Montag, 28. Januar 2013
Ein Ekel mit Herz
Nachdem Wolf, den sie leidenschaftlich liebte, eine andere heiratete, gründete Nicola ihre eigene PR-Agentur, in die sie ihre ganze Zeit und Kraft investierte. Eines Abends taucht überraschend …
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“Nicola, Gott sei Dank, du bist da. Hier ist Mathias, Mathias Häger. Ich weiss, wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, aber alle Hotels in der Stadt sind ausgebucht, wegen der beiden internationalen Kongresse. Hättest du eine Schlafgelegenheit für mich? Im Namen unserer alten Bekanntschaft?”

Mathias Häger! Und ob sie sich an den besten Freund ihres älteren Bruders erinnerte! Nie wollten die beiden sie mitspielen lassen, obwohl - oder gerade weil?- sie in allen Sportarten ebenso gut war wie sie, im Laufen und Klettern schlug sie die beiden sogar um Längen. Sie fand es ziemlich unverfroren, dass er sich an sie wandte.

“Bitte”, stöhnte er mitleiderregend, “sonst muss ich auf einer Bank im Stadtpark übernachten, und morgen habe ich eine wichtige geschäftliche Besprechung.”

“Woher hast du denn meine private Telefonnummer? Sie steht nicht im Telefonbuch.”

“Hat dein Bruder mir freundlicherweise mitgeteilt.”

“Ihr komplottiert also immer noch gegen mich?” Aber sie war plötzlich neugierig, was aus dem Ekel geworden war: “Na gut, aber beeil dich, ich muss gleich weg. Bin zu einer Party eingeladen. Weisst du, wo ich wohne?”

“Klaro, ich steh’ schon vor der Tür.” Er hatte gerade noch Zeit, seinen Handy wegzustecken, als der Summton ertönte.

Sie wartete in der offenen Tür auf ihn, und er sah sie bewundernd an: “Donnerwetter, du hast dich aber gemausert.” Er hatte sie als mageren Teenager in Erinnerung, jetzt hatte sie eine Traumfigur und sah bezaubernd aus mit ihren grossen dunklen Augen und dem weichen Mund.

“Kann man auch von dir sagen”, räumte sie ein.

Er setzte seine Reisetasche in der Diele ab: “Du gehst also auf eine Party?”

“Ja, einer meiner Klienten gibt sie in seiner Prachtvilla.” Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: “Ich werde dort zum ersten Mal Wolf Bölling wiedersehen, meinen Ex-Verlobten.”

“Ach, das war dieser Idiot, der dich hat fallen lassen, um die Tochter des Chefs zu heiraten. Hm, weiss ich auch von deinem Bruder. Du hast doch sicher einen Begleiter?”

“Bin ich etwa nicht Frau genug, um allein hinzugehen?”

Er fand, dass sie das sehr treffend ausdrückte, schlug ihr aber mit einem netten Grinsen vor: “Lass mich dein Kavalier sein, schöne Nicola.”

Sie wollte ablehnen, aber gleichzeitig stellte sie fest, dass sie es müde war, in Gesellschaft immer so tun zu müssen, als ginge es ihr wunderbar. Und es würde ihr darüber hinaus sehr weh tun, Wolf wiederzusehen, denn sie liebte ihn immer noch. Mit Mathias an ihrer Seite würde dieser Abend tatsächlich leichter zu überstehen sein: “Einverstanden”, gab sie nach.

Alle Köpfe drehten sich zu ihnen um, als sie den festlich geschmückten Raum betraten. Nicola trug ein langes Kleid mit besticktem Oberteil, und auch Mathias sah fantastisch aus in seinem Abendanzug. Wolf Bölling kam sofort mit seiner blonden Frau auf sie zu, und Nicola stellte fest, dass es ihr ein gewisses Vergnügen bereitete, ihm den gutaussehenden Mathias vorzustellen. Wolf machte sie ihrerseits mit seiner Frau bekannt und wandte sich dann an Nicola: “Herzlichen Glückwunsch zu deinem beruflichen Erfolg. Deine PR-Agentur ist in aller Munde.”

Ob ihm klar war, dass sie ihren Erfolg ihm zu verdanken hatte? Ohne seinen Verrat hätte sie kaum die Firma verlassen, in der sie beide arbeiteten, um sich selbstständig zu machen. Er dagegen hatte einen bitteren Zug um den Mund. Kein Wunder, dachte Nicola. Sie hatte gehört, dass sein Schwiegervater ihn an der kurzen Leine hielt. Nachdem sie gefürchtet hatte, dass die Begegnung sie innerlich aufwühlen würde, empfand sie nun eher Mitleid mit ihm.

Mathias war ein wunderbarer Tänzer, und Nicola gab sich ganz dem Vergnügen hin, an seinem Arm durch den Raum zu schweben. War es die Nähe? Plötzlich spürte sie eine süsse, ziehende Wärme, die von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff. Abrupt blieb sie stehen. Das fehlte noch, dass sie sich in den schlimmsten Feind ihrer Kindheit verliebte! “Bring mich nach Hause”, bat sie, “ich fühle mich nicht gut.”
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Mathias fand eine Parklücke in einer Seitenstrasse. “Geht es dir besser?” fragte er besorgt, als er Nicola beim Aussteigen half.

Es gelang ihr, ihn anzulachen: “Der Beweis: Komm, wir laufen um die Wette, wie früher!”

Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, und beim Laufen raffte sie ihr langes Kleid. Sie lief, als ginge es um ihr Leben, oder vielmehr, als gälte es, ihr Herz in Sicherheit zu bringen. Im Laufen sah sie den Bordstein nicht. Der Schmerz, als ihr Knöchel umknickte, durchfuhr sie wie ein Messerstich.

Mathias trug sie bis ins Schlazimmer, legte sie auf’s Bett nieder und untersuchte vorsichtig ihren Fuss: “Es ist nichts gebrochen, ich werde dir einen kalten Umschlag machen.”

“Jetzt kann ich nicht mal das Sofa für dich zurechtmachen”, meinte sie kleinlaut.

“Keine Sorge, das kann ich selbst.”
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Am nächsten Morgen ging es ihrem Fuss schon viel besser, aber auftreten konnte sie immer noch nicht. Mathias kam mit einem Blumenstrauss und einer grossen Tüte im Arm von seinem Geschäftstermin zurück. Nun werkelte er umsichtig in der Küche.

Als es klingelte, machte er auf. Es war Wolf, der sogleich auf Nicola zueilte: “Ich hörte gestern, dass es dir nicht gut ging und möchte mich nach deinem Befinden erkundigen.”

Nicola zeigte auf ihren bandagierten Fuss: “Wie du siehst, habe ich mir auch noch den Knöchel verknackst.”

Wolf warf Mathias, der nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren, einen irritierten Blick zu, dann platzte er heraus: “Ich möchte dir sagen, dass ich den grössten Fehler meines Lebens begangen habe, als ich Bettina heiratete. Ich liebe dich noch immer, Nicola. Bettinas und meine Ehe ist längst zerrüttet. Gestern haben wir beschlossen, uns scheiden zu lassen.”

“Es stimmt also, dass dein Schwiegervater dir keinen Posten im Vorstand geben will?”

“Das hat nichts damit zu tun”, fuhr er auf.

Welch ein Lügner! Nicola war endgültig ernüchtert. “Findest du allein hinaus, oder soll Mathias dich begleiten?”

Mathias reagierte sofort: “Es wird mir ein Vergnügen sein, Herr Bölling!”

Wolf sah einen Augenblick aus, als wolle er handgreiflich werden, aber Mathias war einen halben Kopf grösser und auch breitschultriger als er. So knirschte er nur: “Nicht nötig, ich finde den Weg allein. Schliesslich kenne ich die Wohnung von früher her!”

Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, ging Mathias wieder in die Küche. Er kam mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Flasche edlen Weissweins, zwei Gläser, zwei Teller mit geräuchertem Lachs und ein Schälchen mit eingelegten Kapern befanden. Dazu gab es ein knuspriges Baguette. Während er einschenkte, meinte Nicola nachdenklich: “Liebe macht bekanntlich blind, aber wie konnte ich nur so lange die Augen vor der Tatsache verschliessen, dass Wolf schon immer bereit war, über Leichen zu gehen, um Erfolg zu haben, und zwar schnellen Erfolg? Mut und Ausdauer waren nie seine Stärke. Mit Bettina glaubte er, dass alles ihm in den Schoss fallen würde, aber sein Schwiegervater durchschaute ihn schneller als ich.”

Mathias hatte eingeschenkt und hob sein Glas, um ihr zuzuprosten: “Er war ja auch nicht blind vor Liebe. Auf ein Ende, also, das Ende einer Illusion.”

Während des zweiten Glases erzählte Mathias ihr von seinen beruflichen Plänen. Er wollte sich als Wirtschaftsexperte selbstständig machen. “Warum nicht hier in dieser Stadt?” meinte er.

“Ja, warum nicht?” sinnierte Nicola.

Der Lachs schmeckte köstlich, und schliesslich schenkte Mathias ihnen das letzte Glas Wein ein: “Das möchte ich auf einen Anfang trinken”, lächelte er und zeigte, was er damit meinte, indem er ihr den schönsten Kuss ihres Lebens gab …

ENDE

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