Freitag, 28. Dezember 2012
FALSCH GEWÄHLT - RICHTIG VERBUNDEN
Es gibt Momente, da geht wirklich alles schief. Karen kann ein Lied davon singen. Nicht nur, dass ihr Freund sie betrügt - bei dem Versuch, ihm telefonisch eine Szene zu machen, verwählt sie sich auch noch …
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Es war schon fast Mitternacht, als Lennart endlich die Fachzeitschrift aus der Hand legte, um ins Bett zu gehen. In dem Augenblick klingelte das Telefon. Wer mochte das so spät noch sein? Er nahm ab und räusperte seine belegte Stimme frei.

Bevor er sich jedoch melden konnte, stammelte eine tränenerstickte weibliche Stimme: “Endlich bist du da, du verdammter Mistkerl! Ich wollte dir sagen, dass endgültig Schluss ist! Bitte, komm mir nicht mehr mit dummen Ausreden und Entschuldigungen! Ich hab dich heute mit deiner neuen Flamme in der Stadt gesehen …”

“Hallo”, unterbrach er sie so behutsam wie möglich, “ich fürchte, Sie sind falsch verbunden.”

Stille. Er hatte plötzlich Angst, dass die so verzweifelt klingende Fremde einfach aufgelegen könnte. “Bitte, bleiben Sie dran,” bat er und suchte hastig nach etwas Tröstendem, das er ihr sagen könnte.

Er hörte ein Seufzen, das halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Lachen klang. “Bei mir geht heute aber auch alles schief. Nicht mal eine Telefonnummer kann ich richtig wählen.”

“Es ist nie so schlimm, wie man denkt. Es gibt immer einen Ausweg und ein Licht irgendwo”, hörte er sich sagen. Keine Ahnung, woher er mit einem Mal diese Gewissheit nahm.

“Danke für Ihren Trost. Im Moment sehe ich zwar kein Licht, aber das ist nicht Ihre Schuld. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung …”

Wieder hatte er Angst, sie könnte auflegen. “Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen”, sagte er rasch. “Es klingt vielleicht seltsam, aber … könnten wir uns treffen?”

“Uns treffen?” wiederholte sie überrascht. “Ich weiss nicht. Wir kennen uns doch gar nicht.”

“Das liesse sich leicht ändern. Um den Anfang zu machen: “Ich heisst Lennart Lübcke.”

“Also gut, ich bin Karen Bornstedt.” Es klang, als lächelte sie ein bisschen, und das stimmte ihn froh.

“Ich bin Banker”, fuhr er fort, “und 33 Jahre alt.”

“Ich arbeite in einer Kunstgalerie und bin 29.”

“Hören Sie, morgen ist Samstag. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?” Er nannte ein Café in der Innenstadt, fügte hinzu, dass er mittelgross sei und kurzes brünettes Haar habe. Als Erkennungszeichen schlug er eine aufgerollte Zeitung vor. Um vier würde er dort sein und auf sie warten.

Misstrauisch fragte sie: “Machen Sie so etwas oft?”

“Es ist das erste Mal, und selbstverständlich verpflichtet es Sie zu nichts. Also, kommen Sie?”

“Ich weiss nicht genau. Mal sehen”, erwiderte Karen unentschlossen. “Gute Nacht.” Rasch legte sie auf.
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Am nächsten Tag traf sich Karen mit ihrer Freundin Andrea zum Mittagessen in der Stadt. “Also, du hast dich verwählt, und da ist dieser Typ am Apparat und bittet dich um ein Treffen. Du, das finde ich irre romantisch! Natürlich gehst du hin. Was riskierst du schon, Karen? Sieh ihn die wenigstens an!” begeisterte sich Andrea.

“Ich habe beschlossen, Achim noch eine Chance zu geben”, zögerte Karen. “Womöglich war er es gar nicht, den ich in der Stadt gesehen habe. Die beiden waren ziemlich weit weg. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass ich mich verwählt habe?”

Entgeistert sah Andreas sie an. “Du bist wirklich unverbesserlich. Achim hat doch gar keine Zeit mehr für dich. Dauernd ist sein Anrufbeantworter eingeschaltet, das hast du mir selbst erzählt. Warum entschuldigst du ihn immer?”

“Weil ich ihn liebe”, erwiderte Karen kläglich.

Andrea verdrehte die Augen: “Du möchtest heiraten und Kinder haben und suchst dir immer die falschen Männer aus.”

“Du hast gut reden, du hast Glück mit deinem Florian. Aber so einen Mann gibt’s kein zweites Mal.”

“Natürlich gibt’s ihn”, lachte Andrea. “Man muss ihn nur finden. Und jetzt versprich mir, zu dem Treffen zu gehen. Damit du mir davon erzählen kannst. Ich sterbe vor Neugier!”
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Der einzige Mann, der im Café eine aufgerollte Zeitung vor sich auf dem Tisch liegen hatte, war tatsächlich nur mittelgross. Er sah gepflegt aus, war gut angezogen, sah sympatisch, aber nicht so umwerfend gut aus wie Achim. Und sein Gesicht wirkte etwas melancholisch.

Sie war froh, die Zeitung hinter ihrem Rücken verborgen zu haben. Am besten machte sie sofort kehrt, selbst wenn sie Andrea damit um ihre Story bringen würde.

Auch Lennart hatte die junge blonde Frau gesehen, die das Café betreten und sich suchend umgeblickt hatte. Als er sah, dass sie keine aufgerollte Zeitung bei sich trug, atmete er vor Erleichterung auf. Dadurch wurde ihm einmal mehr bewusst, wie gross - und vergeblich - seine Hoffnung war, dass eines Tages eine zweite Amelie in sein Leben treten würde. Diese Frau sah Amelie überhaupt nicht ähnlich. Jetzt wandte sie sich um und wollte das Café wieder verlassen. Dabei fiel etwas zu Boden.

Er sprang auf, um es aufzuheben. Es war eine zusammengerollte Zeitung.

“Danke”, murmelte Karen und wurde knallrot, als er sie ihr überreichte.

“Sie sind also Karen Bornstedt”, stellte er fest.

“Ja”, gab Karen zu, “und Sie sind ehrlicher als ich. Sie hatten die Zeitung offen auf dem Tisch liegen.”

“Ich schätze, Sie wollten erst mal die Lage peilen. Und was Sie gesehen haben, entspricht nicht …”

“Verzeihen Sie”, unterbrach sie ihn und fügte verlegen hinzu: “Sie sind so anders als mein Freund.”

“Der Freund, dem Sie gestern Nacht den Laufpass gegeben haben?”

“Das habe ich ja nun nicht”, erwiderte sie.

Plötzlich dachte er an seine eigene Enttäuschung und schlug vor: “Finden Sie nicht, dass wir uns trotzdem eine Weile Gesellschaft leisten könnten? Setzen Sie sich doch bitte.”

Höflich rückte er ihr den Stuhl zurecht. Kaffee? Oder ein Gläschen Sekt? Und auch etwas zu essen?”

“Kaffee, und ein Stück Bienenstich, bitte.”

“Zweimal Kaffee und zweimal Bienenstich”, bestellte Lennart bei der Bedienung. Und an Karen gewandt: “Bienenstich ist nämlich auch mein Lieblingskuchen.” Er lächelte zum ersten Mal.

“Ich weiss, wie Ihnen vorhin zumute war”, fuhr er fort, als die Bedienung gegangen war. “Ich hatte mir ähnliche Illusionen gemacht und gehofft, in Ihnen meiner Verlobten wiederzubegegnen.”

“Sie waren verlobt?”

“Ja, Amelie ist eine Woche vor unserer Hochzeit an einem Gehirnschlag gestorben. Das war vor fast drei Jahren.”

“Das tut mir leid.” Karen war ehrlich betroffen.

“Sie war klein, zierlich und hatte rabenschwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. Sie trug eine lustige, türkisfarbene runde Brille, die ihr immer von der Nase rutschte. Und sie lachte so gern. Ich liebte ihr Lachen.”

“Und ich bin gross, habe blondes Haar, trage keine Bille, sondern Kontaktlinsen. Und ich wirke kühl, stimmt’s?” Sie lächelte auch, dann seufzte sie: ” Ich leide selbst darunter, so unnahbar zu wirken, weil ich es eigentlich gar nicht bin. Das liegt an meinen vielen Komplexen und daran, dass ich immer das Gefühl habe, mich schützen zu müssen.” Es war das erste Mal, dass sie das jemandem anvertraute. Und noch dazu einem Mann!

“Hat man Sie oft verletzt, Karen?” fragte Lennart mitfühlend.
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“Das erste Mal war ich gerade elf Jahre alt. Da verliess mein Vater meine Mutter und mich, um eine andere Frau zu heiraten”, erzählte Karen. “Später habe ich mich dann immer in die falschen Männer verliebt. Typen, die mich nur unglücklich gemacht haben. Vielleicht ist es dumm, aber anscheinend sind für mich nur Männer interessant, die mit meinen Gefühlen spielen.”

“Dann ist es also nur logisch”, schmunzelte Lennart, “dass ich für Sie nicht interessant bin.”

Die Serviererin brachte den Kaffee und den Kuchen. Lennart schenkte fürsorglich ein. Er hatte gepflegte Hände, und seine Bewegungen waren präzise und ruhig. Vertrauenswürdige, warme Hände, dachte Karen unwillkürlich.

“Erzählen Sie mir bitte von Ihrem Beruf”, bat sie.

Er hatte nach einer Banklehre ein Wirtschaftstudium absolviert. Nach Amelies Tod hatte er ein Jahr in Australien gearbeitet, und nun erklomm er in seiner Bank die Stufen der Erfolgsleiter. “Die Arbeit war das einzige, das mich von meiner Trauer um Amelie ablenkte.”

Karen erzählte ihm, dass sie vier Semester Kunstgeschichte studiert hatte. “Dann musste ich Geld verdienen und habe zum Glück eine Stelle in einer Kunstgalerie gefunden. Aber mein Traum ist es, eines Tages eine eigene Galerie zu eröffnen.”

Anschliessend berichtete Lennart von seinen Reisen: Florenz, Rom, Paris. Karen war beeindruckt von seinem kulturellen Interesse, seinen Kunstkenntnissen, seinem Urteilsvermögen. Plötzlich hatte sie Lust, ihn fröhlich zu sehen. Sie gab ein paar Anekdoten aus der Galerie zum Besten und freute sich, als Lennart tatsächlich lachte. Das Lachen zauberte sympathische Fältchen in seine Augenwinkel, und der Anflug von Melancholie war ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Fröhlich lachte Karen mit ihm. Das Eis war endgültig gebrochen.

Unvermutet hielt Karen mitten im Satz inne. Lennart folgte ihrem Blick. Ein hochgewachsener, lässig sportlich gekleideter Mann hatte das Café betreten. Er war in Begleitung einer jungen Frau, die aussah, als wäre sie geradewegs dem Titelblatt einer Modezeitschrift entsprungen.

“Kennen Sie ihn?” fragte Lennart flüsternd.

“Das ist … das ist Achim, mein Freund”, antwortete Karen gepresst. “Mit … mit seiner neuen Freundin.”

Ganz kurz legte Lennart seine Hand auf die ihre: “Karen, ich mag eine so erfrischend natürliche Frau wie Sie tausend Mal lieber als diese aufgetakelte künstliche Kreatur.”

In diesem Moment sah Achim sie. Er liess seine Freundin einfach stehen und kam an ihren Tisch: “Hey, Karen. Wie ich sehe, bist du in Begleitung?”

Lennart hatte seine Hand zurückgezogen, aber Karen spürte immer noch ihren warmen Druck. Sie fühlte sich plötzlich entspannt und total ruhig. Fast musste sie grinsen. “Darf ich bekanntmachen? Achim Borsum -Lennart Lübcke. Willst du uns nicht deine neue Freundin vorstellen, Achim?”

Achim würdigte Lennart keines Blickes. Honigsüss lächelte er Karen an. “Sie bedeutet mir rein gar nichts, Karen, das weisst du doch hoffentlich?”

Zum ersten Mal fiel Karen auf, dass nur Achims Mund lächelte, seinen Augen aber kalt und berechnend blieben. Gelassen erwiderte sie: “Ich bezweifle das, Achim. Es ist auch nicht mehr wichtig. Jetzt bist du es nämlich, der mir nichts mehr bedeutet.”

“Ach, und seit wann?” fuhr Achim auf.

“Genau seit heute.”

Achims Kiefern malmten, er war nie ein guter Verlieren gewesen, dachte Karen. Dann drehte er sich wortlos um und verliess mit seiner Freundin das Lokal.

Karen fühlte Torstens Blick auf sich ruhen. In ihm lag alle Liebe und Zärtlichkeit dieser Welt. Andrea hat recht, dachte sie, als sie erneut seine Hand auf der ihren spürte: “Es gibt Männer, auf die man sich verlassen kann und die die Gabe haben, eine Frau glücklich zu machen. Man muss sie nur finden …

ENDE

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