest aus dem Grundstück könntest du eine nette Summe schlagen. Herrgott, du hast doch Betriebswirtschaft studiert, wie ich. Du könntest eine gutbezahlte Stelle haben!"
"Ja, auch wie du. Aber ich kann's nicht, Lars", verteidigte sie sich. "Meine Grosseltern haben diese Puppenwerkstatt gegründet und das Haus gebaut. Ich möchte die Familientradition fortsetzen. Und dann gibt es die Angestellten. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen."
"Deine Grosseltern hatten genug Geld, um das Haus zu bauen, aber du hast nicht einmal die Mittel, um es instand zu halten!"
Sie reichte ihm eine Flasche Wein zum Entkorken. "Die Puppen wurden einst in ganz Europa verkauft, und ich möchte, dass es eines Tages wieder so wird."
"Wir leben im Zeitalter der Barbie-Puppen. Deine handgemachten Puppen sind zu teuer. Schon dein Vater kam nicht damit klar. Er hat dir vor zwei Jahren einen völlig verschuldeten Betrieb hinterlassen!"
"Das lag daran, dass er kein Kaufmann war, aber die Angestellten haben immer ihr Gehalt bekommen, und ich konnte studieren."
Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie den Angestellten ehrlich gesagt, wie es um den Betrieb stand. Gemeinsam hatten sie beschlossen, weiterzumachen. Inzwischen hatte Inka sogar einen Teil der Schulden abbezahlen können, aber noch immer ging es den meisten ihrer Angestellten finanziell besser als ihr. In Lars' Augen eine absurde Situation.
Lars stocherte lustlos im liebevoll zubereiteten Essen herum. Eine Welle von Zärtlichkeit und Schuldgefühlen überflutete sie. Sie streckte ihm über den Tisch die Hand entgegen und sagte leise: "Ich weiss, du hast es nicht leicht mit mir. Möchtest du, dass wir endlich heiraten?"
Er zog seine Hand zurück, und dann platzte er heraus: "Wie stellst du dir denn diese Ehe vor? Wir sehen uns doch kaum noch. Du bist mit deinen Puppen verheiratet! Ich möchte Kinder haben, Inka. Und eine Frau, die Zeit hat, sich um sie zu kümmern."
"Wenn du noch ein klein bisschen warten könntest, vielleicht geht es ja bald besser?"
"Entschuldige, aber daran glaube ich nicht mehr."
Leiser fuhr er fort: "Ich hätte es dir längst sagen müssen, Inka, aber wir haben in letzter Zeit nie Gelegenheit zu einem solchen Gespäch gehabt. Ich - also, ich liebe eine andere Frau. Birgit erwartet ein Baby, und wir wollen so schnell wie möglich heiraten."
Inka starrte ihn fassungslos an. Das war also der Grund für seine häufigen Abwesenheiten in letzter Zeit. Und sie hatte ihm vertraut, hatte nicht das Geringste geahnt!
Lars dagegen wirkte erleichtert. Er hatte das Geständnis hinter sich gebracht und die Situation geklärt. Nach dem Essen fuhr er sofort zu Birgit, seine Sachen nahm er mit.
Als er gegangen war, lief Inka durch den Garten in die Werkstatt, machte Licht und sah sich das Puppenmuseum an. Dort wurde ein Exemplar jeder Puppe aufbewahrt. Inka kannte und liebte sie alle.
Sie nahm eine von ihren Lieblingspuppen in den Arm, und bald fühlte sie sich auf eine geheimnisvolle Weise getröstet. Wie damals als kleines Mädchen, wenn sie ihrer Puppe einen Kummer anvertraute ...
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In den folgenden Monaten gönnte sie sich keine Pause. Sie arbeitete, um zu vergessen, um das Unternehmen zu retten. Das Wort Privatleben hatte sie aus ihrem Vokabular gestrichen.
Es wurde Frühling - und wieder Sommer. Eines Tages klopfte es an die Tür ihres Büros, die wie immer offen stand.
"Herein", rief sie.
Es war ein Mann von etwa Mitte dreissig. Blondes Wuschelhaar fiel ihm in die Stirn. Er hatte blaue, aufmerksame Augen und einen sensiblen Mund.
"Entschuldigen Sie, dass ich ohne Voranmeldung hereinplatze. Haben Sie etwas Zeit, um sich einige Entwürfe anzusehen? Übrigens, mein Name ist Tobias Riese. Ich bin Designer."
Er legte vorsichtig die grosse grüne Mappe auf den Schreibtisch und sah gespannt zu, wie Inka die Seiten umblätterte. Er hatte verschiedene Puppen gezeichnet, und ihr stockte fast der Atem. Sie hatte nie etwas Besseres zu Gesicht bekommen, seit sie den Betrieb übernommen hatte. Es waren keine Puppen der alten Art, auch keine Barbie-Puppen, es war etwas völlig Neues.
"Bitte, setzten Sie sich doch. Sie scheinen eine Menge von Puppen zu verstehen", sagte sie beeindruckt.
"Kein Wunder, ich habe drei Schwestern, die begeisterte Puppenmütter waren. Und manchmal liessen sie mich mitspielen. Ich glaube, ich habe einen ganz passablen Puppenvater abgegeben." In seiner Bass-Stimme klang ein Lachen mit, und lauter sympathische Fältchen erschienen um seine Augenwinkel.
So trat Tobias Riese in Inkas Leben.
Gemeinsam setzten sie einen Vertrag auf. Und alle machten sich begeistert an die Arbeit. Die Prototypen der neuen Puppen wurden gerade rechtzeitig zur nächsten Spielzeugmesse fertig. Inka selbst führte sie vor - und kam mit vollen Auftragsbüchern zurück.
Sofort rief sie Tobias Riese an: "Ich glaube, wir sind endgültig über den Berg! Darf ich Sie zum Dank zum Essen einladen? Sagen wir Sonntag Mittag um eins bei mir?" Ihr Stimme klang so fröhlich, wie sie sich fühlte.
Er kam. Mit einem riesigen Blumenstrauss.
Sie sassen auf der Terrasse. Wilder Wein formte ein grünes Laubdach über ihnen, schützte sie vor der Sonne. "Ein wunderschönes Haus", meinte Tobias bewundernd.
"Es ist das Haus meiner Grosseltern, aber sehr reparaturbedürftig und viel zu gross für mich allein."
"Wenn man die Ärmel hochkrempelt, lässt sich eine Menge daraus machen." Seine blauen Augen lachten, und auf einmal kam ihr die Gewissheit, dass sie nie mehr allein sein würde, dass das Haus wieder auferstehen und schon bald von Leben, Liebe und Kinderlachen erfüllt sein würde.
Schweigend sahen sie sich an. Tobias' Blick wurde weich und zärtlich, und als er schliesslich lächelte, wusste sie, dass auch er gerade eine ähnliche Zukunftsvision hatte ...
ENDE
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