Dienstag, 12. März 2013
Geld oder Glück
Victor Jahns könnte seine kleine Möbelfabrik vor dem Konkurs retten, wenn er die schöne Unternehmerstochter Tricia heiratet. Aber dann steht eines Tages die resolute Sandy in seinem Büro und hat eine Idee …
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Das trillernde Telefon auf seinem Schreibtisch riss Victor aus der Versunkenheit. Er nahm den Hörer ab und meldete sich: “Hier Victor Jahns.”

“Um Himmels Willen, was machst du? Weisst du, wie spät es ist?” Tricias Stimme klang unangenehm hoch, aber ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, dass sie allen Grund hatte, ärgerlich zu sein. Siedendheiss fiel ihm ein, dass heute im Sülwaldschen Haus eine Abendgesellschaft stattfand, zu der er eingeladen war.

“Verzeih, Liebes, in einer halben Stunde bin ich da!” Er sah noch einmal die Zeichnungen an, die er angefertigt hatte. Zeichnungen von Möbeln, die er gern in seinem Betrieb angefertigt hätte, wenn, ja, wenn es noch eine Zukunft für ihn gegeben hätte. Er nahm seine Weste und ging durch die menschenleere Werkstatt nach draussen. Das efeubewachsene Wohnhaus lag auf demselben Grundstück. Rasch duschte er, rasierte sich frisch und warf sich in Schale. Im Spiegel sah er einen gutaussehenden, hochgewachsenen Mann, der vielleicht ein wenig zu ernst dreinschaute.

Ehe er den Wagen startete, wandte er sich noch einmal nach dem Haus um, das unter dem Schutz der beiden Eichen dalag, die sein Grossvater gepflanzt hatte. Manche Rosenstöcke stammten noch aus der Zeit seiner Grossmutter. Vor zwei Jahren passierte das Drama: Victors Eltern verunglückten tödlich. Mit 28 Jahren stand Victor ganz allein vor der Aufgabe, den Familienbetrieb weiterzuführen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er gescheitert war, und es war kein Trost zu wissen, dass die Zeiten schwer waren für ein solches Unternehmen.

Er hatte noch die dröhnende Stimme seines zukünftigen Schwiegervaters im Ohr: “Mein Junge, als Betriebswirt solltest du wissen, dass eine derart arbeitsaufwendige Produktion keine Zukunft hat. Deine Möbel sind zu teuer!”

“Aber sie sind ihr Geld wert,” hatte er eingewandt. “Solche Möbel werden von Generation zu Generation weitervererbt.”

Herr Sülwald hatte gelacht: “Heute wollen die Leute lieber mal was Neues. Möbel wie die, die ich in meiner Firma herstelle. Daran verdienen wir. So funktioniert die Wirtschaft, mein Lieber.”

Vielleicht sollte er froh sein, dass Tricias Vater seinen Betrieb kaufen wollte, zumal er ja versprochen hatte, keine Kündigungen auszusprechen. Alle sollten im Sülwaldschen Unternehmen unterkommen. Die gesicherte Zukunft seiner Angestellten war Victor mindestens so wichtig wie das angenehme Leben, das er Tricia auf diese Weise ermöglichen konnte.

Herr Sülwald hatte betont: “Ich gebe dir gutes Geld für deinen Laden. Dafür kauft ihr euch eine schöne Villa, Tricia und du. Und ich stelle dich für ein anständiges Gehalt in meiner Firma ein.”

Tricia kam ihm in der Halle entgegen. Sie trug ein fliessendes, gletscherfarbenes Haute Couture-Kleid, das genau zur Farbe ihrer kunstvoll umrandeten Augen passte. Ihr Mund schimmerte verführerisch rot, ihr blondes Haar war hochgesteckt, was ihren schlanken Hals und ihre gebräunten Schultern vollkommen zur Geltung brachte. Die schöne Tricia brachte es fertig, gleichzeitig schutzbedürftig und unnahbar zu erscheinen, und wieder einmal schwor er sich, sie glücklich zu machen. Sie reichte ihm ihre parfümierte Wange zum Kuss und klagte: “Was hast du denn so lange gemacht?”

“Ich hab’ über mein Unternehmen nachgedacht.”

Sie zuckte die Achseln. “Wozu? Es wird doch sowieso geschlossen. Jetzt komm, sie haben schon angefangen zu tanzen!”

Erst um halb drei lag er in seinem Bett, nach einem kleinen Streit mit Tricia, die nicht einsehen wollte, warum er nicht bei ihr blieb, das heisst, im Haus ihrer Eltern. Er hatte Tricia mehr als einmal vorgeschlagen, bei ihm zu wohnen oder eine gemeinsame Wohnung zu mieten, die allerdings nicht sehr teuer sein durfte. Tricia hatte beides abgelehnt. Trotz seiner Liebe zu ihr erfüllte ihn auf einmal eine tiefe Traurigkeit.

Er dachte daran, wie er sie vor einem Jahr kennengelernt hatte. Sie stand am Strassenrand neben ihrem verunglückten Wagen, war selbst wie durch ein Wunder unversehrt. Nachdem Victor dafür gesorgt hatte, dass der Wagen in die nächste Werkstatt abgeschleppt wurde, hatte Tricia ihn gebeten, sie zur Party zu begleiten, zu der sie eingeladen war. Dort hatten sie sich ineinander verliebt. Wenig später hatte Tricia ihn ihren Eltern vorgestellt. Er wurde mit offenen Armen aufgenommen. Herr Sülwald vertraute ihm an, dass sein Töchterchen bisher wenig Glück mit Männern hatte: “Alles Nieten, Schmarotzer und Mitgiftjäger!”

In gewisser Weise fühlte er sich selbst als Schmarotzer, denn sein Schwiegervater würde ihm ja finanziell unter die Arme greifen, damit er Tricia eine angenehme Existenz bieten konnte, aber er würde hart dafür arbeiten, selbst wenn es ihn bedrückte, in Zukunft die seelenlosen Möbel seines Schwiegervaters herstellen zu müssen. Er wusste, dass es den Tischlern seines Betriebs genauso ging, aber dass auch sie darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Wenige Stunden später atmete er in der Werkstatt das Duftgemisch aus Holz, Klebemitteln, Lacken und Holzschutzmitteln ein, das ihn schon in seiner ganzen Kindheit begleitet hatte. Er wechselte gerade ein paar Worte mit einem Tischler, als er ans Telefon gerufen wurde.

“Victor Jahns”, meldete er sich.

“Sandy Franke”, erwiderte eine fröhliche Stimme. “Dürfte ich Ihnen einige Entwürfe vorlegen?”

“Entwürfe für Möbel?” erkundigte er sich.

“Nein, ich bemale sie. Schänke, Truhen, Kommoden …”

“So etwas haben wir nie gemacht”, zögerte er.

“Könnten Sie aber doch. Ich habe zufällig eine Kommode gesehen, die aus Ihrer Werkstatt stammt. Sie ist hervorragend gearbeitet.”

“Und kostet ein kleines Vermögen”, meinte er bitter. Er wollte ihr sagen, dass sein Unternehmen nicht mehr lange bestehen würde, aber sie drängte: “Ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein!”

“Gut”, kapitulierte er, “ich erwarte Sie.”

Sofort machte er sich Vorwürfe. Sie würde den Weg umsonst machen. Er nahm sich vor, ihr wenigstens die Auslagen zu ersetzen.

Pünktlich eine halbe Stunde später stand sie in seinem Büro. Sie war mittelgross und auf eine zupackende Art schlank. Aus haselnussbraunen Augen sah sie ihn aufmerksam an. Sie hatte ein natürliches, frisches Gesicht und langes, lockiges Haar. Jetzt blickte sie auf seinen mit Papieren übersäten Schreibtisch: “Wo kann ich meine Mappe hinlegen?”

“Hören Sie, ich hätte Sie nie kommen lassen dürfen. Der Betrieb wird nämlich bald schon zumachen.”

“Zumachen? Für immer? Das werden Sie doch wohl nicht zulassen?” Sie klang empört.

“Ich muss wohl.”

“Aber jetzt bin ich hier, und Sie können sich doch genausogut meine Arbeiten ansehen?” Sie schob einfach selbst vorsichtig die Papiere beiseite und legte die grosse grüne Mappe auf den freien Platz. Blatt für Blatt legte sie ihm ihre Entwürfe und die Fotos der von ihr bemalten Möbel vor, und er war gegen seinen Willen beeindruckt. Er hatte schon bemalte Bauernschränke und Truhen gesehen, aber nie so phantasievoll und in so wunderbaren Farben.

“Die Möbel, die ich bemalt habe, waren nicht so schön wie die, die Sie herstellen. Ich musste mich aus Geldmangel mit preiswerterem Material begnügen, aber ich hab immer Käufer dafür gefunden. Wenn ich jetzt Ihre Möbel bemalen darf, dann bin ich sicher, dass … dass diese Partnerschaft für uns beide von Nutzen sein wird.” Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, und er spürte auf einmal eine tiefe Freude, wie sie ihn seit langem nicht erfüllt hatte.

“Kommen Sie”, sagte er kurz entschlossen.

In der Werkstatt fanden sie eine Truhe. Verliebt fuhr Sandy über das rohe Holz, roch daran: “Hmm, Zedernholz. Genau das richtige Material für eine Truhe, es hält die Motten fern.”

“Bemalen Sie sie”, lächelte Victor, und spontan fuhr er fort: “Bald wird mir hier nichts mehr gehören, aber diese Truhe, die schenke ich ihnen, Sandy.”
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Sie fanden einen Raum, in dem Sandy ungestört arbeiten konnte. Manchmal kam Victor, um ihr zuzusehen. Oft bemerkte Sandy nicht einmal seine Gegenwart. Aber jemand anderes bemerkte die ihre: Als Tricia ein paar Tage später Victor abholte und Sandy entdeckte, kam sie in Victors Büro gestürmt: “Wer ist diese Person, die da eine Truhe bemalt?”

“Eine Künstlerin. Sie heisst Sandy Franke.”

“Warum hast du ihr Arbeit gegeben?”

“Weil es mir gefällt, was sie macht.”

“Und die Truhe willst du natürlich nachher verkaufen?”

“Ich hab sie ihr geschenkt.”

Tricia schnappte nach Luft: “Das kannst du nicht. Du weisst, dass Papa von seinen Anwälten den Kauf deines Betriebs vorbereiten lässt!”

“Noch gehört er mir, Liebes.”

“Und wie kommt es, dass ich nichts von dieser … Frau weiss?”

“Tricia, du hattest keine Zeit in dieser Woche. Du hast es mir selbst gesagt. Komm, ich stell dir Sandy vor.”

“Sandy? Du nennst sie schon beim Vornamen?”

“Ja, sie mich auch”, sagte er ehrlich. Irgendwie hatte es sich so ergeben, und es war ihm ganz natürlich erschienen.

Tricia übersah Sandys Hand, die diese sorgfältig mit einem terpentingetränkten Lappen gesäubert hatte.”Es freut mich, Sie kennenzulernen”, sagte Sandy trotzdem freundlich.

Tricias Augen waren kalt: “Dieser Betrieb wird bald meinem Vater gehören, Fräulein …”

“Franke”, halfen Victor und Sandy wie aus einem Mund aus.

“Komm schon Tricia, Sandy weiss es”, meinte Victor versöhnlich.

“Ich finde es jammerschade, wenn eine solche Qualitätsarbeit nicht mehr hergestellt wird.” Sandys Stimme war klar und fest.

“Mein Vater kauft den Berieb aus reiner Gefälligkeit, er zahlt einen guten Preis dafür, nur um ihn stillzulegen.”

“Und wem kommt das Geld zugute?”

“Meinem Verlobten und mir, natürlich. Aber ich weiss gar nicht, warum ich Ihnen hier Rede und Antwort stehe. Komm, Victor, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir sind nämlich heute Abend eingeladen, Fräulein Franke.”
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“Das war also Ihre Verlobte?” fragte Sandy am nächsten Tag.

“Sie ist nicht immer so”, verteidigte Victor sie.

Sandy antwortete nicht, wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Nach einer Weile meinte sie: “Wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Betrieb niemals verkaufen. Gehen die Geschäfte denn wirklich so schlecht?”

“Wir kommen nur noch so eben über die Runden, und es geht abwärts. Es ist abzusehen, wann ich die Gehälter nicht mehr zahlen kann. Tricias Vater hat zugesagt, die ganze Belegschaft in seinem Betrieb unterzubringen. Mich inklusive.”

“Und daran glauben Sie?”

“Ich habe keine Wahl.”

Sandy schüttelte den Kopf: “Warum kämpfen Sie nicht? Ich glaube fest daran, dass bessere Zeiten für Ihren Betrieb kommen werden. Immer mehr Leute wollen keine Wegwerfware mehr.”

Er zuckte die Achseln. “Selbst wenn, Tricia will nicht warten. Sie möchte nicht einmal in meinem Haus wohnen.”

“Aber es ist wunderschön!”

“Wunderschön, aber stark renovierungsbedürftig. Tricia möchte eine moderne Villa mit allem Komfort.”

“Sie werden das bereuen”, sagte Sandy fest.

Er wusste plötzlich, dass sie recht hatte. Aber er trug Verantwortung für Tricia. Und für seine Angestellten. Sandy war jung, steckte voller Pläne und Illusionen. Verglichen mit ihr fühlte er sich uralt, von der Verantwortung erdrückt. Nein, er musste Herrn Sülwald dankbar sein für sein Angebot.

Einen Monat später gab Tricia eine grosse Fete zu ihrem 26. Geburtstag. Sie hatte in letzter Zeit wenig Zeit gehabt für Victor, und wenn sie sich sahen, war sie merkwürdig kühl. Victor grübelte, was er falsch gemacht hatte. Mehrere Male hatte er vergeblich versucht, mit ihr zu sprechen, um eventuelle Missverständnisse auszuräumen. Der Geburtstag, das wurde ihm gleich klar, als er die Halle der Sülwaldschen Villa betrat, war besonders ungeeignet, um Zwiesprache zu halten. Er hatte in einem Strauss roter Rosen eine Schachtel mit einer Kette versteckt, dessen Glieder aus goldenen Herzen bestanden. Ihm war bewusst, dass Tricia viel kostbareren Schmuck besass, aber die Herzen sollten ihr sagen, dass er sie liebte.

Tricia gab den Strauss sofort an das Mädchen weiter.

“Es steckt was drin”, sagte er.

Sie fand die kleine Schachtel, öffnete sie aber nicht, sondern legte sie achtlos beiseite.

“Tricia”, sagte er. “Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich liebe dich!”

Auf einmal lächelte sie weich, aber das Lächeln galt nicht ihm. Ihre Augen gingen an ihm vorbei. Victor drehte sich um. Ein elegant gekleideter, blendend aussehender Mann stand dort. Er näherte sich Tricia, nahm sie in die Arme und küsste sie - und Tricia erwiderte hingebungsvoll seinen Kuss. Victor stand da wie erstarrt. Was hatte das zu bedeuten? Was ging hier vor sich?

“Geh’ schon mal rein, ich komme gleich”, wies Tricia ihren Kavalier an und wandte sich dann an Victor. “Es tut mir leid, Victor, aber … wir haben uns beide geirrt.”

“Tricia, ich habe mich nicht geirrt.”

“Aber ich”, erwiderte sie bestimmt. “Robert kann mir problemlos ein sorgenfreies Leben bieten. Sieh dir das Armband an, das er mir geschenkt hat!”

Victor warf einen Blick auf den rubinbesetzten Platinreifen und dachte mit einem Ziehen im Herzen an seine bescheidene Kette. Jetzt wünschte er, sie möge die Schachtel nie öffnen. Sie würde sich über sein liebevoll ausgesuchtes Geschenk lustig machen. “Ja dann”, sagte er und holte tief Luft, während Enttäuschung und Qual seine Brust zerrissen, “dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir Glück zu wünschen.”

“Danke, Victor”, lächelte sie erleichtert. “Du verstehst sicher auch, dass Papa unter diesen Umständen nicht mehr deinen Betrieb kaufen wird?”
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Sandy war noch da, als er die Werkstatt betrat. Die Truhe war ein kleines Wunderwerk geworden, sie war jetzt dabei, einen Schrank zu bemalen. Der vertraute Geruch von Holz und Terpentin war wie Balsam für sein wundes Herz.

“Schon wieder zurück?” fragte sie und sah ihn aufmerksam an: “Ist etwas … passiert?”

Auf einmal war ihm leichter zumute. Es war vielleicht ein Glück, nein, es war sicher ein Glück, dass er sein kleines Unternehmen behielt: “Tricia hat sich mit jemandem anderen verlobt. Mit jemandem, dem man kein Geld geben muss, um die eigene Frau standesgemäss zu unterhalten.”

Sandy stand in ihrem farbbeklecksten Kittel vor ihm, und ihre Augen blickten ganz sanft: “Tut es sehr weh?” fragte sie leise.

Er reckte sich, schüttelte den Kopf und lachte ein bisschen: “Nein, nicht so sehr, wie ich fürchtete.”

Er merkte plötzlich, dass ihre Begeisterung und Energie ihn angesteckt hatten: “Bitte, bemal’ noch ein paar Möbel. Wir stellen sie auf der nächsten Messe aus, zusammen mit ein paar anderen Möbeln aus der Werkstatt. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht mit vollen Auftragbüchern zurückkommen würden.”

Sie blitzte ihn vergnügt an: “Als dynamischer Unternehmer gefällst du mir viel besser als als Tricias ergebener Verehrer. Auf mich kannst du zählen!”

Und zum ersten Mal kam ihm die Ahnung, dass das wirkliche Glück vor ihm stand. Zum Greifen nah …

ENDE

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