Mittwoch, 8. Mai 2013
Das Kaleidoskop der Gefühle
Diese Sylvia mit ihrem kastanienbrauen Haar war überhaupt nicht Dennis' Typ, ausserdem war sie gebunden. Trotzdem musste er immer an sie denken ...
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"Sag mal, allmählich bin ich sauer. Gib gefälligst ein Lebenszeichen von dir! Wenn ich in der Kanzelei anrufe, bist du gerade wahnsinnig beschäftigt, und wenn ich bei dir zu Hause anrufe, ist der Anrufbeantworter eingeschaltet ..."

"Schon gut, Dennis, ich bin ja da", schaltete Andreas Wagner sich ausgesprochen gutgelaunt ein. "Wo brennt's denn?"

"Machst du dich über mich lustig? Seit Wochen kriege ich dich nicht an die Strippe. Darf ich dich daran erinnern, dass ich dein bester Freund bin? Wann treffen wir uns mal wieder zu einem zünftigen Abend unter Männern?"

"Tja, du musst schon entschuldigen, aber im Augenblick habe ich etwas Besseres zu tun."

"Aha, eine Frau also!"

Andreas lachte: "Erraten." Dann machte er eine Pause, ehe er in verändertem Ton hinzufügte: "Aber diesmal ist es ernst. Warte ab, bis du sie siehst. Apropos, kannst du dich morgen Abend für eine Vernissage freimachen? Punkt sechs in der Galerie Schreiber, in der Wormserstrasse."

"Wird sie da sein?"

"Sie wird!"

"Natürlich komme ich!"
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Punkt sechs betrat Dennis Brinkmann die kleine, aber bekannte Kunstgalerie in der Wormserstrasse. Es waren schon erstaunlich viele Besucher da, und Dennis hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Und da sah er sie. Eine blonde Frau mit einem Gesicht wie ein Engel und einem Körper wie eine Göttin. Ganz allein stand sie da. Ihre Schönheit schuf so etwas wie einen luftleeren Raum um sie herum. Sie wirkte fast etwas verloren. Natürlich, an eine solche Rassefrau wagten die Männer sich nicht heran! Dennis warf sich in die Brust, rückte seine Fliege gerade, setzte sein charmantestes Lächeln auf - und ging schnurstraks auf sie zu, um sie aus ihrer Not zu erlösen.

Als er vor ihr stand, traf ihn ein Blick aus tiefblauen Augen. Er war nachsichtig, fast etwas amüsiert. Dieser Blick brachte ihn etwas aus dem Konzept. Er suchte noch nach einer geistreichen und galanten Bemerkung, als plötzlich Andreas auftauchte, sich geradezu unhöflich zwischen sie schob, seinen Arm um die makellosen Schultern der Traumfrau legte und schadenfroh grinste: "Stop! Diese Dame ist nicht mehr im Angebot. Darf ich bekannt machen? Britta, das ist Dennis Brinkmann. Er ist Richter am hiesigen Zivilgericht. Dennis, dies ist Britta Wiegand. Hättest du dir zuerst, wie es sich gehört, die ausgestellten Kunstwerke angesehen, statt schnurstracks auf sie loszurennen, wüsstest du jetzt, dass es sich um die Künstlerin handelt. Leugne es ja nicht ab, ich habe es gesehen!"

"Sie sind schöner als jedes Kunstwerk, Britta. Und du, Andy, ich weiss wirklich nicht, womit du dir so etwas verdient hast!"

Britta lachte und reichte ihm die Hand: "Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Andy hat mir schon so viel von Ihnen erzählt."

"Hoffentlich nur Schmeichelhaftes." Dennis nahm die dargebotene Hand und drückte sie warm. "Falls dieser Nichtsnutz von Andy Sie jemals enttäuschen sollte, lassen Sie es mich sofort wissen. Ich bin in jeder Hinsicht der Bessere, und ich verspreche Ihnen, Sie immer und ewig auf Händen zu tragen!"

Dann wandte er sich an seinen Freund: "Wie kommt es, dass du mir nichts von Britta erzählt hast?"

"Ich werde den Teufel tun, du alter Lüstling. Du lernst sie heute kennen, das reicht völlig!"

Dennis wandte sich wieder Britta zu: "Und Sie sind wirklich zufrieden mit ihm?"

Wieder lachte sie, schmiegte sich zärtlich an Andreas: "Ich werde nie wieder jemanden finden, der so viel für mich tut. Andy hat mir geholfen, die Ausstellung vorzubereiten, und was das bedeutet, kann nur jemand wissen, der's schon mal hinter sich gebracht hat. Ohne ihn stünde ich jetzt als körperliches und seelisches Wrack vor Ihnen."

Jetzt wandte sie sich graziös aus Andreas' Armen und sagte: "Entschuldigt mich bitte, ihr beiden, ich bin gleich wieder da."

Einen Augenblick später kam sie mit einer jungen Frau zurück: "Sylvia, das ist Dennis Brinkmann, Andys bester Freund. Du, ich finde es wunderbar, dass du gekommen bist. Dennis, das ist Sylvia Bürger, meine beste Freundin aus Kindertagen."

Sylvia war etwas kleiner als Britta. Kastanienbraunes Haar fiel glatt bis auf ihre Schultern, ihr ovales Gesicht war fein geschnitten, und braune Augen sahen Dennis jetzt aufmerksam an. Es waren kluge Augen, die viel vom Leben zu wissen schienen. "Guten Tag, Herr Brinkmann", sagte sie freundlich.

"Guten Abend, Frau Bürger."

"Warum so förmlich?" warf Britta ein. "Ihr werdet euch sicher noch öfter sehen. Bitte, sagt doch einfach Dennis und Sylvia zueinander." Sie zog Dennis etwas beiseite und sagte leise: "Sylvia ist allein hier. Würden Sie ihr bitte etwas Gesellschaft leisten?"

"Selbstverständlich. Mit Vergnügen!" Sylvia war überhaupt nicht sein Typ, aber Britta zuliebe würde er sich den ganzen Abend sogar um einen Blumentopf kümmern.

"Und jetzt entschuldigt uns bitte, wir müssen zu unseren anderen Gästen!" Britta lächelte den beiden noch einmal zu und zog dann Andreas mit sich fort. Dennis und Sylvia waren allein.

"Haben Sie sich denn schon Brittas Bilder angesehen?"

"Ehrlich gesagt, nein. Ich verstehe leider nicht viel von Kunst."

"Möchten Sie, dass ich sie Ihnen zeige? Die meisten von ihnen habe ich entstehen sehen. Wissen Sie, Britta ist nicht nur schön, sie ist auch ein wunderbarer Mensch und eine aussergewöhnliche Künstlerin. Dies ist ihre erste persönliche Ausstellung."

Sie führte ihn vor jedes der Bilder, erklärte sie auf unterhaltsame Weise. Sylvia war in der Kunst zu Hause, und sie ging mit Dennis ganz unbefangen um.

Dennis hatte irgendwie angenommen, dass Sylvia völlig auf ihn angewiesen war, dass sie niemanden hier kannte. Warum sonst hätte Britta sie ihm anvertraut? Jetzt stellte er zu seiner Überraschung fest, dass die junge Frau immer wieder begrüsst und angesprochen wurde. Wiederholt erkundigte man sich, wie es Rudolf ginge, und jedesmal antwortete Sylvia freundlich, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe.

Dennis stand etwas verlegen daneben. Er mochte sie nicht fragen, wer dieser Rudolf war, und sie klärte ihn auch nicht darüber auf.

Eine Stunde später - Dennis war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war, denn er hatte sich nicht eine Sekunde mit Sylvia gelangweilt - standen sie vor dem Büffet, das in einem kleinen Nebenraum aufgebaut war.

Andreas schob ihnen ein Glas Sangria zu, schenkte auch seins wieder voll und prostete ihnen zu: "Ich bin ganz aufgeregt. Britta unterhält sich gerade mit einem ganz wichtigen Kunstkritiker."

Nachher gesellte sich Britta zu ihnen, und wieder fiel Dennis auf, dass Sylvia die meisten der Anwesenden zu kennen schien. Wieder war die Rede von Rudolf. Wer mochte das bloss sein? Ihr Mann? Ihr Kind? Ihr Hund?

Sylvia wurde jetzt zusehends unruhiger. Sie sah wiederholt auf die Uhr, erklärte schliesslich: "Britta, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt nach Hause."

"Bist du mit dem Wagen da?"

"Mein Wagen hat vor ein paar Tagen endgültig den Geist aufgegeben, ich bin mit dem Taxi gekommen."

"In diesem Fall", warf Dennis rasch ein, "erlauben Sie mir bitte, Sie nach Hause zu bringen."

Sylvia zögerte: "Das kann ich nicht annehmen, es ist ziemlich weit."

"Keine Widerworte, mein Wagen steht draussen." Dennis liess sich nicht abweisen.

Sylvia bedankte sich mit einem Lächeln. Britta umarmte sie und sagte: "Danke, dass du gekommen bist. Grüss Rudolf von mir!"

Im Wagen war Sylvia schweigsam, schien mit ihren Gedanken schon ganz woanders zu sein. Bei diesem Rudolf? Sie hatte Dennis die Adresse genannt. Er kannte die Strecke. Sie mussten ein Stück aus der Stadt hinausfahren. Auch er sprach nicht, konzentrierte sich auf die Strasse.

Zuletzt wies sie ihm wieder den Weg, und sie hielten schliesslich vor einem schönen, grossen Anwesen. Ein Herrenhaus, umgeben von einem parkähnlichen Garten.

Dennis war beeindruckt. "Hier leben Sie?"

Sylvia nickte. Bedankte sich. Wünschte ihm eine gute Heimfahrt und eine gute Nacht.

Während der ganzen Rückfahrt dachte er an Sylvia. Das wunderte ihn, denn Frauen wie sie hatten ihn nie besonders interessiert. Er mochte grosse, blonde, unkomplizierte Frauen. Die guten Kamaradinnen, die man einfach anrufen konnte, wenn man Lust zum Ausgehen - und auf mehr - hatte. Er war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, und die Frauen hatten es ihm immer leicht gemacht. Bis jetzt war ihm seine Freiheit über alles gegangen. Warum also zerbrach er sich jetzt den Kopf über eine Frau wie Sylvia? Allem Anschein nach war sie nicht einmal frei. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass Sylvia den ganzen Abend nur über Britta und deren Bilder gesprochen hatte, dass sie nichts über sich selbst preisgegeben hatte. Er ertappte sich bei dem Wunsch, mehr über sie wissen zu wollen ...
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Der Zufall kam ihm zur Hilfe. Eine Woche später fuhr er in die Stadt. Er ging die Geschäftsstrasse entlang und prallte plötzlich mit einem Passanten zusammen. Er murmelte eine Entschuldigung, auf die ein helles Lachen erfolgte. Als er den Kopf hob, erkannte er Britta.

Er war verwirrt. Wie konnte es passieren, dass er eine Frau wie Britta umrannte? Dass er sie nicht schon Kilometer vorher gesehen hatte? Was war los mit ihm?

Britta lachte immer noch: "Sie schickt der Himmel", meinte sie vergnügt. "Könnten Sie mir helfen, ein paar Bilder bis zur Galerie zu tragen? Ein auswärtiger Kunde hat einen Grosseinkauf getätigt. Er wollte seine Errungenschaften gleich mitnehmen, und ich muss nun die leeren Plätze auffüllen. Leider habe ich keinen Parkplatz in der Nähe gefunden, und die Bilder sind ganz schön schwer und sperrig."

"Natürlich, Britta, mit dem grössten Vergnügen!"

Nach getaner Arbeit, sie sassen sich in einer gemütlichen Konditorei gegenüber, fragte er: "Natürlich vermisse ich ihn überhaupt nicht, aber wie kommt es, dass Andy nicht da ist?"

"Der Arme muss arbeiten. Er hat schon so viel Zeit mit meiner Ausstellung verloren, und seine Klienten werden ungeduldig."

Er rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her, und dann rückte er mit seinem Anliegen heraus: "Würden Sie mir bitte etwas über Ihre Freundin Sylvia erzählen? Nur wenn Sie mögen, natürlich."

Sie sah ihn nachdenklich an: "Sylvia ist ein aussergewöhnlicher Mensch."

"Ja, das glaube ich auch. Aber ich weiss nichts über sie. Nur, dass sie in einem wunderschönen Haus ausserhalb der Stadt lebt und dass es jemanden in ihrem Leben gibt, der Rudolf heisst und um den sie sich Sorgen macht. Wer ist dieser Rudolf?"

"Sie wissen also nicht, dass Sylvia mit Rudolf Endrig zusammenlebt?"

"Woher soll ich das wissen? Sie meinen Rudolg Endrig, den Schriftsteller?"

Britta nickte. "Sylvia ist seine Sekretärin - und seine Lebensgefährtin. Ich denke, ich kann es Ihnen ruhig anvertrauen. Es ist ein offenes Geheimnis in dieser Stadt."

"Aber Endrig ist alt, mindestens sechzig, und Sylvia ..."

"Rudolf ist 58 Jahre alt, und Sylvia ist 30, wie ich."

"Er ... er könnte ihr Vater sein." Dennis war sichtlich schockiert.

Britta lächelte: "Sylvia ist ohne Vater aufgewachsen, und es ist möglich, dass sie in Rudolf auch den Vater sieht, den sie nie gehabt hat. Sicher ist, dass sie ihn liebt und bewundert, und dass der Altersunterschied sie nicht stört."

"Sie sagen, dass Sylvia seine Lebensgefährtin ist. Warum heiratet Endrig sie nicht?"

"Weil er schon verheiratet ist. Rudolf hatte eine bezaubernde, aber kapriziöse Frau geheiratet. Er war wahnsinnig verliebt in sie, aber sie hinderte ihn mit ihren Ansprüchen und Launen am Schreiben. Sie hatte auch schnell angefangen, ihn zu betrügen, und vor zwölf Jahren trennte sich Rudolf von ihr, um sein Werk fortsetzen zu können. Aber einer Scheidung hat sie nie zugestimmt, und schon gar nicht, seit Sylvia bei ihm ist."

"Nach all der Zeit könnte er sich auch ohne ihre Zustimmung scheiden lassen."

"Seit der Trennung leidet seine Frau häufig unter Depressionen. Sie hat mehrere Aufenthalte in teuren Privatkliniken hinter sich. Er fühlt sich für sie verantwortlich. Ich halte ihr Festklammern an ihn für reine Selbstsucht, denn sie zeigt sich immer noch gern an der Seite anderer und immer wechselnder Männer. Aber eben: Rudolf ist ein wohlhabender Mann, und er ist krank. Seit einem Jahr ist er an den Rollstuhl gefesselt. Wenn ihm etwas zustösst, erbt sie alles."

"Aber ... das ist doch widerlich!" Dennis war empört. "Was sagt denn Sylvia dazu?"

"Ach, Sylvia denkt nicht an diese Dinge. Natürlich weiss sie, dass sie aus der Villa ausziehen muss, wenn Rudolf einmal nicht mehr lebt, aber sie sagt, dass keiner ihr die Zeit nehmen kann, in der sie mit ihm glücklich war."

"Aber er ist krank ..."

"Er war nicht immer krank. Natürlich, jetzt opfert sie sich für ihn auf, sie pflegt ihn. Rudolf selbst redet ihr zu, auch ohne ihn auszugehen. Alle laden sie so oft wie möglich ein, sie ist ja auch zu meiner Vernissage gekommen, aber sie mag ihn nie lange allein lassen." Sie fügte hinzu: "Ich bin froh, dass Sie Sylvia mögen."

Er konnte nur nicken, weil er sich auf einmal sehr unglücklich fühlte. Wie sehr er Sylvia mochte, das konnte auch Britta nicht ahnen ...
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Drei Wochen später war Dennis bei Britta und Andy eingeladen. Andys geräumige,, aber ziemlich ungemütliche Wohnung war kaum wiederzuerkennen. Sie wirkte jetzt anheimelnd, lebendig. Britta hatte wahre Wunder vollbracht.

Die junge Frau war bezaubernder denn je, empfing ihre Gäste in einem langen, aufregend hoch geschlitzten Kleid. Andy barst fast vor Stolz und Liebe.

Britta warf einen Blick auf die festlich gedeckte Tafel und meinte: "Wir können gleich essen, es fehlt nur noch ein Gast."

In diesem Augenblick klingelte es. Andy ging öffnen - und kam mit Sylvia zurück.

Sie sah genau so aus wie am Abend der Vernissage. Die selbe schlichte Frisur, das selbe klare, offene Gesicht. Aber Dennis schien es auf einmal, als wäre es heller geworden im Raum, als verblasste selbst Brittas Schönheit vor ihr. Er hatte ab sofort nur noch Augen für sie, ging ihr entgegen, um sie zu begrüssen.

Er brachte sie auch diesmal wieder nach Hause, und im Wagen erzählte sie ihm von ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte ihre Mutter und sie verlassen, als sie kaum ein Jahr alt war: "Meine Mutter hat meinen Vater abgöttisch geliebt, sie hat ihn nie vergessen können. Ich glaube, manchmal merkte sie gar nicht, dass ich auch da war. Sie kümmerte sich natürlich um mich, tat alles, was eine Mutter tun muss, aber ihr Herz gehörte meinem Vater. Er war der einzige Mann ihres Lebens. Sie ist vor sechs Jahren gestorben. Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Ich glaube es fast."

"Und Ihr Vater?"

"Ich habe ihn nie wiedergesehen. Nach allem, was ich von ihm weiss, muss er ein notorischer Schürzenjäger gewesen sein. Ich habe ihn lange gehasst."

"Und jetzt?"

"Seit ich Rudolf kenne, habe ich meinem Vater verziehen", sagte sie leise.

Er zweifelte nicht daran, dass sie Endrig liebte, aber Endrig war krank, war an den Rollstuhl gefesselt. Was konnte er einer jungen Frau wie Sylvia geben?

Sie standen schon seit einer geraumen Weile mit abgedunkelten Scheinwerfern vor dem Haus. Er wusste nicht, wer die erste Bewegung gemacht hatte, aber auf einmal lagen sie sich in den Armen. Er küsste sie leidenschaftlich, und sie erwiderte seinen Kuss. Er spürte ihr Herz, das zum Zerspringen klopfte. Oder war es sein eigenes Herz? Aber schon riss sie sich mit einem erstickten Laut los, stiess die Wagentür auf, flüchtete ins Haus ...

Auf der ganzen Rückfahrt war ihm elend zumute. Er schalt sich einen Idioten, ein Trampeltier, einen unbelehrbaren Egoisten. Was musste Sylvia jetzt von ihm denken? Dass er ein rücksichtsloser Schürzenjäger war wie ihr Vater? Wie hatte er sich nur derart gehen lassen können! Sicher war sie jetzt völlig verzweifelt, machte sich bittere Vorwürfe.

Sein erster Plan war, Endrig aufzusuchen und ihn zu bitten, Sylvia freizugeben. Er wusste jetzt, dass er sie liebte. Sein innigster Wunsch war es, sie glücklich zu machen. Er konnte ihr, im Gegensatz zu ihm, die Heirat anbieten. Aber gleich darauf zweifelte er wieder. Vielleicht hatte Sylvia seinen Kuss nicht aus Liebe erwidert, sondern nur aus der körperlichen Sehnsucht nach der Umarmung eines Mannes heraus. Dass dieses körperliche Verlangen keine Liebe zu sein brauchte, wusste er selbst am allerbesten.
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Er sah Sylvia nicht wieder. Britta sagte ihm, dass sie alle Einladungen ausschlug, das Haus und Rudolf praktisch nicht mehr verliess. Britta besuchte die beiden machmal, erzählte Dennis von der Abgeschiedenheit, in der Sylvia jetzt lebte und die weder Rudolf noch sie billigten. Niemand wusste, warum Sylvia so handelte.

Und Dennis fühlte sich schuldig. Er hatte mit dem Kuss alles zerstört. Zum ersten Mal in seinem Leben war er zutiefst unglücklich.

Einige Monate vergingen. Es war ein Sonntag Nachmittag. Er sass zu Hause an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen zu einem Prozess, als das Telefon läutete.

Es war Britta. Sie sagte: "Dennis, Rudolf ist heute früh gestorben. Morgen wird es in allen Zeitungen stehen, aber ich wollte, dass du es jetzt schon erfährst."

"Und Sylvia?" fragte er sofort.

"Ich gebe dir ihre neue Adresse."

"Sie ist also schon ausgezogen?"

"Rudolfs Frau ist vor zwei Wochen gekommen, gleich nachdem Rudolf ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Sie hat dafür gesorgt, dass Sylvia sofort das Haus verliess. Diese Hexe, diese ..." Britta konnte nicht weitersprechen, sie weinte.

Endlich fuhr sie fort: "Sylvia war bei ihm, als er starb. Seine Frau ist erst gekommen, als alles zu Ende war. Am Dienstag ist die Beerdigung."

"Ich werde da sein", versprach er.
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Er sah sie sofort. Sie stand in der Kirche etwas abseits, trug keine Trauerkleidung. Er verbeugte sich vor ihr: "Kann ich etwas für Sie tun, Sylvia?" fragte er einfach. "Oder möchten Sie nicht, dass ich bleibe?"

Sie sah ihn lange aus rotgeweinten Augen an: "Nein, bleiben Sie", flüsterte sie. "Es ist gut, dass Sie gekommen sind."

Jetzt sah er auch Britta und Andreas, die hinter Sylvia standen, bereit, ihr beizustehen, wenn sie Hilfe brauchen sollte. Und dann auch die Witwe, tiefschwarz gekleidet, in der ersten Reihe.

Sylvia war seinem Blick gefolgt: "Rudolf wollte nicht, dass ich schwarz trage. Schwarz hätte mir nie gestanden, sagte er." Sie musste lächeln, und gleichzeitig weinte sie.

Endrig war ihm auf einmal sehr sympathisch. Seine Witwe hingegen widerte ihn an. Welch eine unwürdige Kommödie!

Auch auf dem Friedhof wich er nicht von Sylvias Seite. Zusammen mit Britta und Andreas hätte er sie gern vor allen neugierigen Blicken geschützt. Als alles zu Ende war, fragte er sie, ob er sie nach Hause bringen dürfe.

Das Appartmenthaus, in dem sie jetzt lebte, war ein schmuckloser, ziemlich einfacher Bau, und Dennis bekam es wieder mit der Wut, als er an die prunkvolle Villa dachte, die Endrigs Witwe jetzt bestimmt verkaufen würde.

"Möchten Sie mit hinaufkommen?" fragte Sylvia.

Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung war hell und hübsch eingerichtet. Ein paar Bilder von Britta hingen an den Wänden, und Dennis fielen auch ein paar einzelne hübsche Möbel auf, sowie eine schöne Skulptur, die auf dem niedrigen Tisch stand.

Sylvia lächelte: "Diese Möbel und die Skulptur hat Rudolf mir geschenkt."

"Und seine Witwe hat sie Ihnen gelassen?"

"Erstaunlicherweise, ja. Sie meinte, dass es schlimmer hätte kommen können."
"Und wovon leben Sie jetzt?"

"Ich habe einige Ersparnisse, und ich werde mir eine neue Arbeit suchen."

Und plötzlich füllten ihre Augen sich wieder mit Tränen. Sie sah so erschöpft, so unglücklich aus, dass Dennis nicht anders konnte: Er nahm sie in die Arme, bettete ihr Gesicht an seine Schulter. Er spürte kein Verlangen, nur den Wunsch, ihr zu helfen, sie zu trösten.

Lange blieben sie so stehen, und sie weinte sich ihren Schmerz von der Seele. Schliesslich löste sie sich von ihm: "Ich möchte jetzt allein sein", sagte sie, " aber bitte, kommen Sie bald wieder."

"Ich komme wieder", versprach er. Er wusste, dass er geduldig sein, dass er auf sie warten würde, solange es nötig war. Während er die Treppe hinunterging, dachte er an den Ausdruck ihrer Augen, an die geheime Sehnsucht, die er in ihnen gelesen hatte, und an die Verheissung eines gemeinsamen Glücks ...

ENDE

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