Montag, 14. Januar 2013
EINLADUNG NACH MELBOURNE
Der erfolgreiche Krimi-Autor Klaus hat Ilonas Herz gewonnen, doch in letzter Zeit benimmt er sich merkwürdig. Da kommt der smarte Oliver mit einer verlockenden Einladung nach Australien gerade recht …
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“Klaus, sieh’ mal!” Ilona Jochim schwenkte einen Luftpostbrief in der Hand. Er warf einen Blick auf den Absender. “Aus Australien? Von diesem Oliver? Was will er?” fragte er knapp. Er erinnerte sich allzu gut an den blendend aussehenden Oliver Bertram, der im Sommer geschäftlich in der Maschinenfabrik zu tun hatte, in der Ilona als Sekretärin arbeitete. Er hatte ihn ein paarmal gesehen, das hatte ihm genügt.

Sie lächelte Klaus an, zog den Bogen heraus und las: “Liebe Ilona. Ich denke oft an den letzten Sommer in Bremen zurück. Sie haben sich reizend und kompetent um mich gekümmert. Hätten Sie Lust, heute mein Gast in Melbourne zu sein? Selbstverständlich gilt diese Einladung auch für Ihren Freund Klaus Hardege. In aufrichtiger Freundschaft, Ihr Oliver Bertram.”

Sie sah ihn an: “Wie findest du das?” fragte sie aufgeregt.

Klaus machte ein abweisendes Gesicht: “Du weisst, dass ich an meinem neuen Krimi arbeite.” In Wirklichkeit hatte er eine Schreibblockade, die ihm seit nun schon über drei Wochen schwer zu schaffen machte. Trotzdem verbrachte er Stunden an seinem Computer – um hinterher die paar Seiten, die er zustande gebracht hatte, zu löschen.

“Du bist erst 33, und du lebst nur noch, um zu schreiben. Du musst doch auch etwas erleben, um schreiben zu können, und hier ergibt sich eine Gelegenheit. Bitte, komm mit!”

“Oliver würde enttäuscht sein”, brummte Klaus.

Sie sah ihn verständnislos an.

“Loni”, erklärte er ihr, “er hat schon im Sommer nur daran gedacht, wie er dich in sein Bett bekommt.”

“Wie kannst du so etwas sagen?” funkelte sie ihn empört an. “Oliver ist ein Gentleman!”

Jedes Wort tat ihm weh, und wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr er Ilona liebte und wie schön sie war. Er hatte nie begriffen, was sie an ihm fand. Er war zwar kräftig, aber nur mittelgross, weit davon entfernt, so gut auszusehen wie dieser verdammte Oliver, und zu allem Überfluss bekam er schon Geheimratsecken. Sie hatten sich vor sechs Monaten kennengelernt. Er musste zu seinem Verleger nach Hamburg und hatte angehalten, weil er ein Auto im Strassengraben sah. Ilona hatte unversehrt, aber geschockt, danebengestanden. Ein Raser hatte sie bei einem riskanten Überholmanöver von der Strasse abgedrängt.

Er hatte ihr geholfen und sich dabei in sie verliebt. Verliebt wie noch nie in seinem Leben. Und irgendein Wunder hatte gewirkt, dass sie seine Gefühle erwiderte. Er traute immer noch nicht seinem Glück, selbst wenn sie es war, die vor zwei Monaten vorgeschlagen hatte, dass sie doch zusammenziehen sollten.

Jetzt war Ilona zornig: “Klaus Hardege. Wir sind nie auch nur einmal miteinander verreist, seit wir uns kennen. Nicht einmal für ein Wochenende! Ich habe nicht die Absicht, mich für den Rest meines Lebens hier in Bremen zu vergraben. Ich werde fahren. Auch ohne dich!”
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Oliver Bertram lächelte sie mit blitzenden Zähnen in seinem braungebrannten Gesicht an: “Willkommen in Melbourne, schöne Ilona. Sie sehen bezaubernd aus. Wie schade, dass Ihr Freund nicht mitkommen konnte!”

Sie wünschte, Klaus hätte das gehört.

Olivers Geländewagen stand auf dem Parkplatz. Mit gekonntem Schwung warf er ihren Koffer hinein und lächelte ihr zu, als er sich neben sie ans Steuer setzte. “Los geht’s!”

Ihre Müdigkeit war schlagartig verflogen, als sie durch die Innenstadt von Melbourne fuhren. Sie bestaunte die alten Tramways und die gepflegten Grünanlagen. Der absolute Höhepunkt war jedoch Olivers Haus: eine zauberhafte viktorianische Villa mit Blick auf die Bucht.

Oliver riss sie aus ihrer versunkenen Betrachtung: “Möchten Sie Ihr Reich sehen?” fragte er liebenswürdig.

Ihr “Reich” entpuppte sich als ein hübsch eingerichtetes Gastzimmer mit eigenem Bad. Sie konnte es sogar abschliessen. Das war doch ein Beweiss, dass Oliver ein Gentleman war?

Ihr Koffer stand schon da, und Oliver entschuldigte sich: “Ich muss nochmal kurz in die Firma, aber Sie möchten sich sicher frisch machen und etwas ausruhen. In einer Stunde bin ich zurück, dann gehen wir essen.”

Der Abend in einem französischen Restaurant wurde zu einem vollen Erfolg. Der Wein stimmte Ilona fröhlich, was ihr gut tat nach der angespannten Atmosphäre zu Hause. Aber Oliver nutzte ihren Schwips in keiner Weise aus, nicht einmal, als sie in seinem Haus zurück waren. Er wünschte ihr eine gute Nacht und machte eigenhändig die Tür ihres Zimmers hinter ihr zu.

Am nächsten Tag besichtigten sie Polly Woodside, das Kunstzentrum des Staates Victoria. An diesem Abend führte Oliver sie in ein chinesisches Restaurant aus, und diesmal hauchte er ihr vor ihrem Zimmer einen zärtlichen Gutenachkuss auf die Stirn.

Am nächsten Morgen war sie etwas befangen. Hatte Oliver womöglich ernste Absichten? Es war Sonntag. Sie frühstückten auf der Terrasse und fuhren anschliessend mit dem Geländewagen aus Melbourne hinaus. In einem lichtgrünen Eukalyptuswald gingen sie spazieren. Sein Arm, der manchmal den ihren streifte, liess sie nicht gleichgültig. Zumal sie, wenn sie an Klaus dachte, nur das verschlossene, fast grimmige Gesicht vor sich sah, das er in letzter Zeit machte. Liebte er sie denn überhaupt noch? Im Augenblick gefiel ihr ein Leben an Olivers Seite hier in Australien gefährlich gut.

Endlich waren sie in der Villa zurück. Inzwischen klopfte Ilonas Herz zum Zerspringen. Oliver sah ihr mit leisem Lächeln in die Augen und zog sie dann langsam in die Arme, um einen langen, leidenschaftlichen Kuss mit ihr auszutauschen. Schliesslich raunte er: “Darf ich nachher zu dir kommen, bezaubernde Ilona?”

Sie war so benommen, dass sie nur stumm nicken konnte.

Während sie auf ihn wartete, zog sie die Nachtischschublade auf. Ein in rotes Leder gebundenes Adressbüchlein lag darin. Auf dem Deckblatt stand ein Frauenname: Phyllis Brown, gefolgt von einer Telefonnummer. Wie unter Zwang nahm Ilona den Telefonhörer ab und tippte die angegebene Nummer ein.

Eine Stimme fragte leise schluchzend: “Bist du es, Oliver?”

Ilona entschuldigte sich und legte auf. Es war wie eine kalte Dusche gewesen …

Oliver Bertram war dagegen zufrieden mit sich selbst. Er war offenbar am Ziel: Ilona gehörte ihm. Er wollte gerade anklopfen, als die Tür aufgerissen wurde. Ilona starrte ihn an.

“Wer ist Phyllis Brown?” fragte sie. “Ist sie deine Freundin?”

“Wie kommst du auf Phyllis Brown?”

Sie zeigte ihm das rote Adressbüchlein. “Ich habe es im Nachttisch gefunden. Ist sie es, ja oder nein?”

“Sie ist es, aber mit Unterbrechungen.”

“Die Unterbrechungen, das bedeutet, wenn Sie mit einer anderen Frau schlafen wollen?”

“Was ist dabei?” verteidigte er sich gereizt. “Phylis und ich sind nicht verheiratet. Ich bin frei. Sie ist es auch.”

Oliver wollte sie in die Arme ziehen, aber sie wich zurück. Sie hörte wieder das unterdrückte Schluchzen am Telefon. Der Gedanke, dass eine Frau ihretwegen unglücklich war, war ihr unerträglich. Und sie hatte geglaubt, dass Oliver sie liebte, dass er ernste Absichten hatte!

Sie lief ins Zimmer zurück und begann, ihren Koffer zu packen.

“Was machen Sie denn da?” fragte er irritiert und wurde dann laut: “Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie besuchen mich ohne Ihren Freund und wundern sich, dass ich mir gewisse Hoffnungen mache?”

“Sie haben recht, verzeihen Sie mir.”

Er besann sich: “Schon gut, lassen Sie doch das Packen. Wo wollen Sie denn hin mitten in der Nacht? Warten Sie bis morgen früh. Ich werde Sie nicht mehr belästigen. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten, denn ich muss zeitig in die Firma, werfen Sie bitte die Schlüssel unten in der Briefkasten. Gute Nacht, Ilona!”

Sie schloss das Zimmer ab, legte sich in’s Bett und zog die Decke über sich. Sehnsucht nach Klaus überflutete sie. Sie dachte daran, wie Klaus ihr damals nach dem Unfall geholfen hatte, wie umsichtig er vorgegangen war. Sie hatte sich immer auf ihn verlassen können, und wenn er sie in die Arme nahm, war er der zärtlichste und rücksichtsvollste Mann, den sie sich vorstellen konnte. Es wäre jetzt vielleicht an ihr gewesen, ihn zu fragen, warum er so anders war, ob er irgendwelche Sorgen hatte … Aber diese Einsicht kam zu pät. Sie konnte ihn nicht einmal um Verzeihung bitten. So etwas konnte kein Mann verzeihen …

Sie wusste nicht, wann sie endlich eingeschlafen war. Als sie aufwachte, war alles ruhig. Oliver war fort. Sie bestellte ein Taxi zum Flughafen, hoffte, noch heute einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen und ging mit ihrem Koffer nach unten, um zu warten.

Zu ihrer Überraschung war das Taxi schon da. Die Tür ging auf - und Ilona riss die Augen auf. “Klaus”, stammelte sie. “Was ist … du bist nun doch gekommen?”

Er hingegen sah auf ihren Koffer und fragte besorgt: “Geht es dir gut, Loni? Was ist passiert?”

Ihre Knie zitterten so, dass sie sich auf den Koffer setzen musste: “Ich hätte auf dich hören sollen”, sagte sie leise, und dann erzählte sie ihm alles. Klaus hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen.

“So eine dumme Gans wie mich gibt’s kein zweites Mal”, schloss sie traurig.

“Und vor dir steht der grösste Hornochse der Welt”, lächelte er schwach. “Ich begreife nicht, wie ich dich so einfach gehen lassen konnte. Ich sass da in Bremen und verstand mich selbst nicht mehr.” Er zog sie sanft an sich und flüsterte in ihr Haar: “Du bist das Wunderbarste, das mir je im Leben begegnet ist, und ich hab’ dich diesem Oliver förmlich in die Arme getrieben! Und weisst du warum? Weil ich seit drei Wochen eine totale Schreibblockade hatte, die mich fast wahnsinnig machte. Ich hätte dir das viel früher erzählen sollen, statt nur meinen Frust rauszulassen. Es gibt noch so viel zu lernen für mich, Ilona. Ich habe den nächsten Flug gebucht und bin fast verrückt geworden vor Angst, dass dieser Kerl dir weh tun könnte. Kannst du mir verzeihen, Loni? Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt!”

Sie schmiegte sich in seine Arme, die sich sanft und beschützend um sie schlossen. “Ich liebe dich doch auch, Klaus, und ich bitte dich ebenfalls um Verzeihung!”

Ihr Kuss schmeckte salzig, und sie lächelte unter Tränen: “Du, ich wollte zum Flughafen, um zu versuchen, noch für heute einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen. Jetzt brauchen wir sogar zwei Plätze!”

“Nach all den Strapazen, die ich auf mich genommen habe, soll ich gleich wieder zurückfliegen?” protestierte er und verkündete feierlich: “Unsere Ferien fangen jetzt erst an, Liebling. Wir mieten ein Wohnmobil und gehen auf Entdeckungsreise.”

“Ist das dein Ernst?” fragte sie erfreut.

“Mein voller Ernst. Ich habe nämlich vor, einen Liebesroman zu schreiben, der in Australien spielt. Live sozusagen. Ich möchte ihn dir widmen und unter meinem eigenen Namen veröffentlichen. Nicht mehr unter irgend einem wohlklingenden Pseudonym. Diese Idee ist mir während des Flugs gekommen. Und das habe ich schliesslich dir zu verdanken. Du hast mich aufgerüttelt. Eine Bedingung knüpfe ich allerdings daran.”

“Und die wäre?” Sie sah ihn gespannt an.

Er lächelte verschmitzt: “Dass es ein Happy-End gibt.” Ernst fuhr er fort: “Loni, willst du meine Frau werden?”

Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so glücklich gefühlt: “Ja”, antwortete sie überwältigt. “Von ganzem Herzen, ja.”

Als sie sich umdrehten - Klaus trug ihren Koffer und schnaufte ein wenig - rissen zwei Taxifahrer die Türen auf.

“Ach ja, ich hatte telefonisch ein Taxi bestellt”, erinnerte sich Ilona.

“Und ich habe meins warten lassen, um dich nach einem heldenhaften Zweikampf entführen zu können”, grinste Klaus.

Er entlohnte sein Taxi, gab ein grosszügiges Trinkgeld darauf und schickte es fort.

“Eins genügt”, sagte er, griff nach Ilonas Hand und fuhr mit grimmigem Gesichtsausdruck fort: ”Nie wieder Trennung, ist das klar?”

Ilona lachte zärtlich und gab ihm einen Kuss …

ENDE

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Samstag, 12. Januar 2013
EIN DINNER FÜR ZWEI
Ilka Mohr mag den netten jungen Kunststudenten Oliver aus dem oberen Stock. Sie möchte ihm helfen, seinen eigenen Weg zu finden. Aber promt bekommt sie es mit Olivers Vater zu tun ...
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“Guten Tag, Ilka. Darf ich Ihnen helfen?” Zwei kräftige Arme griffen zu, nahmen Ilka die Einkaufstüten ab, mit denen sie kämpfte, um den Fahrstuhl zu betreten.

Darüber grinste sie Olivers fröhliches Jungengesicht an. Es war der Kunststudenten aus dem oberen Stockwerk. Ilka mochte ihn.

Oliver kam bis in ihre Küche mit. Nachdem er sorgfältig die Tüten auf dem Tisch abgestellt hatte, platzte er heraus: “Würden Sie wohl bitte einen Augenblick mit hochkommen? Ich möchte Ihnen mein neustes Bild zeigen. Ich würde es herunterholen, aber es ist zu gross.”

Ilka hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Ihr grösster Wunsch war es, ihre Schuhe von den Füssen zu schleudern, sich ein heisses Bad einlaufen zu lassen und ihren feierabendlichen Drink zu geniessen. Aber wer konnte Olivers bittenden dunklen Augen widerstehen?

“Gern”, nickte sie ihm deshalb zu. Sie räumte rasch die Einkäufe fort, zog sich flache Schuhe an und folgte dem jungen Mann in seine kleine Atelierwohnung mit den schrägen Wänden.

Das grossformatige Ölgemälde, eine Ansicht der Stadt, stand auf zwei Staffeleien. Ilka betrachtete es eingehend, indem sie vor und zurück ging, während Oliver sie gespannt und etwas ängstlich beobachtete.

Schliesslich drehte sie sich zu ihm um: “Oliver, ich bin kein Kunstexperte, das weisst du ja, aber ich finde dieses Bild sehr gut, sehr originell. Also, ich drücke es einfach mit meinen Worten aus: Diese Stadt, wie du sie gemalt hast – sie hat eine Seele, sie löst etwas im Betrachter aus.”

“Danke, Ilka.” Er strahlte sie hingebungsvoll an. Sie hatte ihn im Verdacht, verliebt zu sein in sie, aber das würde schon vorübergehen, dachte sie zuversichtlich, sobald er ein nettes Mädchen in seinem Alter kennenlernen würde. Sie fand Oliver viel zu jung für sich. Er war 22, sie 35. Oliver kaute jetzt an seiner Unterlippe: “Ich würde dieses Bild gern meinem Vater zeigen, aber ich kann es nicht.”

“Und wieso nicht?” fragte sie verwundert.

“Er weiss nicht, dass ich Kunst studiere statt Betriebswissenschaften”, seufzte er bedrückt.

“Oliver, das gibt’s doch nicht! Hat er … haben Ihre Eltern Sie denn nie hier besucht?”

“Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie ist tödlich verunglückt, als ich neun war.”

“Das tut mir sehr leid, Oliver”, erwiderte sie betroffen.

“Wenn meine Mutter noch lebte, wäre alles anders”, fuhr er fort. “Meine Mutter war selbst Künstlerin. In unserem Haus hängen noch viele Bilder von ihr.”

“Das Problem ist also Ihr Vater”, nickte Ilka. Sie dachte nicht mehr an ihre Müdigkeit. Der Junge brauchte jemanden, der ihm zuhörte.

“Es gibt zwei Probleme”, fuhr Oliver schon fort. “Meinen Vater und unser Unternehmen, eine Maschinenfabrik. Mein Vater betrachtet mich als seinen Nachfolger, aber ich möchte, seit ich zurückdenken kann, nur malen!”

“Und Sie haben nie mit Ihrem Vater darüber gesprochen?”

Oliver zuckte die Ackseln: “Wir standen uns nie sehr nahe. Ich bin in Internaten grossgeworden, und in den Ferien war ich meistens bei Freunden oder Verwandten. Für meinen Vater gab es seit dem Tod meiner Mutter nur noch die Arbeit. Und ab und zu eine Affäre. Es war sein Wunsch, dass ich Betriebswirt werden sollte, und ein Wunsch von Julius kommt einem Befehl gleich. Vier Semester habe ich durchgehalten, ehe ich mich letztes Jahr in der Kunstschule einschrieb.”

“Ich nehme an, dass Ihr Vater Ihr Studium finanziert?”

“Natürlich.”

Ilka sah ihm gerade in die Augen: “Er hat, meine ich, ein Recht darauf zu wissen, wofür Sie sein Geld verwenden. Sie sollten mit ihm sprechen. Es ist eine Sache der gegenseitigen Achtung.”

Oliver wirkte niedergeschmettert: “Sie kennen meinen Vater nicht. Er ist es gewohnt, dass alles nach seinem Willen geht!”

“Den Kopf wird er Ihnen doch wohl nicht abreissen?”

“Nein, aber den Geldhahn zudrehen”, prophezeite er düster.

Fast musste Ilka lachen. “Andere verdienen sich ihr Studium auch selbst. Wenn man etwas wirklich haben möchte, muss man bereit sein, etwas dafür zu tun. Nur so können Sie Ihren Vater davon überzeugen, dass Sie ein erwachsener und eigenverantwortlicher Mensch sind!”

Sie hatte ebenfalls gearbeitet, um ihr Studium zu finanzieren. Ihre Eltern waren allerdings nicht reich, und es gab einen weiteren Gegensatz zu Oliver. Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt, und ihre Eltern hatten ihr den Rücken gestärkt. Vielleicht war sie zu hart mit dem Jungen?

Oliver dachte seinerseits nach: “Ich wollte in den Ferien mit einigen Freunden nach Griechenland, das Geld für die Reise hat mein Vater mir überher gegeben. Aber nach Ihrer Moralpredigt könnte ich die Reise nicht mehr geniessen. Ich werde also statt dessen mit ein paar Bildern zu meinem Vater fahren und mit ihm reden. Sind Sie jetzt zufrieden?”

“Oliver, Sie sollen das nicht für mich tun, sondern für sich selbst!”

Er grinste: “Das heisst, die Verantwortung für die Folgen muss ich auch selbst übernehmen?”

Ilka lächelte zurück: “Richtig. Auch das gehört zum Erwachsenensein.”
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Als sie ein paar Tage später nach Hause kam, fand sie in ihrem Briefkasten ein Kuvert mit dem Briefkastenschlüssel und einer kurzen Nachricht von Oliver: “Könnten Sie bitte ab und zu mein Postfach leeren? Ich begebe mich in die Höhle des Löwen. Wünschen Sie mir Glück. Ihr Oliver”.

Er war also tatsächlich zu seinem Vater gefahren! Ja, sie wünschte ihm Glück. Von ganzem Herzen. Und sie beschloss im Stillen, für ihn da zu sein, wenn er Hilfe brauchte …

Eine Woche später, als sie gerade von der Arbeit nach Hause kam, klingelte das Telefon.

“Ilka Mohr, ja bitte?”, meldete sie sich.

“Schwenker am Apparat. Julius Schwenker. Wäre es möglich, dass wir uns sehen? Es geht um Oliver, meinen Sohn.” Julius Schwenker hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Eine Stimme, die es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und Anweisungen zu geben. Ilka bekam unwillkürlich weiche Knie, aber ihre Stimme klang fest, als sie antwortete: “Gern, Herr Schwenker. Wo und wann?”

“Ich bin morgen geschäftlich in München. Könnten wir Abends zusammen in meinem Hotel essen?”

“Einverstanden.”

Er nannte ihr den Namen eines bekannten Hotels in der Innenstadt: “Ist Ihnen acht Uhr recht? Ich sage am Empfang Bescheid, dass ich Sie erwarte.”

Ilka trug ein pflaumenblaues Kostüm mit cremefarbener Bluse. Die Farben passten gut zu ihrem Teint und ihrem rotblonden Haar. Als sie nach Julius Schwenker fragte, führte man sie zuvorkommend ins Restaurant.

Julius sass schon am Tisch. Er stand auf, um sie zu begrüssen und ihr den Stuhl zurechtzurücken: “Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Mohr.”

Ilka stellte fest, dass er gross und kräftig gebaut war, ein gutgeschnittenes Gesicht und leicht angegraute Schläfen hatte.

“Was trinken Sie?” fragte er, nachdem auch er sie aufmerksam beobachtet hatte.

“Ein Glas Portwein, bitte.”

“Portwein und einen Scotch”, wies Julius den Ober an, der ihnen die Karte vorlegte.

Als der Ober die Getränke brachte, bestellte Julius, nachdem er Ilka gefragt hatte, für sie beide das Spezial-Menü des Restaurants und dazu eine Flasche Chablis. Er wartete, bis der Ober gegangen war und wandte sich dann mit entschlossem Gesichtsausdruck an Ilka: “Ich will nicht um den heissen Brei herumreden. Ich bin ausser mir. Wie kommen Sie dazu, Oliver einzureden, dass sein Entschluss, Kunst zu studieren, gut ist?”

“Ich habe ihm nichts eingeredet”, erwiderte Ilka ruhig. “Er weiss selbst, was er möchte.”

“Sie schmeicheln ihm, indem Sie seine Bilder bewundern. Sie setzen dem Jungen doch Flausen in den Kopf!”

Seine Stimme grollte, aber Ilka kam jetzt ebenfalls in Fahrt: “Schmeicheln tue ich höchstens Dummköpfen, Herr Schwenker, und dumm ist Ihr Sohn nicht. Haben Sie denn seine Bilder gesehen?”

“Das tut hier nichts zur Sache. Er ist dazu bestimmt, eines Tages in das Familienunternehmen einzutreten!” Julius dachte daran, dass er sich geweigert hatte, Olivers Bilder anzusehen. Dazu war er viel zu wütend gewesen.

“Ach, und wer bestimmt das? Sie? Hat Oliver nicht auch ein Wort zu sagen?” funkelte sie ihn zornig an.

“Wir Schwenkers sind unserem Unternehmen verpflichtet. Wenn man die Verantwortung für über hundert Angestellte trägt, muss das persönliche Glück zurückstehen.”

“Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Ausserdem sind Sie nicht unschuldig an Olivers Berufung. Sie haben eine Künstlerin geheiratet!”

Julius Schwenker wurde blass: “Ich verbiete Ihnen, Olivers Mutter als Waffe zu benutzen!”

Leise erwiderte sie: “Ich benutze sie nicht als Waffe, Herr Schwenker, und ich möchte Ihnen nicht weh tun. Oliver hat mir erzählt, dass Sie ihre Frau unter tragischen Umständen verloren haben. Ich möchte nur, dass Sie Ihrem eigenen Sohn etwas mehr Verständnis entgegenbringen. Es könnte sein, dass er nie ein guter Firmenchef wird – dafür aber ein ausgezeichneter Künstler. Vielleicht entdeckt er aber später doch noch seine Liebe zur Firma. Alles ist möglich. Aber zuerst muss er seine eigene Persönlichkeit entwickeln können, und dabei müssen Sie ihm helfen, statt ihn zu unterdrücken. Wenn Sie allerdings weiterhin entschlossen sind, mir alle Schuld zuzuschieben, weil Oliver sich nicht mehr Ihren Willen aufdrängen lassen möchte, dann ist es besser, wir setzen unsere Unterhaltung nicht fort.”

Sie stand auf und durchquerte mit grossen Schritten das Restaurant. Aber dann dachte sie beschämt, dass sie es nicht besser machte als Oliver früher, wenn sie einfach die Flucht ergriff. Augenblicklich machte sie kehrt - und prallte mit Julius zusammen, der ihr nach kurzer Überlegung gefolgt war. Julius fing sich als erster: “Bitte, kommen Sie zurück, Ilka. Ich darf Sie doch Ilka nennen?” Wider Willen imponierte ihm diese Frau. Ilka Mohr, stellte er fest, war nicht nur hübsch, sie war auch klug. Und mutig. Nur hatte das augenscheinlich auf seinen Sohn abgefärbt. Als er mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, erschrak er zutiefst. Wollte er tatsächlich, dass sein Sohn ein charakterloser Ja-Sager oder ein Heuchler ohne Zivilcourage blieb?

“Gern, Julius”, beantwortete Ilka seine Frage. Auch sie mochte diesen Mann. Sie spürte, dass er im Grunde nicht uneinsichtig war. Er war es nur nicht gewohnt, dass jemand ihm widersprach.

Wieder rückte er ihr den Stuhl zurecht. Ilka gefiel es, dass er ein Kavalier der alten Schule war. Sie tastete sich weiter vor: “Julius, wenn Sie eine Frau geheiratet haben, die Künstlerin war, dann müssen Sie doch selbst Kunst lieben? Und dann müssten Sie doch eigentlich Oliver verstehen.”

“Astrid war eine wunderbare Frau. Sie war klug, sensibel …”

“Und Ihr Sohn darf nicht sensibel sein?”

“Ein Mann tut besser daran, seine Gefühle zu verbergen.”

“Welch ein Unsinn”, rief Ilka temperamentvoll aus, “Gefühle gehören zum Menschsein.”

Auf einmal verspürte Julius das Bedürfnis, dieser Frau von Astrid zu erzählen. Von der inneren Leere, die er seit ihrem Tod empfand.

Er tat es stockend, suchte nach Worten. Seit langem schon hatte er es verlernt, über sich zu sprechen, in sich hineinzuhorchen. Ilka kam dabei zu Bewusstsein, wie einsam dieser Mann war, der an der Spitze eines Unternehmens stand.

“Danke, dass Sie mir zugehört haben”, sagte Julius zum Schluss.

Sie lächelte ihm zu. Nach einer Pause fragte sie: “Was haben Sie nun in Bezug auf Oliver beschlossen?”

Julius sah etwas beschämt aus: “Ich habe ihm gesagt, dass ich auf keinen Fall sein Kunststudium finanzieren würde.”

“Und? Was hat er darauf geantwortet?”

Er räusperte sich: “Das ihm das egal sei. Dann würde er eben arbeiten.”

“Sie können wirklich stolz auf ihn sein!”

“Sie auch. Es war wohl ein Glück für den Jungen, Ihnen begegnet zu sein.”

Ilka musste lachen: “Klingt so, als hätten Sie Ihre Meinung geändert.”

Er schmunzelte nun auch: “In meiner Stellung begegnet man nur wenigen Menschen, die den Mut haben zu sagen, was sie denken. Sie gehören dazu. Was machen Sie beruflich, Ilka?”

“Ich bin Produktmanagerin.”

“Oliver sagte mir, dass Sie allein leben? Sie brauchen mir nicht zu antworten, wenn Sie die Frage zu indiskret finden.”

Wieder lächelte Ilka, aber es war ein melancholisches Lächeln: “Ich habe das Alleinsein nicht gewählt. Aber der Mann, den ich liebte oder zu lieben glaubte, hat es nicht verkraftet, dass ich beruflich erfolgreicher war als er. Wir haben uns vor zwei Jahren getrennt.”

Julius leistete Ilka heimlich Abbitte. Er hatte geglaubt, dass sie sich Oliver angeln wollte. Ob sein Sohn nun Künstler würde oder nicht, eines Tages würde er die Firma erben. Er könnte sie dann verkaufen und wäre ein reicher Mann. Viele Familienunternehmen endeten so.

“Ich war Oliver kein guter Vater”, sagte er mit plötzlicher Einsicht “Ich habe mich nicht so um ihn gekümmert, wie ich es hätte tun müssen.”

“Es ist noch Zeit, damit Sie sich näher kommen”, erwiderte Ilka behutsam.

Als Julius sie zu ihrem Wagen begleitete, fragte er: “Würden Sie Oliver und mir die Freude machen, uns am nächsten Wochenende in Düsseldorf zu besuchen?”

“Mit dem grössten Vergnügen”, antwortete sie warm.
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Vater und Sohn holten sie am Freitag Abend am Flughafen ab. Ilka stellte fest, dass Oliver erwachsener wirkte - Julius dagegen verjüngt. Und dass die beiden sich gut verstanden.

Während Julius den Wagen in die Garage fuhr, führte Oliver Ilka in das schöne, alte Familienhaus. Der Abend war kühl, und im Wohnzimmer brannte ein gemütliches Kaminfeuer.

“Vater ist ganz verwandelt, seit er Sie kennt”, lächelte Oliver ihr zu. “Übrigens hat er den Geldhahn dann doch nicht abgedreht. Aber ich möchte trotzdem eigenes Geld verdienen.”

Julius, der gerade das Zimmer betrat, hatte den letzten Satz gehört. “Ich könnte dir dabei helfen, Oliver. Ich kenne den Galeriebesitzer, der die Bilder deiner Mutter ausstellte …”

“Danke, Vater - aber das ist nicht nötig. Ich habe heute bereits in einer Galerie vorgesprochen, die mich unter Vertrag nehmen will.”

“Tatsächlich?” Julius war beeindruckt.

“Aber was wird aus der Fabrik? Und aus dir?”

“Ich gehöre schliesslich noch nicht zum alten Eisen”, lachte Julius, “und ich habe etwas ganz Wichtiges wiederentdeckt. Mein Herz. Und das verdanke ich Ilka.” Er suchte ihren Blick, und Ilka bekam wieder weiche Knie. Aber diesmal war es aus Liebe.

“Keine Bange, ich räume das Feld”, grinste Oliver nett.

“Oliver, wir wollen dich auf keinen Fall vor die Tür setzen”, protestierte Ilka sofort.

“Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe in der Galerie eine Studentin kennengelernt, die meine Bilder mag und meine Einladung zum Essen angenommen hat. Ich wusste nur nicht recht, wie ich euch das beibringen sollte, dass ich gleich am ersten Abend von Ilkas Besuch nicht da sein werde. Sie heisst übrigens Manuela …”

Er sah zu den beiden hinüber und entschied, dass er sich weitere Worte sparen konnte. Ilka und sein Vater waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Schwer verliebt, lautete Olivers wohlwollende Diagnose, ehe er leise die Tür hinter sich schloss, um sich mit seiner eigenen Zukunft zu beschäftigen …

ENDE

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Donnerstag, 10. Januar 2013
ENTSCHEIDUNG IM SCHNEE
Nina hat ein grosses Problem : Soll sie Steffen, ihren Chef, heiraten - oder lieber ihren Jugendfreund Björn ? Die Wahl fällt ihr gar nicht leicht, denn beide sind einander viel zu ähnlich …
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Nina stand reichlich verstört droben am Übungshang. Da sollte sie hinunter? Jeder Muskel ihres Körpers tat ihr weh, ihr Kopf schwirrte von Ausdrücken wie Fall-Linie, Ei-Stellung, Pflug, Spitzkehre. Warum tat sie sich das nur an? Nach drei Tagen Intensivkursus glaubte sie zu wissen, dass sie für diesen Sport hoffnungslos unbegabt war, aber er würde nun mal zu ihrem zukünftigen Leben gehören. Egal ob sie sich für Steffen oder für Björn entschied - beide waren begeisterte Skiläufer, und es war besser, sich darauf vorzubereiten.

Auf Zuruf des Skilehrers stiess sie sich endlich ab. Zu ihrer grossen Überraschung schaffte sie fast hundert Meter, ohne hinzufallen, doch plötzlich rundeten sich ihre Augen vor Schreck: Ein Skiläufer raste quer über den Hang auf sie zu und machte verzweifelte Zeichen, dass er nicht anhalten könne. Da prallten die zwei auch schon aufeinander und rutschten zusammen den Hang hinunter, bis sie in einer Senke liegen blieben.

„Verzeihen Sie, haben Sie sich weh getan?“ fragte er atemlos. Mit einer schmerzlichen Grimasse bewegte Nina ihre Glieder: „Höchstens ein paar blaue Flecken, aber darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an. Und Sie?“

„Alles in Ordnung.“

Er half ihr aufzustehen, und gemeinsam sammelten sie ihre Stöcker und Bretter ein, die sich selbstständig gemacht hatten. Als sie wieder auf den Skiern standen, rückte sie ihre verrutschte Skibrille zurecht und ermahnte ihn: „Passen Sie das nächste Mal ein bisschen besser auf, ja?“

„Ich werd’s versuchen“, versprach er reumütig.

Sie hob lässig die Hand und glitt davon, war jedoch derart damit beschäftigt, eine einigermassen gute Figur zu machen, dass sie eine Baumwurzel übersah. Ein heftiger Schmerz im Knöchel trieb ihr die Tränen in die Augen. „Mein Fuss“, stöhnte sie.

Unverzüglich setzte er sich neben sie in den Schnee. „Rühren Sie sich nicht! Ich hole sofort Hilfe.“

„Sie? Wie wollen Sie denn das anstellen?“ Trotz ihrer Schmerzen musste Nina lachen.

Es war der Skilehrer, der sie ins Hotel zurückbrachte. Mit dem Skilaufen war es bis auf weiteres vorbei. Sie lag mit fest gewickeltem Knöchel im Liegestuhl auf der Hotelterrasse und hatte Zeit genug für den zweiten Programmpunkt ihrer Ferien: die Wahl zwischen Björn und Steffen. Sie beschloss, eine Liste aufzustellen.

Steffen: dunkelhaarig, gutaussehend, zuverlässig, kinderlieb, sportlich, neunundzwanzig Jahre alt und ihr Chef. Sie arbeitete als Grafikerin in seiner Werbeagentur.

Björn: dunkelhaarig, gutaussehend, zuverlässig, kinderlieb, sportlich, achtundzwanzig Jahre alt, Ingenieur und seit Kindertagen ihr Beschützer.

Eine Spur zu dominant, fügte sie bei beiden hinzu.

Und noch eine Gemeinsamkeit gab es: Beide wollten sie heiraten.

Sie starrte auf die Liste und war so ratlos wie vorher. Sie mochte beide, wollte keinem von ihnen weh tun …

Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. Sie hob den Kopf und sah in ein sympathisches Männergesicht. Es war der ungeschickte Skiläufer von heute Morgen. Er deutete eine leichte Verbeugung an und sagte: „Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht. Entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Ich heisse Paul. Paul Möller.“

Sie gab sein Lächeln zurück: „Danke, wenn ich den Fuss nicht bewege, tut er nicht weh. Und ich bin Nina Vogt.“

Paul Möller zögerte, dann fragte er: „Hätten Sie Lust auf Kaffee und Kuchen?“

Nina merkte plötzlich, dass sie Hunger hatte. Vor lauter Aufregung hatte sie nicht zu Mittag gegessen.

„Gern“, nickte sie.

Fünf Minuten später brachte eine Serviererin den Kaffee und zwei Tortenstücke. Paul schenkte umsichtig ein und sagte: „Es tut mir so leid, das mit dem Unfall heute Morgen.“

„Sie brauchen sich nicht schuldig zu fühlen. Mein verknackster Knöchel hat ja nichts mit unserem etwas heftigen Zusammentreffen zu tun.“

„Trotzdem. Wenn ich Ihnen helfen kann, bitte, sagen Sie Bescheid. Ich wohne in der Pension nebenan. Hier ist die Telefonnummer.“

Sie nahm die Karte mit der Telefonnummer, versicherte ihm aber, dass sie ganz gut auch so zurechtkäme und beugte sich vor, um nach dem Kuchenteller zu greifen. Dabei fiel ihr Blatt mit den Notizen zu Boden. Rasch bückte sich Paul und hob es auf.

Obwohl er keinen Blick darauf geworfen hatte, fühlte Nina sich bemüssigt, eine Erklärung abzugeben. „Ich … ich stehe vor einer schwierigen Entscheidung“, stotterte sie. „Zwei Männer möchten mich heiraten, und ich weiss nicht, wen ich wählen soll.“

„Warum wollen Sie denn unbedingt heiraten?“

„Nun ja, meine Eltern liegen mir ständig in den Ohren, dass es mit 27 Jahren an der Zeit wäre, eine Familie zu gründen.“

„So einen Unsinn habe ich noch nie gehört“, erwiderte er schroff.

Sie war verletzt. „Sie wünschen sich Enkelkinder. Ich bin ein Einzelkind, müssen Sie wissen.“

Er trank einen Schluck Kaffee und fragte: „Hören Sie in Ihrem Alter immer noch auf Ihre Eltern? Können Sie sich keine eigene Meinung bilden?“

Das war ja wohl die Höhe! Zuerst rannte dieser gemeingefährliche Skiläufer sie um, und jetzt kritisierte er sie auch noch. Warum hatte sie ihm bloss von Steffen und Björn erzählt?

Er fuhr fort: „Wenn Sie sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden können, bedeutet das doch eigentlich, dass sie keinen von beiden lieben.“

Das reichte. Zornig funkelte sie ihn an: „Dann verraten Sie mir doch mal, was Liebe ist!“

Er sah auf die verschneiten Berge ringsumher und antwortete leise: „Liebe ist, wenn man genau weiss: Es ist dieser Mensch und kein anderer. Wenn man den Wunsch hat, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen und bis ans Lebensende zusammenzubleiben.“

„Sind Sie denn einer solchen Liebe begegnet?“ fragte sie nach einer Weile.

Er nickte: „Ja, doch was nützt das? Heute sind wir geschieden.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Nina betroffen.

„Es war meine Schuld. Ich war jahrelang damit beschäftigt, meine Firma für Software aufzubauen. Eines Tages war Franziska es leid, dass ich nie zu Hause war. Sie hat einen anderen Mann kennengelernt und ist heute mit ihm verheiratet.“

Er erhob sich und reichte ihr die Hand: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie die richtige Entscheidung treffen.“

Als er ging, war er wütend auf sich selbst: Wie kam er überhaupt dazu, diese Frau zu kritisieren und ihr Ratschläge zu erteilen? Er selbst hatte doch auch alles falsch gemacht!

In seinem Pensionszimmer vergrub er seinen Kopf in beide Hände. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er Ninas Gesicht vor sich: ihren weichen Mund, die ausdrucksvollen dunklen Augen, das kurz geschnittene, kastanienbraune Haar. Und sie war nicht nur äusserlich schön - auch charakterlich, das spürte er. Kein Wunder, dass zwei Männer sie liebten. Aber war es wirklich Liebe? Oder nur ein Wettkampf? Egal, das alles ging ihn nichts an. Was die Liebe betraf, so hatte er seine Chance gehabt - und sie vertan. Es war zwei Jahre her, dass Franziska ihn verlassen hatte, und seitdem betäubte er sich mit immer mehr Arbeit. Es waren die ersten Ferien, die er seitdem machte. Und auch nur, weil sein Arzt der Ansicht gewesen war, dass die Bergluft ihm gut tun würde. Er für sein Teil zog das Meer vor …

Schliesslich gab Paul sich einen Ruck, stand auf und fing an, seine Tasche zu packen. Am besten reiste er sofort ab. Noch einmal Herzweh? Nein danke!
_ _ _

Nina hatte sich seufzend wieder ihrer Liste zugewandt. Plötzlich kam ihr diese Aufstellung von Fakten und Charaktereigenschaften albern vor. Warum war es ihr unmöglich, mit dem Herzen zu entscheiden? Hatte Paul recht? Liebte sie keinen von beiden?

Ein roter Wagen fuhr auf den Parkplatz des Hotels. Sie hätte schwören können, dass es Steffens Auto war - aber er wusste doch nicht, wo sie war!

Es war tatsächlich Steffen. Als er sie auf der Terrasse entdeckte, kam er mit langen Schritten auf sie zu. Sie hatte gerade noch Zeit, die dumme Liste in der Tasche ihres Anoraks verschwinden zu lassen.

„Nina, ich muss dich sprechen“, stiess er hervor.

„Wer hat dir denn verraten, dass ich hier bin?“

„Deine Mutter. Was hast du mit deinem Fuss gemacht?“

„Verstaucht. Beim Skilaufen.“

„Das musste ja passieren. Warum bist du nur allein gefahren?“

„Um nachzudenken. Das hatte ich dir doch gesagt“, entgegnete sie unwillig.

„Nina, ich begreife einfach nicht, was du an diesem Björn findest. Du wirst dich mit ihm zu Tode langweilen. Ein Technokrat, der sich noch dazu für einen guten Sportler hält! Der gibt doch an wie ein Wald voller Affen. Ich hab ihn mal beim Skilaufen gesehen. Zum Totlachen!“

Sie kam nicht mehr dazu, ihm vorzuhalten, dass er selbst zu leichten Übertreibungen neigte, denn ein zweiter Wagen fuhr vor - und Björn stieg aus.

„Und woher weisst du, dass ich hier bin?“ fragte Nina ärgerlich, als er vor ihnen stand.

„Dein Vater“, antwortete er knapp.

Sie hätte es sich denken können. Björn war der Favorit ihres Vaters, Steffen der ihrer Mutter. Sie würde mit ihren Eltern reden müssen. Es ging wirklich nicht, dass die sich derart in ihre Herzensangelegenheiten einmischten!

Ohne Nina weiter zu beachten, wandte Björn sich an Steffen: „Na gut, da wir uns schon hier treffen, lassen Sie uns die Sache ein - für allemal klarstellen: Ich kenne Nina länger als Sie, ich habe die älteren Rechte!“

„Aber mich liebt sie, und wenn Sie nur einen Funken Verstand hätten, würden Sie sich zurückziehen!“

Mit roten Gesichtern standen sie sich gegenüber, waren drauf und dran, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Schon eilte voller Besorgnis ein Keller herbei.

„Halt“, rief da Nina, „ich habe mich entschieden!“

Sofort hielten die Streithähne ein und wandten sich ihr zu.

Leise sagte sie: „Ich kann keinen von euch heiraten. Ich habe geglaubt, euch beide zu lieben, weil ich das so gern wollte, aber es stimmt nicht. Jedenfalls liebe ich keinen von euch genug, um ihn zu heiraten. Könnt ihr das verstehen?“ Sie sah ihre beiden Freunde bekümmert an, und gleichzeitig fühlte sie sich wie von einer schweren Last befreit. Sie fragte sich, warum sie auf einmal das Gesicht von Paul vor sich sah. Ausgerechnet in diesem Augenblick …

Steffen fing sich als erster: „Bist du sicher?“

„Ganz sicher.“

Er schluckte. Die Enttäuschung war ihm anzumerken, aber er reagierte fair: „Also dann … bis bald, in der Agentur. Pass gut auf dich auf.“

Björn grinste schief: „Wir haben uns wohl ziemlich dumm benommen“, gab er zu. „Bis bald, Kleines. Was ist denn mit deinem Fuss los? Ein Skiunfall? Du hättest nicht allein fahren sollen.“ Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn: „Willst du nicht lieber mit uns zurückkommen?“

„Nein“, lächelte Nina. „Macht euch um mich nur keine Sorgen, ich komme schon zurecht.“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich bin heute endlich erwachsen geworden.“

Abends führte der Ober Nina an den einzigen Tisch des hoteleigenen Restaurants, an dem noch ein Platz frei war. An dem Tisch sass schon ein Mann. Es war Paul!

Sie errötete, als sie ihn erkannte. Er stand auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Der Ober reichte ihr die Karte.

Sie wählte ein Menü und einen leichten Wein.

„Für mich das gleiche, bitte“, sagte Paul.

Nina war verwirrt: „Oh, ich dachte, Sie hätten schon bestellt.”

„Ich habe auf dich gewartet“, erklärte er.

Später einmal würde er ihr erzählen, dass er nach zehn Kilometern Fahrt gewendet hatte und zurückgekommen war - und das nicht nur, weil er sie mit ihrer Verletzung nicht allein lassen wollte. Dass er dann einen langen Spaziergang gemacht hatte, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Diesmal, das wusste er jetzt, würde ihm die Liebe wichtiger sein als der berufliche Erfolg. Wenn Nina ihn nur wollte …

Leise sagte sie: „Ich habe mich entschieden, Paul. Ich heirate keinen von beiden.“

Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich floss alles Blut zu Ninas Herzen. Das also ist die Liebe, dachte sie überwältigt. Denn diesmal gab es nicht den geringsten Zweifel mehr: Sie war dem Mann ihres Lebens begegnet …

ENDE

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Dienstag, 8. Januar 2013
KATERFRÜHSTÜCK UND ROTE ROSEN
Sophie lernt in einem Berghotel den sympathischen Martin kennen. Als sie ihm in der Bar anvertraut, dass sie Geburtstag hat, entwickelt er ungeahnte Aktivitäten …
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Als Sophie die gemütliche Bar des kleinen Berghotels betrat, spürte sie einen Moment lang Panik. Sie war noch nie allein an einem solchen Ort gewesen. Aber einmal musste sie ja anfangen. Sie holte tief Luft, warf einen Blick in die Runde und steuerte zielstrebig die Theke an. Dort erklomm sie den letzten freien Hocker.

“Einen Kir Royal, bitte”, liess sie den Keeper wissen.

“Für mich auch”, sagte jemand neben ihr.

Sophie blickte zur Seite - und direkt in die Augen eines sympathisch aussehenden Mannes, der ihr irgendwie bekannt vorkam.

“Wir sind uns heute schon mehrere Male begegnet”, lächelte er ihr zu. “Am Skilift und auch auf den Hängen. Sie laufen phantastisch Ski.”

“Danke”, erwiderte sie zurückhaltend.

“Mein Name ist Keppler. Martin Keppler.”

“Sophie Bunge”, stellte sie sich etwas überrumpelt ebenfalls vor.

Der Aperitif stand vor ihnen. Martin hob sein Glas und meinte nachdenklich: “Was mir manchmal wirklich fehlt, ist ein gutes Gespräch, wissen Sie …”

“Haben Sie denn niemanden zum Reden?”

“Doch, schon. Aber ohne ein wirkliches Gegenüber. Meine Freundin Ute arbeitet seit einem Jahr in Amerika. Vor zwei Jahren lernten wir uns kennen, haben es aber nie geschafft, zusammenzuleben. Jetzt wollte ich sie eigentlich besuchen, aber sie hat mir gesagt, dass sie im Augenblick zu viel zu tun hätte. Also bin ich zum Skilaufen hierher gefahren.”

“Mit meinem Freund Jan ist es auch nicht einfach”, gestand Sophie. “Wir haben zwei Jahre in München zusammengelebt, aber dann hat man ihm eine interessante Stelle in Frankfurt angeboten. Ich bin in München geblieben, weil ich dort meine Werkstatt als Möbelrestauratorin habe. Eigentlich wollten wir zusammen hier in Oberammergau Urlaub machen, aber im letzten Augenblick musste er zu einer wissenschaftlichen Tagung nach Tokio.”

Martin Keppler hatte aufmerksam zugehört. “Das tut mir leid für Sie beide”,
bedauerte er. “Ich lebe übrigens auch in München. Bin Heilpraktiker.”

Sophie lächelte ihm höflich zu, dann seufzte sie: “Heute ist auch noch mein Geburtstag.”

“Ach ja? Dann gratuliere ich herzlich. Wie alt sind Sie denn geworden? Oder ist die Frage zu indiskret?”

“Nein, überhaupt nicht. Sechsundzwanzig.”

“Ich bin dreissig.”

Als ihre Gläser leer waren, lud Martin sie zu einer Fete ein: “Es ist ein Jubiläum. Mein Freund Lutz, der ein ausgezeichneter Koch ist, hat vor einem Jahr ein Restaurant hier eröffnet. Inzwischen läuft es prima.”
_ _ _

Beim Aufwachen am nächsten Morgen wusste Sophie zuerst nicht, wo sie sich befand. Nur eins war sicher: Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Wieviel hatte sie überhaupt getrunken? Und warum, um Himmels Willen? Nur um zu vergessen, dass Jan nicht an ihren Geburtstag gedacht hatte? Sie müsste doch inzwischen daran gewöhnt sein. Jan war immer so zerstreut. Und sie hätte daran denken sollen, dass sie so viel Alkohol nicht vertrug.

Bruchweise kam die Erinnerung zurück. An ein zünftiges Käsefondue, viele Gläser Kirschwasser und eine fröhliche Tafelrunde, die mit der Zeit immer grösser geworden war. Danach hatte es noch eine fröhliche Schneeballschlacht gegeben. An mehr konnte Sophie sich beim besten Willen nicht erinnern.

Ihre Kleidungsstücke lagen ordentlich zusammengefaltet über der Stuhllehne. Beunruhigend - denn sie selbst knallte ihre Wäsche meistens achtlos in die Ecke. Sophie seufzte und griff sich an den dröhnenden Kopf. Dann klopfte es an die Zimmertür.

“Herein”, stöhnte sie.

Es war das Zimmermädchen mit einem wunderschönen, in Cellophanfolie eingeschlagenen Rosenstrauss und einer Vase in der Hand: “Guten Morgen. Der ist für Sie abgeliefert worden.”

“Oh, vielen Dank. Bitte, stellen Sie ihn dort auf den Tisch. Wie spät ist es denn überhaupt?”

“Kurz nach zehn.”

Erschrocken setzte Sophie sich auf. Was sie jetzt bräuchte, waren eine Tasse Kaffee und zwei Kopfschmerztabletten. Aber würde sie so spät überhaupt noch Frühstück bekommen?
_ _ _

Das Zimmermädchen war gegangen. Sophie stand auf und wankte ins Bad. Im Vorübergehen betrachtete sie gerührt die Rosen. Jan hatte also doch an ihren Geburtstag gedacht! Mit einem Tag Verspätung zwar, aber das lag sicher an der Zeitverschiebung. Sie duschte ausgiebig, rubbelte sich trocken und verkroch sich wieder mit ihrem Bademantel ins Bett. Immerhin war ihr Kopf nicht mehr ganz so schwer. Plötzlich klopfte es erneut.

“Herein”, rief sie.

Es war Martin mit einem Tablett. Vorsichtig stellte er den Rosenstrauss darauf und trat an ihr Bett: “Guten Morgen, Sophie. Ich dachte, du könntest ein gutes Katerfrühstück brauchen. Ich hab’s mir in der Küche geben lassen. Es ist alles da: Orangensaft, Kaffee und saure Gurken.” Sogar an Kopfschmerztabletten hatte er gedacht.

“Sie sind ein Schatz”, bedankte sie sich. “Haben Sie selbst denn schon gefrühstückt?”

“Schon vor einer Stunde”, erklärte er vergnügt.

Plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass er sie duzte. Unsicher fragte sie: “Martin, haben wir womöglich gestern Brüderschaft getrunken?”

“So kann man es nennen. Du hast mich geküsst.”

“Ich habe was?” rief sie entsetzt. Beunruhigt musterte sie ihn: “Und dann? Wie bin ich überhaupt ins Bett gekommen?”

“Ich hab dir geholfen - aber keine Bange, es ist nichts passiert.” Er hatte sie die Treppe hinaufgetragen, ihr beim Ausziehen geholfen, ihre Schlafanzugjacke zugeknöpft und sie sorgsam zugedeckt. Sie hatte seine Hand nicht losgelassen, und so hatte er eine Weile an ihrem Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war.

Sophie betrachtete die Vase auf dem Tablett. “Sind die Rosen nicht wunderschön? Von Jan.”

Etwas verlegen antwortete er: “Sophie, die Blumen sind von mir. Hast du die Karte nicht gelesen? Ich dachte, wir drehen die Zeit einfach ein bisschen zurück und feiern heute deinen Geburtstag.”

“Rote Rosen? Von dir?” staunte sie. “Dann möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Aber du darfst nicht glauben … Es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe. Ich kann dir nur sagen, dass ich nicht die geringste Erinnerung daran habe.”

“Das ist schade”, meinte er. “Es war nämlich ein wunderbarer Kuss.”

Sie wurde rot. “Es ist mir sehr unangenehm. Wirklich. Wir kennen uns doch kaum, ausserdem sind wir beide gebunden.”

“Ich nicht mehr. Ich habe meine Freundin angerufen und ihr vorgeschlagen, unsere Beziehung zu beenden. Sie war sofort einverstanden. Offenbar hat sie einen Amerikaner kennengelernt.”
_ _ _

Er war nicht die Spur traurig. Es wunderte ihn jetzt sogar, dass er die Beziehung so lange aufrechterhalten hatte. Er hätte Sophie so gern gesagt, dass er sich in sie verliebt hatte: in ihr Lächeln, ihre Augen, ihr Muttermal über dem rechten Mundwinkel. Und dass er ihr bis ans Ende der Welt folgen würde, um sie bloss nicht wieder zu verlieren. Wenn sie ihn nur wollte.

Martin goss ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. “Trink, damit du wieder auf die Beine kommst. Unten wartet nämlich ein Schlitten auf uns.”

“Ein Schlitten?”

Er schmunzelte: “Ich hab dir doch gessagt, dass wir heute deinen Geburtstag feiern, nicht wahr?”

“Und wohin soll es gehen?”

“Das ist eine Überraschung. Aber zuerst wird ordentlich gefrühstückt!”

Eine Stunde später glitten Sophie und Martin in Decken gehüllt durch die verzauberte Winterlandschaft, vorbei an verschneiten Wäldern und zugefrorenen Seen. Nur das Glockengeläut und das Schnauben des kräftigen Braunen war zu hören.

Die erste Etappe war Schloss Linderhof. Nach der Besichtigung des Jagdschlosses Ludwig II. und einem leichten Imbiss ging es zurück bis nach Ettal, wo der Schlitten vor der im Rokokostil erbauten Benediktinerabtei hielt. Sie bewunderten hingerissen die prunkvolle Abtei, bis Martin auf die Uhr sah und verschmitzt erklärte: “Darf ich zu Tisch bitten?”

Im Landgasthaus nebenan nahm ein Kellner ihnen die Mäntel ab, führte sie an einen reservierten Tisch und legte ihnen die erlesene Speisekarte vor.

Entspannt lehnte Sophie sich zurück und betrachtete Martin, der sorgfältig das Menü zusammenstellte. Ihr Blick glitt über sein gutgeschnittenes Gesicht. Schon seit langem hatte sie sich nicht mehr so glücklich und geborgen gefühlt. Das lag zweifellos an Martins Gegenwart. Dann fielen ihr der Kutscher und das Pferd ein. Ob sie auch verpflegt wurden?

“Bestimmt”, versicherte Martin, “sie sind nämlich nach Hause gefahren.”

“Und wie kommen wir wieder zurück?”

Er grinste schelmisch. “Abwarten. Vertrau mir.”

Das Erstaunlichste war, dass sie ihm tatsächlich vertraute. Sie empfand es als wunderschön, sich von ihm verwöhnen und umsorgen zu lassen.

Als sie das Gasthaus verliessen, führte Martin sie zu einem Wagen mit Münchner Nummer, den inzwischen eine Schneehaube zierte. Er öffnete die Tür für Sophie, ging um den Wagen herum, glitt hinter das Steuer und liess den Motor an.

“Mein Freund Lutz hat ihn hierhergebracht und ist mit dem Schlitten zurückgefahren”, erklärte Martin. “Er hat es mir netterweise angeboten, weil heute sein Restaurant geschlossen ist.”
_ _ _

“Ich habe nie einen schöneren Geburtstag gefeiert. Danke, Martin”, sagte sie gerührt, als sie vor ihrer Zimmertür standen. Sogar von ihrem Kater spürte sie längst nichts mehr.

“Schlaf gut. Vielleicht sehen wir uns ja morgen?” Er lächelte und wollte gehen - obwohl es ihm schwer fiel, sie nicht in seine Arme zu reissen.

Sophie machte keine Anstalten, ins Zimmer zu treten. “Ich werde Jan anrufen, um ihm zu sagen, dass es besser ist, wenn wir uns trennen”, sagte sie leise. “Wir waren uns nie wirklich nahe. Für ihn zählt nur die Arbeit. Ich dachte, ich könnte damit leben - aber jetzt weiss ich, dass das nicht stimmt.”

Ihr war auch etwas anderes klar geworden: Wenn sie Jan nicht bis nach Frankfurt gefolgt war, dann nur, weil es keine wirkliche Liebe zwischen ihnen gewesen war. Denn die war etwas anderes. Tief in ihrem Inneren schien sie es immer gespürt zu haben.

Jetzt war Martin es, der sie küsste - eine kleine Ewigkeit lang. Als sie sich voneinander lösten, klopfte Sophies Herz zum Zerspringen. “Ich wusste gar nicht, dass ein Kuss so schön sein kann”, hauchte sie atemlos.

“Ich weiss es schon, seitdem du …” Er konnte den Satz nicht beenden, weil Sophie ihm den Mund mit einem Kuss verschloss und ihn in ihr Zimmer zog …

ENDE

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Sonntag, 6. Januar 2013
HEIRATE MICH, WENN DU MICH LIEBST
Marina löst ihre Verlobung mit Niels, um ihrer jüngeren Schwester Pauline zu helfen. Diese steckt in Schwierigkeiten …
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Marina Sanders sah auf die Uhr. Fast elf. Es war ihr den ganzen Morgen nicht gelungen, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, eine Übersetzung aus dem Englischen. Sie seufzte, ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu kochen und trat damit ans Fenster.

Gerade fuhr unten ein Taxi vor. Ein hochgewachsener Mann stieg aus und sah zu ihr hinauf. Es war Niels! Beinahe hätte Marina ihren Kaffee vergossen, so überstürzt zog sie sich zurück. Als es klingelte, schlug ihr Herz einen Trommelwirbel: Sie konnte nicht so tun, als sei sie nicht zu Hause, er hatte sie bestimmt gesehen. Also atmete sie ein paarmal tief durch und drückte dann auf den Summer.

Als er vor ihr stand, gab es ihr einen Stich, wie gut er aussah und wie verlässlich er wirkte. Wie gern hätte sie wenigstens noch einmal ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und sich von seinen Armen umfangen lassen, aber das war für immer vorbei. Muste es sein. “Niels, du hättest nicht kommen sollen, ich hatte dir doch geschrieben …” Sie hoffte, dass ihre Stimme fest klang.

“Und du glaubst, dass ich mich mit ein paar Zeilen zufrieden gebe ‘Niels, es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten, weil Pauline mich braucht’?”

“Du weisst, dass sie nur noch mich hat, seit unsere Eltern vor zehn Jahren tödlich verunglückten. Und ich hatte dir ein bisschen mehr geschrieben, nämlich, dass sie ein Baby erwartet und Norbert sie verlassen hat.”

“Ja, und dazu möchte ich dir ein paar Fragen stellen.”

“Hättest du das nicht telefonisch machen können?”

“Nein, ich möchte, dass du mich ansiehst, wenn du mir antwortest.”

Gerade das hatte sie vermeiden wollen, es war schon so schwer genug gewesen. Aber nun war er da. Stumm trat sie zurück, um ihn hereinzulassen.

Im Wohnzimmer sah Niels sie forschend an: “Zuerst möchte ich eines wissen: Liebst du mich noch, Marina?”

Vor dieser Frage hatte sie sich am meisten gefürchtet. Ihn anlügen? Das brachte sie nicht fertig. “Ja”, erwiderte sie deshalb genau so ernst. “Ich liebe dich noch, aber das hat nichts damit zu tun, versteh’ das doch.”

Er sah plötzlich fast fröhlich aus: “Aber es ändert alles. Paulines Problem geht uns nun beide etwas an.”

“Und was hast du vor?”

“Komm, ich lade dich zum Essen ein. Und gleichzeitig bringe ich mein Gepäck ins Hotel.”

“Du hast ein Zimmer reserviert? Wie lange willst du denn bleiben? Und wo ist dein Gepäck?”

“Ja, ich habe ein Zimmer reserviert. Und mein Gepäck steht vor der Tür. Ich werde so lange bleiben, wie es nötig ist. Ich habe mir Urlaub genommen.”
_ _ _

Sie fuhren mit Marinas Wagen in die Stadt. Niels liess sein Gepäck im Hotel, und sie gingen zu Fuss bis zu ihrem Lieblingsrestaurant an der Alster. Es war ein strahlender Frühlingstag. Zu schön, um unglücklich zu sein, dachte Marina mit wehem Herzen.

“Also”, sagte Niels, als sie bestellt hatten. “Pauline ist schwanger und die Heirat ist geplatzt. Was ist passiert?”

“Wenn ich das bloss wüsste. Vor zwei Wochen stand sie in Tränen aufgelöst vor der Tür und sagte, dass alles aus sei zwischen Norbert und ihr. Mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen.”

“Weiss Norbert, dass sie ein Kind erwartet?”

“Nein, sie ist nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen.”

“Und du hast sie mit offenen Armen wieder aufgenommen …”

“Ich hatte Angst um sie, Niels. Wenn du sie gesehen hättest! Es geht ihr jetzt noch, zwei Wochen danach, sehr schlecht.”

Niels dachte daran, welch einen glücklichen Eindruck Pauline und Norbert auf ihn gemacht hatten, als sie vor einem Monat alle zusammen Marinas Geburtstag gefeiert hatten. Sie schienen füreinander geschaffen zu sein. Wie Marina und er …

Auch Marina hing Erinnerungen nach. Sie dachte an ihre Begegnung mit Niels. Vor einem Jahr hatte sie sich einen alten Traum erfüllt und ein Wochenende in Berlin verbracht. Begeistert von der Stadt, aber müde vom Laufen, wollte sie sich in einem Strassencafé ein Eis gönnen. Gleichzeitig mit ihr steuerte ein Mann den einzig freien Tisch an. Es war Niels gewesen, und er war das ganze Wochenende nicht von ihrer Seite gewichen. Als Architekt kannte er die Stadt wie seine Westentasche. Danach trafen sie sich jedes Wochenende in Hamburg oder Berlin. An ihrem Geburtstag hatte Niels sie feierlich gebeten, seine Frau zu werden. Nie in ihrem Leben hatte Marina sich glücklicher gefühlt.

Nach ihrer Heirat, hatten sie beschlossen, würden sie in Berlin leben. Um Pauline brauchte Marina sich nicht mehr zu sorgen. Pauline hatte ihr Studium beendet und arbeitete als Juristin in einem grossen Hamburger Unternehmen, ausserdem lebte sie schon mit Norbert zusammen.

“Und was soll jetzt werden?” fragte Niels nun.

“Ich werde Pauline helfen, ihr Baby aufzuziehen.”

Es schnitt Niels ins Herz, dass sie kaum etwas vom Essen anrührte. Eindringlich sagte er: “Das Kind hat einen Vater, Marina. Es ist nicht an dir, es aufzuziehen. Und Norbert scheint kein Monster zu sein.”

“Aber Pauline will nicht zu ihm zurück. Ich fühle mich für sie verantwortlich.”

“Hör mal. Als eure Eltern starben, warst du 22, Pauline 12. Ich verstehe, dass du dich für sie verantwortlich fühltest. Aber heute ist Pauline genau so alt, wie du es damals warst. Sie ist erwachsen!”

Als Marina schwieg, fuhr er fort: “Jeder braucht im einen oder anderen Moment seines Lebens Verständnis und Hilfe, aber das darf nicht so weit gehen, wieder zum schutzbedürftigen Kind werden zu wollen. Und du, du darfst sie nicht darin unterstützen und ihr schon gar nicht so unbesehen dein Glück opfern, von meinem will ich hier gar nicht sprechen.”

Nach dem Essen gingen sie zusammen zu Marinas Auto zurück. “Heute Abend werden wir uns nicht sehen können, Liebster”, meinte sie schuldbewusst. “Ich möchte Pauline nicht allein lassen.”

“Das macht nichts, ich habe auch etwas vor!” Niels wartete, bis sie eingestiegen war, winkte ihr noch einmal zu und ging händereibend und mit tatendurstigen Schritten davon.
_ _ _

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon.

“Marina Sanders, ja bitte?”

“Hast du gut geschlafen, mein Schatz? Ich möchte Pauline und dich heute Abend zum Essen ausführen.”

“Hoffentlich ist sie einverstanden”, zögerte sie.

“Sie hat es zu sein”, meinte Niels streng.

“Willst du ihr ins Gewissen reden?”

“Nein, ich habe etwas viel Besseres vor. Bitte, vertrau mir, Marina.”

Es war nicht leicht gewesen, Pauline zu überzeugen, aber Marina hatte es geschafft. Als sie jedoch pünktlich das von Niels gewählte Restaurant betraten, war er nicht allein. Zwei Männer erhoben sich vom Tisch.

Pauline wurde blass: “Norbert! Ich hätte mir denken können, dass es eine Falle ist!”

Sie wollte auf dem Absatz kehrt machen, aber Niels war mit wenigen Schritten bei ihr und griff nach ihrem Arm: “Bleib, Pauline”, sagte er in bestimmtem Ton.

“Wie kannst du mir derart in den Rücken fallen?” protestierte sie scharf. “Ich will nie wieder mit ihm sprechen!”

Niels blieb ganz ruhig. “Genau das bist du ihm aber schuldig. In jedem Prozess hört man erst die Gegenseite an, ehe man das Urteil fällt, das solltest gerade du doch wissen, als Juristin.”

“Warum mischt du dich überhaupt ein?”

“Glaubst du wirklich, dass ich tatenlos zusehe, wie hier alles den Bach ‘runtergeht? Nur weil du ein bisschen leidest?”

“Ein bisschen leiden, nennst du das?” Paulines Augen blitzten empört. “Du kannst nicht wissen, was mir der Mistkerl angetan hat!”

“Weiss ich doch. Norbert hat es mir erzählt, aber er hat mir auch gesagt, dass er dich liebt.”

“Gibt es irgend etwas, über das ihr nicht gesprochen habt?”

Niels neigte sich zu ihrem Ohr hinunter: “Über das Baby. Das musst du ihm schon selbst sagen.”

“Bitte, Pauline, lass mich dir alles erklären!” Norbert war zu ihnen getreten.

Einen Augenblick sah Pauline aus, als würde sie ihm am liebsten mit allen zehn Nägeln das Gesicht zerkratzen, dann gab sie einen Laut zwischen Lachen und Weinen von sich: “Also gut, aber deine Erklärung muss schon absolut hervorragend sein!” Mit grossen Schritten ging sie ihm zum Tisch voraus.

Jetzt legte Niels den Arm um Marina und schmunzelte: “Pauline macht nicht den Eindruck, als benötigte sie besonderen Schutz. Wenn, braucht ihn jetzt eher Norbert. Komm, Liebste, lassen wir die beiden allein. Für uns habe ich in ‘unserem’ Restaurant reserviert.”

“Wie konntest du so sicher sein, dass alles klappt?”

“Ich war überhaupt nicht sicher, und das alles hat mich sehr hungrig gemacht!”
_ _ _

Während des Aperitifs erzählte Niels. Er hatte am Vorabend Norbert in eine Kneipe abgeschleppt. Nach zwei Gläsern Bier und drei Schnäpsen hatte sich dessen Zunge gelöst.

“Die klassische Geschichte. Als seine frühere Freundin Beate, die ihn verlassen hatte, hörte, dass er mit Pauline zusammengezogen war, stattete sie ihm überraschend einen Besuch ab. Das Unglück wollte es nun aber, dass Pauline und Norbert am Vorabend einen kleinen Streit hatten und Pauline noch nicht nach Hause gekommen war. Jedenfalls war die Art, wie Beate ihn anhimmelte, wie Balsam auf Norberts wundes Männerherz. Nur, als sie plötzlich vor dem Bett standen und Beate anfing, sein Hemd aufzuknöpfen und ihn hingebungsvoll zu küssen, ging ihm das Ganze zu weit. Er wollte sie sehr höflich herauskomplimentieren, aber es war schon zu spät: Pauline stand in der Tür. Den Rest wissen wir. Aber ich habe selten einen Mann gesehen, der so unglücklich war wie Norbert. Wir haben noch eine ganze Weile zusammengesessen, dann ist er mit hängenden Schultern nach Hause geschlichen. Es hat ihn aber etwas aufgerichtet, als ich ihn heute Morgen anrief und ihm sagte, dass er abends Pauline wiedersehen würde, um ihr alles erklären zu können.”

“Das war es also”, sagte Marina nachdenklich. “Aber Pauline hat das ungeheuer weh getan. Stell dir vor, sie kommt heim, um Norbert zu sagen, dass sie ein Baby haben werden, und dann das …”

“Ich weiss”, sagte Niels.

“Glaubst du, dass Norbert die Wahrheit sagt? Es kann mehr zwischen ihm und Beate gewesen sein.”

“Norbert war meiner Meinung nach ehrlich. Aber natürlich muss Pauline selbst entscheiden, ob sie ihm glaubt oder nicht. Es gibt halt solche Situationen, in denen man entscheiden muss, ob man dem anderen Glauben schenkt. Das hat keineswegs etwas mit Dummheit zu tun, sondern mit Liebe und Vertrauen. Und selbst wenn Norbert sicher nicht ganz unschuldig war an seiner misslichen Lage: Erwachsen sein heisst auch, verzeihen zu können.”

“Kannst du mir denn verzeihen, dass ich dich nicht mehr heiraten wollte, obwohl ich dich liebe?” fragte Marina reumütig.

“Welch eine Frage, ich liebe dich doch auch”, antwortete er zärtlich.

“Und erwachsen bist du ebenfalls. Wenn ich dich nicht hätte, Niels …”

Der Ober brachte das Vorgericht. Wie eine heisse Woge strömte das Glück zu Marinas Herzen. “Ich habe plötzlich auch einen Bärenhunger”, strahlte sie Niels an.

“Das wird auch Zeit”, lächelte er liebevoll zurück, “schliesslich will ich kein Gerippe heiraten!”

ENDE

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Freitag, 4. Januar 2013
ICH VERGESSE DICH NICHT
Björn ist der schönen Diane in leidenschaftlicher Liebe verfallen. Aber sie verlässt ihn, um in San Franzisco ihre vielversprechende Karriere fortzusetzen. So herzlos, wie es scheint, ist sie jedoch nicht ...
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Diane ass mit Genuss einen Bissen des Hähnchens nach Veroneser Art.

"Es schmeckt absolut köstlich", lächelte sie Björn an.

"Danke, dass du meine Einladung zum Essen angenommen hast. Dieses neue italienische Restaurant war eine gute Empfehlung."

Er bewunderte wieder einmal Dianes Schönheit. Wenn es nach ihm ginge, wären sie längst verheiratet, aber Diane wollte von Heirat nichts wissen. Im Augenblick wirkte sie jedoch so entspannt und glücklich, dass er neue Hoffnung schöpfte.

"Björn, ich muss es dir endlich sagen: Ich werde nach San Franzisco gehen ..."

Der Schock war so gross, dass er Mühe hatte, zu atmen. Es war, als öffnete sich ein Abgrund unter ihm.

Sie sprach leise weiter, aber die Vorfreude war ihr deutlich anzuhören: "In einem Monat trete ich dort meine neue Stelle in einem multinationalen Konzern an, eine wahre berufliche Herausforderung für mich." Diane war Wirtschaftsexpertin.

Abrupt schob er seinen Teller zurück: "Wann hast du die Entscheidung getroffen? Und wann hast du dich dort vorgestellt?" Er konnte es nicht fassen, dass er nichts gemerkt hatte. Wieder einmal führte die Frau, die er liebte, ihm erbarmungslos vor Augen, wie wenig sie ihn an ihrem Leben teilhaben liess!

Sie sah ihn schuldbewusst an und rechtfertigte sich dann: "Björn, ich hatte dir von Anfang an gesagt ..."

"Ich weiss", winkte er ab. Ja, sie hatte ihm gesagt, dass sie sich niemals binden, niemals sesshaft werden würde. Aber er hatte gehofft, dass sie ihre Meinung ändern, dass es ihm gelingen würde, ihr Herz zu erobern. Nun musste er feststellen, wie fremd sie ihm geblieben war.

"Bitte, glaub mir, es ist mir schwer gefallen, diesen Schritt zu tun. Du bist der liebenswerteste Mann, den ich je kennengelernt habe, und keiner hätte es mehr verdient als du, glücklich zu sein. Aber mit mir würdest du dieses Glück nicht finden. In einer Ehe würde ich mich eingesperrt fühlen, dauernd hätte ich den Wunsch, auszubrechen. Und ich habe nicht das Recht, dich weiter hoffen zu lassen. Schau, ich hab das Vagabundentum im Blut."

Björn wusste, dass Dianes Vater Diplomat war, dass Diane in Afrika das Licht der Welt erblickt und dort ihre ersten beiden Lebensjahre verbracht hatte. Danach war es Indien gewesen, dann Marokko. Von dort war ihre Mutter mit der damals achtjährigen Diane nach Deutschland zurückgegangen und hatte sich scheiden lassen, aber in Deutschland hatte Diane sich nie heimisch gefühlt.

"Mach nicht ein so trauriges Gesicht, lass uns die Zeit, die uns bleibt, einfach geniessen", versuchte sie, ihn aufzumuntern.

Er dachte daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Es war vor einem Jahr gewesen, im Urlaub in Marokko. Er beobachtete sie, wie sie in einem Basar gekonnt mit einem Händler feilschte. Als er merkte, wie begehrlich die Männer sie anstarrten, hatte er sich der schönen jungen Frau genähert und ihr seine Begleitung angeboten. Sie hatte ihn prüfend angesehen, gelächelt und sich dann einfach bei ihm eingehakt. Als er sie zum Essen einlud, hatte sie ihn vor sich gewarnt. Aber was nützt eine Warnung, wenn man sich auf den ersten Blick derart leidenschaftlich verliebt hatte?
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Einen Monat später brachte er Diane zum Flughafen, nahm sie ein letztes Mal in die Arme. Sie strich liebevoll über sein Gesicht: "Danke für alles, Björn, es war ein wunderbares Jahr." Dann schob sie ihn sanft von sich: "Und jetzt geh und schau dich nicht um, ich mag keine langen Abschiede."

Sie hatte einen Seidenschal bei ihm vergessen, dem noch ihr Parfüm anhaftete. Manchmal hielt er ihn an sein Gesicht, er brachte ihm ein wenig ihre Gegenwart zurück. Er hoffte auf einen Anruf, ein Lebenszeichen, aber nichts kam. Also betäubte er sich mit Arbeit, blieb bis spät in die Nacht in den Gewächshäusern des wissenschaftlichen Instituts, in dem er als Agraringenieur tätig war.

Eines Sonntag Nachmittags klingelte es an der Tür. Es war Karen, Dianes Halbschwester. Er hatte sie ein paarmal gesehen, als er noch mit Diane zusammen war und mochte sie, so wie man eine kleine Schwester mag.

Karen lächelte ihm zu: "Hallo Björn."

Er zwang sich, zurückzulächeln: "Grüss dich, Karen. Schön, dich zu sehen. Komm herein. Was führt dich zu mir?"

Etwas verlegen erwiderte sie: "Diane hat ihren Schal bei dir vergessen und möchte, dass ich ihn ihr schicke."

"Natürlich." Er holte den Schal, wobei er einen schmerzhaften Stich spürte. Diane wollte ihm also auch noch diese letzte Erinnerung nehmen!

"Danke, Björn. Ich möchte dich nicht länger aufhalten."

"Du störst mich nicht, im Gegenteil", erwiderte er hastig. "Bitte, setz dich doch. Du hast also etwas von Diane gehört? Wie geht es ihr?"

"Gut", erwiderte sie zurückhaltend. "Sie ist begeistert von ihrem neuen Leben, aber sie ist so beschäftigt, dass sie einfach nicht viel Zeit zum Telefonieren oder Schreiben hat."

Mitfühlend verschwieg sie ihm, dass Diane und sie schon ein paarmal ausgiebig miteinander telefoniert hatten. Ihre Schwester machte sich Sorgen um Björn. Und er sah tatsächlich nicht allzu gut aus.

Er strich sich über das kurzgeschorene Haar und schlug spontan vor: "Das Wetter ist so schön. Hast du Lust auf einen Spaziergang? Wir könnten danach Kaffee in diesem netten Waldgasthaus trinken."

Sie war wie er eine leidenschaftliche Naturliebhaberin und nahm gern die Einladung an, überzeugt davon, dass Björn mit ihr nur über Diane sprechen wollte.

Björn stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Gasthauses ab. Während sie durch den Wald gingen, beantwortete Karen bereitwillig seine Fragen: Ja, die neue Arbeit gefiel Diane. Nein, von einem anderen Mann in ihrem Leben hatte sie nichts gesagt. "Und was machst du im Augenblick?" fragte sie schliesslich, um ihn abzulenken.

Er stellte fest, dass es ein wahres Vergnügen war, Karen von seiner Arbeit in den Gewächshäusern und auf den Versuchsfeldern zu erzählen. Sie hörte ihm aufmerksam zu und stellte kluge Fragen.

"Ich rede und rede. Jetzt bist du an der Reihe. Wie läuft es denn bei dir in der Bibliothek?"

Sie brachte ihn zum Lachen mit ihren Geschichten über ihre Leser, unter denen es auch den sprichwörtlich zerstreuten Professor gab. Die Zeit verging wie im Flug. Als sie vom Spaziergang zurückkamen, wurden im Gasthaus schon die Tische fürs Abendessen gedeckt.

"Macht nichts", erklärte sie vergnügt, "statt Kaffee zu trinken, essen wir eben zu Abend. Aber ich bestehe darauf, dass wir uns die Rechnung teilen!"
_ _ _

In den nächsten Tagen sah er Karens Gesicht oft vor sich. Ihre hellblauen Augen, ihr blondes Haar, den weichen, beweglichen Mund. Er glaubte, ihr fröhliches Lachen zu hören.

Zehn Tage später fasste er sich ein Herz und rief sie an, um zu fragen, ob sie wieder Lust auf einen kleinen Ausflug hätte. Von da an sahen sie sich regelmässig, auf rein freundschaftlicher Basis, wie sie sich gegenseitig versicherten. Auch Karen hatte eine schmerzhafte Enttäuschung hinter sich, und ihre Wunden waren noch nicht verheilt.

Dann sollte Björn an einem wissenschaftlichen Kongress teilnehmen, der in San Franzisco stattfand.

"Du wirst sicher Diane besuchen?" Karen merkte überrascht, dass ihr das Herz schwer wurde und schüttelte über sich selbst den Kopf. Nie hatte ein Mann zwischen Diane und ihr gestanden, sie hatten sich immer gut verstanden, so verschieden sie auch waren. So verschieden wie ihre Väter, hatten sie oft festgestellt. Im Gegensatz zu Dianes weitgereisem Diplomatenvater war Karens Vater, den Dianes Mutter in zweiter Ehe geheiratet hatte, ein sesshafter Landarzt. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, dass sie sich geirrt hatte, als sie glaubte, aus Liebe mit einem Diplomaten glücklich werden zu können.

"Ich weiss nicht einmal ihre Adresse", murmelte Björn.

"Ich gebe sie dir. Natürlich."
_ _ _

In San Franzisco hinderten ihn jedoch Stolz und Selbstschutz daran, Verbindung mit Diane aufzunehmen. Aber war es wirklich nur das? Er wurde nicht klug aus seinen Gefühlen. Sie war es, die ihn schliesslich im Hotel anrief: "Hallo, Björn, Karen hat mir erzählt, dass du im Augenblick in San Franzisco bist. Ich finde, wir sollten uns treffen."

Ohne seine Antwort abzuwarten, schlug sie ein Essen in einem renommierten französischen Restaurant vor. Sie trafen gleichzeitig ein, und er stellte überrascht fest, dass er sich zwar freute, Diane wiederzusehen, dass ihre Schönheit ihn immer noch beeinbdruckte, dass sein Herz aber nicht mehr schmerzte. Nach dem Essen sassen sie noch bei einem Espresso zusammen. Als Diane ihm ihre Hand über den Tisch hinweg zuschob und er die seine darüberlegte, fand er den Kontakt angenehm. Mehr jedoch nicht.

Sie sah ihn aufmerksam an und bemerkte: "Du hast dich verändert."

"Findest du?"

Entspannt lehnte sie sich nun zurück: "Ja, du wirkst ruhiger und ausgeglichener. Es ist gut, dass du mich Quälgeist los bist." Scheinbar übergangslos fragte sie mit spitzbübischem Lächeln: "Hast du Karen immer noch keinen Heiratsantrag gemacht?"

Er brauchte einen Moment, um zu begreifen und runzelte dann die Stirn: "Karen und ich, wir sind nur gute Freude ..."

Sie verdrehte die Augen: "Genau das erzählt sie mir auch immer. Wie kann man nur so blind sein? Ich habe nie zwei Menschen gekannt, die besser zueinander passen als ihr."

Nachdenklich fügte sie hinzu: "Ist es nicht seltsam, dass man sich oft so leidenschaftlich in jemanden verliebt, der überhaupt nicht zu einem passt? Aber um auf Karen und dich zurückzukommen: Ich habe immer befürchtet, dass ihr eure Liebe zueinander entdecken könntet, als wir beide noch zusammen waren."

"Was für ein Unsinn", schüttelte er den Kopf, dann horchte er auf: "Warst du etwa eifersüchtig? Du, Diane?" Er konnte es nicht fassen.

"Ich habe dich geliebt, Björn, selbst wenn ich mir eher die Zunge abgebissen hätte, als es dir zu gestehen."

"Du hast ..."

Sie entzog ihm sanft ihre Hand und atmete tief durch: "Es ist vorbei. Deswegen kann ich jetzt darüber sprechen. Und bei dir ist es auch vorbei, was du auch sagen magst. Was mich betrifft, so weiss ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich merke es daran, wie glücklich ich hier bin. Ich möchte nur, dass du weisst, dass ich dich nicht zum Narren gehalten habe."

Und plötzlich begriff er, dass sie ihren Seidenschal zurückhaben wollte, um ihm ein unendlich kostbareres Geschenk zu machen: eine neue Liebe!

Aber der Augenblick der Rührung war vorbei. Lebhaft erzählte sie ihm nun von ihrer Arbeit, ihren beruflichen Erfolgen. Dann lächelte sie ihm zu: "Vielleicht werde ich, wenn ich alt bin, bereuen, keine Kinder und Enkel zu haben, deswegen sieh zu, dass ich wenigstens Neffen und Nichten bekomme!"
_ _ _

Karen stand hinter der Absperrung in der Flughafenhalle. Sie war blass, als hätte sie die letzten Nächte schlecht geschlafen.

Eine Welle der Freude überflutete ihn bei ihrem Anblick: "Karen! Ich bin so froh, dich wiederzusehen." Es war die Wahrheit.

Sie lächelte ihm kurz zu, dann nahm ihr Gesicht einen angespannten Ausdruck an: "Hast du Diane wiedergesehen?"

Er nickte. Diane schien ihm plötzlich so fern.

"Und?" fragte sie, während ihre blauen Augen sein Gesicht erforschten.

Mit fester Stimme erklärte er: "Wir haben einen schönen Abend miteinander verbracht, aber wir wissen jetzt beide, dass unsere Liebe der Vergangenheit angehört."

Während er sein Gepäck schulterte und sie langsam auf den Ausgang zugingen, war ihm, als hörte er sie aufatmen.

"Weisst du, was ich in der Zwischenzeit begriffen habe?" fragte sie leise.

Sie waren beide stehengeblieben, und er liess sein Gepäck zu Boden gleiten: "Darf ich zuerst sprechen? Ich habe auch etwas begriffen. Ich liebe dich nämlich, Karen."

"Ich dich auch, Björn", erwiderte sie, während eine heisse Welle des Glücks in ihr aufstieg. Nachdenklich fügte sie hinzu: "Warum habe ich mich nur so lange dagegen gewehrt?"

Er dachte an die kluge Diane. "Unsere Wunden mussten erst heilen, und wir mussten von der falschen Vorstellung, die wir uns von der Liebe machten, ablassen. Ach, Karen, wir haben so viel Zeit verloren, am liebsten würde ich dich vom Fleck weg heiraten!"

"Ich erhebe keine Einwände", lachte sie, und dann standen sie mitten im Strom der Fluggäste und küssten sich selbstvergessen ...

ENDE

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Mittwoch, 2. Januar 2013
ALS DER FUNKE ÜBERSPRANG
Regine ahnt nicht, dass der Antiquitätenhändler Lukas, für den sie gelegentlich Bilder restauriert, seit langem in sie verliebt ist …
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Das Telefon klingelte. Regine wollte abheben, aber Detlef kam ihr zuvor. Mit finsterer Miene reichte er ihr den Hörer und sagte knapp: “Lukas ist dran.”

“Hallo Lukas, hier ist Regine”, meldete sie sich.

“Du warst nicht in deiner Werkstatt, deswegen rufe ich dich zu Hause an”, sagte Lukas. “Entschuldige, ich wusste nicht, dass Detlef da ist.”

“Er ist früher als erwartet aus Los Angeles zurückgekommen.”

“Dann möchte ich nicht stören …”

“Du störst nicht, schiess los.”

“Also gut”, erwiderte Lukas. “Hör zu. Nächste Woche findet in Paris die Versteigerung eines Nachlasses statt. Es sind einige wunderbare alte Ölgemälde darunter, die sich für uns als interessant erweisen könnten. In Frankreich gibt es keinen nennenswerten Markt für diese Bilder, und sie scheinen auch nicht besonders gut erhalten zu sein. Deshalb müssten wir sie relativ günstig ersteigern und hier mit einem hübschen Gewinn verkaufen können. Vorausgesetzt, du kannst sie restaurieren, Regine.”

“Dazu müsste ich sie zuerst sehen.”

“Könntest du mit nach Paris kommen? Ich übernehme alle Kosten.” Lukas Stimme klang aufgeregt und fröhlich, weil es das erste Mal war, dass er an einer grossen, internationalen Versteigerung teilnehmen würde.

Regine wusste, was das für ihn bedeutete. Aber auch ihr Herz klopfte schneller. In Paris hatte sie ihre Ausbildung als Restauratorin gemacht, und sie liebte die wunderbare Stadt an der Seine.

Verstohlen warf sie Detlef einen Blick zu. Dieser war aufgestanden und ans Fenster getreten, sogar sein Rücken drückte Missbilligung aus. Sie hatten gerade wieder eine Auseinandersetzung wegen ihrer Arbeit gehabt. Er wollte, dass sie so schnell wie möglich heirateteten und sie ihren Job aufgab. Unumwunden hatte er erklärt: “Ich kann eine Familie ernähren, du brauchst nicht zu arbeiten.”

Das war nicht immer so gewesen. Als sie sich vor drei Jahren kennengelernt hatten und zusammengezogen waren, war Detlef froh gewesen, dass Regine mitverdiente. Doch mittlerweile hatte er als Rechtsberater in einem grossen Konzern Karriere gemacht.

“Wenn wir beide arbeiten”, hatte er argumentiert, “würden wir uns noch weniger sehen. Ich muss viel reisen, und du könntest mich immer begleiten. Zumindest, solange wir noch keine Kinder haben.”

Kinder wünschten sie sich beide. Regine wäre durchaus bereit gewesen, beruflich kürzer zu treten, solange die Kinder klein wären - aber ihre Arbeit ganz aufzugeben, wie Detlef sich das wünschte, das sah sie eigentlich nicht ein. “Ich wäre nicht wirklich glücklich ohne meine Werkstatt, Detlef”, hatte sie ihm gesagt. “Ich habe doch nicht all die Jahre gelernt und mich beruflich weiterentwickelt, um nur noch Hausfrau und Mutter zu sein.”

Darauf hatte Detlef ihr vorgeworfen, immer nur an sich selbst zu denken. Das hatte sie sehr getroffen.

“Regine, bist du noch am Apparat?” fragte Lukas.

Detlef hatte sich umgedreht. Er sah jetzt müde und verletzt aus und tat Regine auf einmal leid. Er hatte einen Flug früher bekommen und sich gefreut, die so gewonnenen Stunden mit ihr verbringen zu können, und promt hatten sie sich gestritten. Rasch sagte sie: “Lukas, ich komme morgen früh zu dir. Dann reden wir darüber.”
_ _ _

Sie sassen in dem kleinen Büro hinter Lukas’ Antiquitätengeschäft. Regine studierte die Unterlagen über die Versteigerung.

Wie hübsch sie ist mit ihren klaren blauen Augen und dem langen brauen Haar, dachte Lukas wieder einmal bewundernd. Aber in letzter Zeit machte er sich Sorgen um sie. Er erinnerte sich noch gut an die resolute, begeisterungsfähige Regine, die vor knapp vier Jahren in seinen Laden gekommen war. Jetzt wirkte sie ernst und bedrückt. Das war doch nicht normal für eine Frau, die bald den Mann heiraten wollte, den sie liebte? Er wünschte, er könnte ihr helfen. Aber wie? Regine sprach nicht gern über ihre privaten Probleme.

Regine atmete tief ein. Dann sagte sie: “Es tut mir leid, aber ich kann nicht mitkommen, Lukas. Du musst wohl allein nach Paris fliegen.”

“Das hätte wenig Zweck. Ich spreche zu schlecht Französisch und kann auch den Zustand der Bilder nicht so gut beurteilen wie du. Aber vergiss es, es ist nicht so wichtig.” Leise fügte er hinzu: “Regine, darf ich dich etwas fragen? Bist du glücklich?”

Ihr Gesicht verschloss sich augenblicklich. Aber dann sah sie die Besorgnis in den warmen braunen Augen des Freundes und verspürte das Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen.

“Detlef möchte, dass ich meinen Beruf aufgebe”, gestand sie ihm. “Es fällt mir schwer, aber er hat wohl recht. Wenn wir beide arbeiten, haben wir zu wenig voneinander, und später würden auch unsere Kinder darunter leiden. Ach Lukas, ich bin die ständigen Auseinandersetzungen so leid. Ich glaube, es ist vernünftiger, mich nach Detlef zu richten. Er verdient erheblich mehr als ich. Ich weiss, dass ich dir gegenüber undankbar bin. Bitte, verzeih mir.”

“Du schuldest mir nichts, Regine. Ich respektiere deine Entscheidung, aber ich denke da an erster Linie an dich. Wird die Arbeit dir nicht fehlen?”

Sie nickte und musste daran denken, wie sie Lukas kennengelernt hatte. Es war noch nicht lange her, dass sie sich mit einer eigenen Werkstatt selbstständig gemacht hatte, und sie war auf der Suche nach Aufträgen gewesen. Als sie Lukas’ Antiquitätenladen betreten hatte, war er erwartungsvoll auf sie zugekommen und hatte hoffnungsvoll gefragt: “Bitte, was wünschen Sie?”

“Arbeit”, hatte sie geantwortet, und Lukas hatte ein enttäuschtes Gesicht gemacht: “Ich dachte, Sie seien endlich eine Kundin!”

Bei einer Tasse Tee hatte er ihr dann erzählt, dass er den Laden mit der Wohnung darüber von seinem schrulligen Onkel geerbt hatte. “Alles hier war unglaublich schmutzig und verstaubt, aber ich habe die Ärmel aufgekrempelt und das grösste Chaos beseitigt. Leider habe ich in zwei Monaten nur zwei Vasen und einen Kerzenleuchter verkauft.

“Kein Wunder”, hatte Regine schmunzelnd geantwortet. “Unter all dem Trödel befinden sich zwar einige zauberhafte Stücke, aber keins davon ist richtig zur Geltung gebracht.” Sie deutete auf ein Ölgemälde. “Diese Flusslandschaft zum Beispiel findet bestimmt einen Käufer, wenn sie erst einmal fachmännisch restauriert ist. Wollen Sie mir das Bild nicht anvertrauen? Sie werden staunen, was man daraus machen kann.”

Lukas hatte ihr das Ölgemälde mitgegeben - und hätte es fast nicht wiedererkannt, als sie es eine Woche später zurückbrachte. Eine ältere Dame, die sich gerade interessiert im Laden umschaute, war von dem Bild begeistert und kaufte es vom Fleck weg. Seitdem hatte Regine immer wieder Bilder für Lukas restauriert.

Nein, sie konnte ihn nicht hängen lassen, dachte sie plötzlich, auch Detlef zuliebe nicht. Ausserdem hatte sie Lust, nach Paris zu fahren und an dieser Auktion teilzunehmen. Seit gestern Abend, als sie nach langem Überlegen beschlossen hatte, das Kriegsbeil zu begraben und sich mit Detlef zu versöhnen, fühlte sie sich mutlos und bedrückt. Hier, bei Lukas im vertrauten Laden, kehrten ihre Lebensgeister zurück.
Sie lächelte Lukas zu und verkündete: “Du wirst mich für verrückt halten, aber ich habe meine Meinung geändert. Ich fliege mit nach Paris!”

Seine Augen leuchteten auf, aber er fragte zögernd: “Bist du sicher, dass es keinen Ärger mit Detlef gibt?”

“Und wenn schon”, gab Regine seufzend zurück. “Er muss einsehen, dass ich an meiner Arbeit hänge wie er an seiner.”
_ _ _

“Ich hätte es wissen müssen! Lukas ist dir wichtiger als ich!” Detlefs Gesicht war weiss vor Zorn.

“Nein, ganz bestimmt nicht, und das weisst du auch”, erwiderte Regine so ruhig wie möglich. “Mir ist nur meine Arbeit genau so wichtig wie dir deine. Das ist doch kein Verbrechen?”

“Und wann fliegt ihr?”

“Am Freitag. Die Versteigerung findet am Samstag statt, aber wir müssen uns vorher die Bilder ansehen.”

“Dann seid ihr also am Samstag Abend wieder zurück?”

“Nein, erst am Sonntag Abend. Wir wollen uns noch auf einigen Flohmärkten umsehen.”

“Was? Du lässt mich das ganze Wochenende allein? Das wird ja immer schöner!” Er schäumte vor Wut.

“Vergiss nicht, dass auch ich viele Wochenenden allein verbringe, wenn du beruflich unterwegs bist.”

Dem konnte Detlef nichts entgegensetzen, aber eine Frage beschäftige ihn noch – ob sie mit Lukas im selben Hotel wohnen würde.

“Ja, aber natürlich in getrennten Zimmern. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Detlef? Dazu besteht wirklich kein Grund. Ich möchte Lukas helfen, kannst du das nicht verstehen?” Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: “Detlef, ich liebe dich. Nur frage ich mich manchmal, ob auch du mich liebst.”

Statt ihr darauf eine Antwort zu geben, ging Detlef in die Küche und kehrte mit einer Flasche Champagner zurück. Er nahm zwei Gläser aus dem Büffet, öffnete die Flasche, schenkte ein und reichte ihr ein Glas: “Ein Friedensangebot. Vertragen wir uns wieder? Ich liebe dich über alles, Regine, auch wenn du manchmal nicht den Eindruck haben solltest.”

“Oh, Detlef!” Gerührt sah sie ihn an. Sein blondes Haar trug er seit kurzem streng zurückgekämmt, aber seine Augen funkelten jetzt so lausbubenhaft wie damals, als sie sich in ihn verliebt hatte. Sie konnte nicht anders: Mit einer zärtlichen Geste zerzauste sie sein Haar. Automatisch strich er es sofort wieder glatt. Dann schob er eine CD in den Player und zog Regine in seine Arme. Als sie zu den Klängen der romantischen Musik Wange an Wange tanzten, war sie vollends versöhnt. Voll Liebe und Zärtlichkeit schmiegte sie sich an Detlef.

“Zeit zum Schlafengehen”, raunte Detlef schliesslich in ihr Ohr, aber seine Augen sprachen nicht vom Schlafen, in seinem Blick lag Begehren …

Viel später kuschelte sich Regine glücklich an seine Brust, und er knabberte vergnügt an ihrem Ohrläppchen. “Also?” murmelte er, “willst du etwa immer noch nach Paris fahren?”

Schlagartig war Regine ernüchtert - und dazu überaus misstrauisch. Hatte Detlef all das etwa nur inszeniert, um sie umzustimmen?

Abrupt setzte sie sich im Bett auf und sagte mit fester Stimme: “Selbstverständlich Detlef, ich dachte, das sei klar!”

“Und ebenso klar ist, dass Lukas in dich verliebt ist”, knurrte er wütend. “Ich bin doch nicht blind!” Damit drehte er sich zur Wand und knipste seine Nachttischlampe aus.

Mit Tränen in den Augen legte Regine sich wieder hin. Sie fühlte sich zu müde und zu enttäuscht, um etwas darauf zu erwidern …
_ _ _

Interessiert betrachteten Lukas und Regine die ausgestellten Bilder. “Diese Wiesenlandschaft in der Dämmerung gefällt mir”, meinte Lukas.

“Ich wette, dass der Himmel urspünglich mal licht und blau war. Die Farben sind nachgedunkelt. Aber das kriege ich wieder hin.”

“Und was sagst du zu dieser kaputten Idylle?” wollte er wissen. Durch die Leinwand lief ein tiefer Riss.

“Kein Problem”, erwiderte Regine nach kurzer Prüfung, “den mach’ ich weg.”

Am nächsten Tag konnte Lukas zu seiner Freude sechs der Bilder, die er sich vorgemerkt hatte, zu günstigen Preisen ersteigern. Nachdem er den Scheck hinterlegt hatte, drehte er sich zu Regine um, hob sie hoch und wirbelte sie übermütig herum: “Das werden wir jetzt mit einem grossen Essen feiern!”

Sie fuhren mit dem Taxi nach Montmartre und fanden auf Anhieb ein Restaurant, das ihnen gefiel. Der Ober führte sie an einen Fenstertisch, von dem aus sie das lebhafte Treiben auf der Strasse beobachten konnten, und legte ihnen die Karte vor. Regine übersetzte Lukas die Namen der Gerichte, und zusammen stellten sie ein leckeres Menü zusammen und bestellten auch den passenden Wein dazu.

Als sie Vorspeisen serviert waren, hob Lukas sein Glas: “Auf einen schönen Abend, Regine. Und danke, dass du mitgekommen bist!”

Es wurde ein schöner Abend, und es war fast Mitternacht, als sie sich auf dem Hotelflur trennten. “Gute Nacht, Regine”, sagte Lukas herzlich. Ich freue mich schon auf morgen, wenn wir uns die Flohmärkte ansehen. Was meinst du, wollen wir uns um neun zum Frühstück treffen?”

Das dunkle, verwuschelte Haar fiel ihm in die Stirn, und seine braunen Augen strahlten voller Wärme. Warum war mit Lukas alles so einfach und mit Detlef so kompliziert, fragte sich Regine - und plötzlich hatte sie den Wunsch, Lukas möge sie in die Arme nehmen und ihr die selbstlose Liebe und Zärtlichkeit schenken, die Detlef ihr immer öfter verweigerte.

Er sah ihr immer noch in die Augen, und auf einmal war es, als sei ein Funke zwischen ihnen übergesprungen. Regine erschrak zutiefst. Hatte Detlef recht mit seiner Behauptung, dass Lukas in sie verliebt war? Und war sie dabei, sich selbst in ihn zu verlieben?

Lukas spürte ihre Verwirrung. Er liebte Regine, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte aber nie den Mut gefunden, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Und dann war der gutaussehende Detlef gekommen, und er, Lukas, hatte seine Liebe tief in seinem Herzen verschliessen müssen.

Einen Augenblick hatte er geglaubt, ein Echo auf seine Gefühle in Regines Augen zu entdecken, aber schon wandte sie sich hastig ab und schloss ihre Zimmertür auf. “Gute Nacht, Lukas”, sagte sie nur knapp. “Schlaf gut.”

Sie selbst fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Es dämmerte, als sie aufstand, sich anzog und ihre Reisetasche packte. An der Rezeption hinterliess sie ein paar Zeilen für Lukas, dann fuhr sie mit dem Taxi zum Flughafen.

Sie war erleichtert, einen Platz in der nächsten Maschine zu bekommen. Während des Fluges versuchte sie, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war vor Lukas geflohen, vor ihrer keimenden Liebe zu ihm, weil sie noch einmal mit Detlef sprechen, noch einmal versuchen wollte, die Missverständnisse und Schwierigkeiten der letzten Zeit auszuräumen und ihrer Liebe eine Chance zu geben. Das schuldete sie Detlef - und auch sich selbst.

Regine öffnete die Wohnungstür - und prallte gleich im Flur mit Detlef zusammen. Fast bockig sagte er: “Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet, du hättest anrufen können!”

“Aber warum denn? Du hast auch nicht angerufen, als du früher aus Los Angeles zurückgekommen bist.” Im selben Moment hörte Regine das Rauschen der Dusche im Badezimmer, bemerkte den Duft eines fremden Parfüms. “Hast du … hast du Besuch?”

“Na ja …”, er wurde rot.

“Wer ist es? ” Sie wollte ins Schlafzimmer stürmen, aber er verstellte ihr den Weg. Durch die halb geöffnete Tür sah Regine jedoch genug: das zerwühlte Bett, ein Kleid, Dessous und hochhackige Schuhe auf dem Boden.

“Wie lange geht das schon?” fragte sie und registrierte verwundert, dass sie innerlich ganz ruhig war.

“Sie heisst Michaela, und ich kenne sie seit einem Monat”, gab Detlef zu. “Du wolltest erst heute Abend zurückkommen, Regine. Ich konnte doch nicht ahnen …”

“Ich wünsche euch viel Glück”, erwiderte sie und ging zur Tür. “Meine anderen Sachen hole ich später mal ab.”

Er versuchte nicht, sie zurückzuhalten, und sie ging zu Fuss bis zu ihrer Werkstatt. Bevor sie Detlef kennengelernte, hatte sie dort gewohnt. Es war etwas eng, aber es würde gehen, bis sie etwas anderes gefunden hatte.

Die Tränen kamen von ganz allein. Regine weinte aus Ratlosigkeit, aus bitterer Enttäuschung. Sie weinte aus Trauer um die verlorene Liebe und um ihr hässliches Ende. Schluchzend legte sie sich auf das alte Plüschsofa und schlief völlig erschöpft ein …

Ein hartnäckiges Klingeln schreckte sie aus dem Schlaf. Aber sie dachte nicht daran, zu öffnen. Es klingelte noch zweimal Sturm, dann wurde energisch gegen die Tür geklopft. “Regine, bitte mach auf. Ich bin es, Lukas.”

Da endlich öffnete sie. “Warum bist du nicht in Paris geblieben?” fragte sie mit zitternder Stimme.

“Weil du nicht mehr da warst.” Lukas dachte an den Schmerz, den er empfunden hatte, als er Regines hastig hingeworfene Zeilen gelesen hatte: “Es ist besser, ich fahre nach Hause. Es tut mir leid, dich nicht zum Flohmarkt begleiten zu können, ich hoffe, du kommst dort allein zurecht.”


Aber ohne sie hatte ihn der Flohmarkt nicht interessiert. Nichts interessierte ihn mehr. Er hatte ebenfalls gepackt und das nächste Flugzeug genommen. Noch im Flughafen hatte er sofort bei ihr zu Hause angerufen, aber von Detlef erfahren, dass sie nicht dort war. Also war er auf’s Geradewohl zu ihrer Werkstatt gefahren. Er wollte nur wissen, ob es ihr gut ging. Nun bemerkte er, dass sie geweint hatte. Was war geschehen?

“Detlef hat eine Geliebte, aber das macht mir nichts mehr aus”, antwortete sie auf seine Frage. Leise fuhr sie fort: “Gestern ist etwas Unvorhergesehenes passiert. Ich … ich habe mich in dich verliebt, Lukas. Ich konnte das nur nicht zulassen.”

“Und jetzt?” Er hielt den Atem an.

“Würdest du mich bitte in die Arme nehmen?” flüsterte sie.

Sie klammerte sich an ihn, und er wiegte sie in seinen Armen hin und her. “Ich liebe dich auch, Regine, so lange schon”, murmelte er.

Da hob sie ihren Kopf und lächelte ihn unter Tränen an. Sie wusste, nun würde alles gut werden …

ENDE

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Sonntag, 30. Dezember 2012
EINE EREIGNISREICHE SILVESTERNACHT
Für Phil gab es nichts Schöneres, als reich zu sein und das Leben in vollen Zügen mit seinen Yuppie-Freunden zu geniessen. Aber Alice, die Frau seines Lebens, sah das anders …
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Phil Seidel stand vor dem Spiegel und band sich die Fliege um. Befriedigt stellte er fest, dass der Smoking immer noch tadellos passte. In den letzten beiden Jahren hatte er kein Gramm zugenommen. Kein Wunder, er hatte geschuftet wie ein Besessener und dabei gelebt wie ein Mönch. Und er hatte es geschafft, er war wieder „da“. Gunnars Einladung zur Silvesterparty war der beste Beweis dafür. Ein jungenhaft fröhliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, es ihnen allen gezeigt zu haben. Ganz allein hatte er es fertig gebracht, aus dem Schlamassel herauszukommen…

Die Fliege sass. Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das dichte dunkle Haar, legte den weissen Seidenschal um und griff fröhlich pfeifend nach dem Mantel. Im selben Augenblick klingelte es. Das bestellte Taxi war da. Als er die Wohnungstür hinter sich abschloss, dachte er voll Vorfreude, dass er nicht mehr lange in dieser engen Zweizimmerwohnung im vierten Stock ohne Aufzug hausen würde.

Phil nannte dem Taxifahrer Gunnars Adresse im Nobelviertel der Stadt, dann lehnte er sich zufrieden in die Polster zurück. Als sie angekommen waren, bezahlte er mit einem Schein und wies das Wechselgeld zurück. Er konnte es sich wieder leisten, grosszügig zu sein.

Vom Gehsteig der breiten, baumbestandenen Allee genoss er den Blick auf das luxuriöse, in gepflegte Grünanlagen eingebettete Appartementhaus. Gunnars Penthaus hoch oben war hell erleuchtet, genau wie die Eingangshalle aus weissem Marmor. Ein Wagen hielt. Die Türen fielen mit sattem Geräusch ins Schloss, dann klickte die Zentralverriegelung. Eine Frau lachte. Wie ein Adrenalinstoss fuhr ihm das leise, gurrende Lachen in die Glieder. Es war Nadia. Er hatte mit ihr eine kurze, aber heisse Affäre gehabt, ehe alles den Bach runterging. Sie wurde begleitet von einem korpulenten Mann mit beginnender Glatze.

Phil folgte ihnen, betrat hinter ihnen den Aufzug. Nadias Augen weiteten sich, als sie ihn erkannte, zeigten unverhüllte Freude: „Phil, wie schön, dich wiederzusehen! Richtig gut siehst du aus. Wie geht es dir? Wir haben dich alle so vermisst.“ Sie bot ihm ihre Wange zum Kuss, schmiegte sich katzenhaft geschmeidig kurz an ihn, und er verstand das Signal: Nadia war bereit, zu ihm zurück zu kommen. Verständlich, dachte er amüsiert, wenn man ihren jetzigen Partner sah.

Oben fiel die Begrüssung der anderen nicht weniger herzlich aus. Man hatte ihn vermisst. Man freute sich, dass er wieder da war. Er schüttelte Hände, gab Wangenküsschen. Die Männer klopften ihm auf die Schulter, nahmen ihn beiseite, um mit ihm über Geschäfte zu reden. Phil hatte geglaubt, problemlos dort anknüpfen zu können, wo er aufgehört hatte, aber plötzlich ergriff ihn ein Schwindel. Ein Abgrund tat sich vor ihm auf, wie ein dunkles Loch, in das er stürzte. Er sah diese Menschen zwei Jahre früher vor sich, als sie erfuhren, dass er ruiniert war. Ihre verschlossenen, peinlich berührten Gesichter. Als er ihre Hilfe brauchte, hatten sie ihn zurückgestossen, hatten ihn auf der Strasse nicht mehr erkannt und sich am Telefon verleugnen lassen. Auf einmal war nur noch Bitterkeit und Schmerz da. Und eine grosse Müdigkeit. Die Oberflächlichkeit und der zynische Opportunismus dieser Gesellschaft widerten ihn an. Nur Geld und Vergnügen zählten hier. Er entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner und bahnte sich einen Weg nach draussen.

Seinen Mantel hatte er vergessen, aber er spürte die Kälte kaum. Er ging schnell. Und er hatte weit zu gehen. Aber das machte ihm nichts. Im Gegenteil: er brauchte die Zeit, um zu sich zurückzufinden, um dem Verschütteten in sich nachzuspüren. Mit jedem Schritt kam er der Vergangenheit näher. Und die Vergangenheit hiess Alice …

Sie hatten sich während ihres Studiums kennengelernt. Er studierte Wirtschaftsinformatik, sie Deutsch und Geschichte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er sah Alice wieder vor sich. Ihre grünen Augen, die so warm und zärtlich blicken konnten und in denen goldene Lichter tanzten, wenn sie lachte. Das dichte, blonde Haar mit dem Kupferschimmer, das wie eine sprühende Kaskade auf ihre zierlichen Schultern fiel. Er glaubte, jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase zählen zu können, die sie so niedlich krauszog, wenn sie sich freute. Aber die temperamentvolle Alice konnte auch ernst sein. Ernst und aufmerksam … und unbestechlich, wenn es um menschliche Werte ging.

Sie hatten im selben Jahr ihren Abschluss gemacht. Sie war Lehrerin geworden, und er hatte zwei Computerprogramme entwickelt, mit denen er das grosse Geld gemacht hatte. Auf einmal hatte er viele Freunde gehabt. Freunde, die das Geld ebenso schnell verdienten und mit vollen Händen ausgaben wie er. Phil hatte das Gefühl gehabt, dass der Geldstrom nie abreissen würde. Er hatte ein Penthaus in bester Wohnlage gekauft, hatte es mit teuren Designermöbeln und modernen Kunstwerken ausgestattet. Ein Sportwagen stand in der Garage. Die Partys, die er mit seinen neuen Freunden feierte, wurden wichtiger als die Arbeit. Natürlich gehörte Alice zu diesem neuen Leben, aber sie lachte seltener, und wenn sie mit ihm sprach, wandte sie die Augen ab. Immer öfter weigerte sie sich, ihn zu den Yuppie-Festen zu begleiten. Das irritierte ihn über alle Massen. Verbittert hatte er ihr vorgeworfen, nicht Schritt halten zu wollen mit seinem sozialen Aufstieg.
_ _ _

Dann war das Weihnachtsfest gekommen. Er wollte es mit Alice und einigen Leuten aus der Clique in der Karibik verbringen. Alice sollte sich dazu neue, schicke Kleider kaufen, aber als er abends nach Hause kam, hatte sie nur einen Koffer gepackt: den seinen. Als er sie ungeduldig anfuhr, was denn nun schon wieder los sei, hatte sie ruhig geantwortet: „Phil, ich werde nicht mitkommen.“

„Und warum nicht?“ fuhr er auf.

„Weil es mir nicht gefällt, Weihnachten zusammen mit deinen Yuppie-Freunden in der Karibik zu feiern.“

„Aber diese Reise sollte dein Weihnachtsgeschenk sein!“

Sie hatte traurig den Kopf geschüttelt: „Es ist ein Geschenk, das du dir selbst machst. Du gibst dir keine Mühe mehr, herauszufinden, was mir Freude macht.“

„Dann sag doch, was du willst!“

Leise hatte sie geantwortet: „Weihnachten hier mit dir feiern. Vor dem Kamin. Mit einem Tannenbaum mit roten Kerzen.“

Er hatte ärgerlich aufgelacht: „Wie spiessig! Das können wir noch, wenn wir alt sind.“

Sie hatte ihn traurig angesehen, ihre schönen Augen standen voller Tränen. „Siehst du, wir mögen nicht mehr dieselben Dinge. Wir haben uns auseinander gelebt. Es ist wohl besser, wir trennen uns.“

„Ich dachte, wir wollten endlich heiraten!“

„Ach, Phil“, hatte sie geseufzt.

Er war unglaublich verletzt und wütend gewesen, weil es ihm vorkam, als verweigere sie ihm böswillig ihre Anerkennung. Aus purem Trotz war er allein in die Karibik geflogen. Als er nach Hause kam, war Alice ausgezogen. Kurz darauf hatte er Nadia kennengelernt, die seine Geschenke und seinen neuen Lebensstil zu schätzen wusste.

Aber mit Alice hatte ihn auch das Glück verlassen. Einer seiner neuen Freunde überredete ihn, ihm sein Geld anzuvertrauen. Er wollte es gewinnbringend anlegen. Ein Jahr später hatte er alles verloren, und der „Freund“ war verschwunden. Das Erwachen war bitter gewesen. Phil hatte hohe Steuerschulden, musste alles, was er besass, verkaufen. Und weil ein Ungück selten allein kam, verkauften sich seine Programme nicht mehr. Bessere Produkte waren inzwischen auf den Markt gekommen. Er hatte den Anschluss verpasst.

Seine Arbeit in den letzten beiden Jahren hatte darin bestanden, andere Marktlücken auszukundschaften und neue Programme zu entwickeln. Keines von ihnen hatte den Erfolg der ersten beiden, aber zusammen erlaubten sie es ihm, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Nur wusste er jetzt, dass das Wichtigste fehlte: Alice …

Dichter, weicher Schnee rieselte jetzt auf ihn herab. Er musste nur noch den Fluss überqueren, dann war er da. Aber sie, würde sie da sein? Vielleicht feierte sie woanders? Vielleicht war sie längst verheiratet? Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Qualvoll wurde ihm bewusst, dass er Alice immer noch liebte und dass er sie vielleicht für immer verloren hatte. Aber er wollte ihr doch wenigstens sagen, dass sie recht gehabt hatte …
_ _ _

Endlich stand er vor dem alten Bürgerhaus mit den romantischen Erkern. Alice hatte die Wohnung im zweiten Stock geerbt. Dorthin war sie zurück gegangen, als sie ihn verliess.

Erleichtert sah er, dass ihre Fenster hell erleuchtet waren und immer noch ihr Mädchenname auf der Klingelleiste stand: Alice Wagner. Er klopfte sich den Schnee ab, atmete tief ein und drückte auf die Klingel.

Als der Summton ertönte, stiess er die schwere Eingangstür auf. Er ging über die schwarz-weissen Fliesen des Eingangs zur gebohnerten Treppe mit dem geschnitzten Geländer. Die Tür oben war angelehnt, und er trat ein. Fröhliche Stimmen waren zu hören. Jemand spielte Chopin auf dem Klavier. Alice kam mit einem Tablett in der Hand aus dem Wohnzimmer, summte lächelnd die Melodie mit. Als sie ihn sah, erstarrte sie: „Phil“, sagte sie leise.

Sie war so blass, dass er ihr rasch das Tablett abnahm: „Entschuldige, ich hätte anrufen sollen, aber … es war ein spontaner Entschluss. Darf ich hereinkommen?“
Sie machte einen Versuch zu lächeln: „Natürlich. Die haben da drinnen schon fast alles aufgegessen. Ich wollte gerade Nachschub holen.“

Er folgte ihr in die grosse, gemütliche Küche. Als sie noch studierten, hatten sie oft zusammen hier gegessen. Auf dem Holztisch standen Schüsseln mit verschiedenen Salaten, ein Brett mit einem angeschnittenen Braten, Gläser mit eingelegten Gurken und schwarzen Oliven. Er setzte das Tablett ab und sah Alice mit schmerzlicher Eindringlichkeit an. Sie hatte sich nicht verändert. Nur eine zarte Falte, die er am liebsten voll Liebe berührt hätte, hatte sich in den Mundwinkeln eingegraben. Sie trug ein schlicht geschnittenes Spitzenkleid, ihr Haar fiel offen bis auf die Schultern.
Ihre Blicke trafen sich. „Wie geht es dir, Phil?“ fragte sie ernsthaft, und er wusste genau, dass sie nicht das Geld meinte.

„Nicht gut“, erwiderte er wahrheitsgemäss.

„Erzähl“, forderte sie ihn auf, wies auf einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber.

„Ich war auf einer Silvesterparty und hielt es plötzlich nicht mehr dort aus.“

„Bei deinen alten Freunden?“

Und als er nickte: „Dann gehörst du also wieder dazu?“

Alice war die einzige gewesen, die damals angerufen hatte, um ihm ihre Hilfe anzubieten, aber sie war auch die einzige, von der er diese Hilfe nicht annehmen wollte.

„Finanziell, ja“, antwortete er. „Ich bin schuldenfrei und kann wieder Pläne machen. Aber das Herz ist nicht mehr dabei. Ich möchte dich um Verzeihung bitten, Alice. Ich war damals unausstehlich. Ich verstehe jetzt, wie sehr ich dich enttäuscht habe.“

Sie sagte weich: „Ach Phil, wir haben auch so viel Schönes zusammen erlebt. Dein schneller Erfolg und das Geld waren dir zwar mächtig zu Kopf gestiegen, aber ein gutes Herz hattest du immer.“

In dem Moment ging die Tür auf. Ein Bild von einem Mann kam herein. Gutaussehend, breitschultrig, schmalhüftig.

„Alice, es ist nichts mehr zu trinken da“, erklärte er munter. Er musterte Phil mit einem kritischen Blick, und Alice stellte vor: „Jens, das ist Philipp Seidel, ich hab dir von ihm erzählt. Phil, das ist Jens Rothe, ein Kollege. Er ist Sportlehrer.“

Jens’ Händedruck war kurz und fest. Danach ging er zum Kühlschrank, holte zwei Flaschen Sekt heraus und öffnete sie geschickt. Mit einem Stich im Herzen stellte Phil fest, dass dieser Jens sich hier gut auszukennen schien.

Alice füllte die Schüsseln auf dem Tablett nach und drückte es Phil in die Hand: „Kommst du?“

Im grossen Wohnraum herrschte ein fröhliches Durcheinander. Es wurde gelacht, getanzt, geredet. Alle fühlten sich so offensichtlich wohl, dass auch Phils Brust weit wurde, obwohl er niemanden von all diesen Leuten kannte. Ihre Bekannten und Freunde hatten ihn damals nicht interessiert. Lehrer und Angestellte konnten in seinen Augen nur kleinbürgerliche Langweiler sein. Wie hatte er nur diese dummen Vorurteile haben können?

Alice klatschte in die Hände: „Ich möchte euch Philip Seidel vorstellen, einen guten Freund.“

Alle schüttelten ihm die Hand und stellten sich ebenfalls vor. Im Nu entstand eine angeregte Unterhaltung. Alice stiess mit Phil die Gläser an. Sagte: „Auf unser Wiedersehen!“

Nur Jens stand abseits und sah finster aus. Ein wenig später kam er zu Phil hinüber und raunte ihm zu: „Könnten wir einen Augenblick in die Küche gehen?“

„Natürlich“, erwiderte Phil bereitwillig.

Jens schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen.

„Warum sind Sie zurück gekommen? Reicht es Ihnen nicht, Alice schon einmal sehr weh getan zu haben?“

„Ich bin hier, um es gutzumachen, um es wenigstens zu versuchen. Ich möchte sie fragen, ob sie mich heiraten will.“

„Dann sind wir schon zwei“, erklärte Jens in entschiedenem Ton.

Phil fühlte einen Schmerz, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Was er vorhin befürchtet hatte, erwies sich also als richtig: Alice und Jens waren ein Paar.

„Einer von uns muss gehen“, fuhr Jens fort.

„Wer muss gehen?“ Auf einmal stand Alice in der Tûr.

„Wir wollten das unter uns abmachen“, sagte Jens.

„Nein“, sagte Phil. „Es handelt sich doch um dich. Wir lieben dich beide, Alice. Und du musst entscheiden, wen von uns beiden du willst.“

Jens zog ein kleines Päckchen aus der Tasche und öffnete es. Ein Ring lag darin: „Er ist für dich, Alice.“ Nachdem er Phil einen vorwurftsvollen Blick zugeworfen hatte, setzte er hinzu: „Ich hatte mir das so schön ausgedacht. Ich wollte dich genau um Mitternacht fragen, ob du meine Frau werden willst. Wenn die Glocken das neue Jahr einläuten.“

Phil kam sich vor wie ein Elefant im Porzellanladen. Was hatte er bloss angerichtet mit seinem Kommen?

„Ich lasse euch allein“, murmelte er, verliess die Küche und zog die Tür hinter sich zu. Sein Herz war so schwer wie ein Mühlenstein. Er hörte die Stimmen und das Gelächter der anderen, aber er konnte nur daran denken, dass in diesem Moment Jens den Ring an Alices Finger steckte und sie ihm ihre Lippen zum Kuss bot. Die Vorstellung tat unwahrscheinlich weh. Aber es geschah ihm ja recht. Er hatte seine Chance gehabt und sie vertan. Jetzt sollte er die Eleganz besitzen, zum richtigen Zeitpunkt zu verschwinden.

Er wollte gerade auf die Strasse treten, als er schnelle Schritte hinter sich hörte und sich eine Hand auf seinen Arm legte: „Also, das kommt gar nicht in Frage, dass du so einfach gehst“, sagte Alice zornig.

Er drehte sich um. Ihre Augen blitzten. Oder waren es Tränen? Wie eine Wolke umgab ihr Haar das ovale Gesicht. Wie schön sie war! Er sah sie bewundernd an, und der Verlust schien ihm unerträglich. Aber er wollte ein guter Verlierer sein: „Es ist besser für uns alle, wenn ich gehe. Ich wünsche dir und Jens viel Glück.“

Sie stampfte mit dem Fuss auf: „Aber ich will Jens doch gar nicht heiraten!“

„Du … du willst nicht? Aber er liebt dich …“

„Er liebt mich vielleicht, aber er hat mich bis eben nie gefragt, ob ich seine Gefühle erwidere. Für mich ist er ein guter Kollege und ein sehr lieber Freund, das ist alles. Auf meiner Seite jedenfalls!“

„Du hast seinen Heiratsantrag abgelehnt?“

„Natürlich. Selbst wenn es mir leid getan hat.“

„Und … wie geht es ihm?“

Sie kicherte etwas: „Er hat’s mit Fassung getragen. Er sagt, dass ihm jetzt nichts anderes übrig bleibt, als eine andere Frau zu finden, der der Ring passt.“

Phil spürte eine riesengrosse Erleichterung in sich aufsteigen. Sie wollte Jens nicht heiraten. Sie war frei! Aber plötzlich fehlten ihm die Worte, um ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte und brauchte. Sie wollte nicht Jens, aber vielleicht auch nicht ihn, Phil? Er hatte so viel falsch gemacht …

In diesem Augenblick begannen die Glocken zu läuten. Draussen knallten Feuerwerkskörper.

„Phil“, sagte Alice schliesslich, als er immer noch wie gelähmt da stand, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen: „Ich hab dir damals eine Menge Sachen an den Kopf geworfen, aber jetzt muss ich noch etwas hinzufügen: Du stellst dich mächtig dämlich an!“

„Dämlich? Ha!“ grollte er. Sie lächelte ihn an, und dann erwiderte sie leidenschaftlich seinen Kuss. Als sie zärtlich die Arme um seinen Hals schlang und ihn festhielt, als wolle sie ihn nie mehr loslassen, wusste er, dass sein Herz endlich heimgekommen war …

ENDE

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Freitag, 28. Dezember 2012
FALSCH GEWÄHLT - RICHTIG VERBUNDEN
Es gibt Momente, da geht wirklich alles schief. Karen kann ein Lied davon singen. Nicht nur, dass ihr Freund sie betrügt - bei dem Versuch, ihm telefonisch eine Szene zu machen, verwählt sie sich auch noch …
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Es war schon fast Mitternacht, als Lennart endlich die Fachzeitschrift aus der Hand legte, um ins Bett zu gehen. In dem Augenblick klingelte das Telefon. Wer mochte das so spät noch sein? Er nahm ab und räusperte seine belegte Stimme frei.

Bevor er sich jedoch melden konnte, stammelte eine tränenerstickte weibliche Stimme: “Endlich bist du da, du verdammter Mistkerl! Ich wollte dir sagen, dass endgültig Schluss ist! Bitte, komm mir nicht mehr mit dummen Ausreden und Entschuldigungen! Ich hab dich heute mit deiner neuen Flamme in der Stadt gesehen …”

“Hallo”, unterbrach er sie so behutsam wie möglich, “ich fürchte, Sie sind falsch verbunden.”

Stille. Er hatte plötzlich Angst, dass die so verzweifelt klingende Fremde einfach aufgelegen könnte. “Bitte, bleiben Sie dran,” bat er und suchte hastig nach etwas Tröstendem, das er ihr sagen könnte.

Er hörte ein Seufzen, das halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Lachen klang. “Bei mir geht heute aber auch alles schief. Nicht mal eine Telefonnummer kann ich richtig wählen.”

“Es ist nie so schlimm, wie man denkt. Es gibt immer einen Ausweg und ein Licht irgendwo”, hörte er sich sagen. Keine Ahnung, woher er mit einem Mal diese Gewissheit nahm.

“Danke für Ihren Trost. Im Moment sehe ich zwar kein Licht, aber das ist nicht Ihre Schuld. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung …”

Wieder hatte er Angst, sie könnte auflegen. “Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen”, sagte er rasch. “Es klingt vielleicht seltsam, aber … könnten wir uns treffen?”

“Uns treffen?” wiederholte sie überrascht. “Ich weiss nicht. Wir kennen uns doch gar nicht.”

“Das liesse sich leicht ändern. Um den Anfang zu machen: “Ich heisst Lennart Lübcke.”

“Also gut, ich bin Karen Bornstedt.” Es klang, als lächelte sie ein bisschen, und das stimmte ihn froh.

“Ich bin Banker”, fuhr er fort, “und 33 Jahre alt.”

“Ich arbeite in einer Kunstgalerie und bin 29.”

“Hören Sie, morgen ist Samstag. Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?” Er nannte ein Café in der Innenstadt, fügte hinzu, dass er mittelgross sei und kurzes brünettes Haar habe. Als Erkennungszeichen schlug er eine aufgerollte Zeitung vor. Um vier würde er dort sein und auf sie warten.

Misstrauisch fragte sie: “Machen Sie so etwas oft?”

“Es ist das erste Mal, und selbstverständlich verpflichtet es Sie zu nichts. Also, kommen Sie?”

“Ich weiss nicht genau. Mal sehen”, erwiderte Karen unentschlossen. “Gute Nacht.” Rasch legte sie auf.
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Am nächsten Tag traf sich Karen mit ihrer Freundin Andrea zum Mittagessen in der Stadt. “Also, du hast dich verwählt, und da ist dieser Typ am Apparat und bittet dich um ein Treffen. Du, das finde ich irre romantisch! Natürlich gehst du hin. Was riskierst du schon, Karen? Sieh ihn die wenigstens an!” begeisterte sich Andrea.

“Ich habe beschlossen, Achim noch eine Chance zu geben”, zögerte Karen. “Womöglich war er es gar nicht, den ich in der Stadt gesehen habe. Die beiden waren ziemlich weit weg. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass ich mich verwählt habe?”

Entgeistert sah Andreas sie an. “Du bist wirklich unverbesserlich. Achim hat doch gar keine Zeit mehr für dich. Dauernd ist sein Anrufbeantworter eingeschaltet, das hast du mir selbst erzählt. Warum entschuldigst du ihn immer?”

“Weil ich ihn liebe”, erwiderte Karen kläglich.

Andrea verdrehte die Augen: “Du möchtest heiraten und Kinder haben und suchst dir immer die falschen Männer aus.”

“Du hast gut reden, du hast Glück mit deinem Florian. Aber so einen Mann gibt’s kein zweites Mal.”

“Natürlich gibt’s ihn”, lachte Andrea. “Man muss ihn nur finden. Und jetzt versprich mir, zu dem Treffen zu gehen. Damit du mir davon erzählen kannst. Ich sterbe vor Neugier!”
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Der einzige Mann, der im Café eine aufgerollte Zeitung vor sich auf dem Tisch liegen hatte, war tatsächlich nur mittelgross. Er sah gepflegt aus, war gut angezogen, sah sympatisch, aber nicht so umwerfend gut aus wie Achim. Und sein Gesicht wirkte etwas melancholisch.

Sie war froh, die Zeitung hinter ihrem Rücken verborgen zu haben. Am besten machte sie sofort kehrt, selbst wenn sie Andrea damit um ihre Story bringen würde.

Auch Lennart hatte die junge blonde Frau gesehen, die das Café betreten und sich suchend umgeblickt hatte. Als er sah, dass sie keine aufgerollte Zeitung bei sich trug, atmete er vor Erleichterung auf. Dadurch wurde ihm einmal mehr bewusst, wie gross - und vergeblich - seine Hoffnung war, dass eines Tages eine zweite Amelie in sein Leben treten würde. Diese Frau sah Amelie überhaupt nicht ähnlich. Jetzt wandte sie sich um und wollte das Café wieder verlassen. Dabei fiel etwas zu Boden.

Er sprang auf, um es aufzuheben. Es war eine zusammengerollte Zeitung.

“Danke”, murmelte Karen und wurde knallrot, als er sie ihr überreichte.

“Sie sind also Karen Bornstedt”, stellte er fest.

“Ja”, gab Karen zu, “und Sie sind ehrlicher als ich. Sie hatten die Zeitung offen auf dem Tisch liegen.”

“Ich schätze, Sie wollten erst mal die Lage peilen. Und was Sie gesehen haben, entspricht nicht …”

“Verzeihen Sie”, unterbrach sie ihn und fügte verlegen hinzu: “Sie sind so anders als mein Freund.”

“Der Freund, dem Sie gestern Nacht den Laufpass gegeben haben?”

“Das habe ich ja nun nicht”, erwiderte sie.

Plötzlich dachte er an seine eigene Enttäuschung und schlug vor: “Finden Sie nicht, dass wir uns trotzdem eine Weile Gesellschaft leisten könnten? Setzen Sie sich doch bitte.”

Höflich rückte er ihr den Stuhl zurecht. Kaffee? Oder ein Gläschen Sekt? Und auch etwas zu essen?”

“Kaffee, und ein Stück Bienenstich, bitte.”

“Zweimal Kaffee und zweimal Bienenstich”, bestellte Lennart bei der Bedienung. Und an Karen gewandt: “Bienenstich ist nämlich auch mein Lieblingskuchen.” Er lächelte zum ersten Mal.

“Ich weiss, wie Ihnen vorhin zumute war”, fuhr er fort, als die Bedienung gegangen war. “Ich hatte mir ähnliche Illusionen gemacht und gehofft, in Ihnen meiner Verlobten wiederzubegegnen.”

“Sie waren verlobt?”

“Ja, Amelie ist eine Woche vor unserer Hochzeit an einem Gehirnschlag gestorben. Das war vor fast drei Jahren.”

“Das tut mir leid.” Karen war ehrlich betroffen.

“Sie war klein, zierlich und hatte rabenschwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. Sie trug eine lustige, türkisfarbene runde Brille, die ihr immer von der Nase rutschte. Und sie lachte so gern. Ich liebte ihr Lachen.”

“Und ich bin gross, habe blondes Haar, trage keine Bille, sondern Kontaktlinsen. Und ich wirke kühl, stimmt’s?” Sie lächelte auch, dann seufzte sie: ” Ich leide selbst darunter, so unnahbar zu wirken, weil ich es eigentlich gar nicht bin. Das liegt an meinen vielen Komplexen und daran, dass ich immer das Gefühl habe, mich schützen zu müssen.” Es war das erste Mal, dass sie das jemandem anvertraute. Und noch dazu einem Mann!

“Hat man Sie oft verletzt, Karen?” fragte Lennart mitfühlend.
_ _ _

“Das erste Mal war ich gerade elf Jahre alt. Da verliess mein Vater meine Mutter und mich, um eine andere Frau zu heiraten”, erzählte Karen. “Später habe ich mich dann immer in die falschen Männer verliebt. Typen, die mich nur unglücklich gemacht haben. Vielleicht ist es dumm, aber anscheinend sind für mich nur Männer interessant, die mit meinen Gefühlen spielen.”

“Dann ist es also nur logisch”, schmunzelte Lennart, “dass ich für Sie nicht interessant bin.”

Die Serviererin brachte den Kaffee und den Kuchen. Lennart schenkte fürsorglich ein. Er hatte gepflegte Hände, und seine Bewegungen waren präzise und ruhig. Vertrauenswürdige, warme Hände, dachte Karen unwillkürlich.

“Erzählen Sie mir bitte von Ihrem Beruf”, bat sie.

Er hatte nach einer Banklehre ein Wirtschaftstudium absolviert. Nach Amelies Tod hatte er ein Jahr in Australien gearbeitet, und nun erklomm er in seiner Bank die Stufen der Erfolgsleiter. “Die Arbeit war das einzige, das mich von meiner Trauer um Amelie ablenkte.”

Karen erzählte ihm, dass sie vier Semester Kunstgeschichte studiert hatte. “Dann musste ich Geld verdienen und habe zum Glück eine Stelle in einer Kunstgalerie gefunden. Aber mein Traum ist es, eines Tages eine eigene Galerie zu eröffnen.”

Anschliessend berichtete Lennart von seinen Reisen: Florenz, Rom, Paris. Karen war beeindruckt von seinem kulturellen Interesse, seinen Kunstkenntnissen, seinem Urteilsvermögen. Plötzlich hatte sie Lust, ihn fröhlich zu sehen. Sie gab ein paar Anekdoten aus der Galerie zum Besten und freute sich, als Lennart tatsächlich lachte. Das Lachen zauberte sympathische Fältchen in seine Augenwinkel, und der Anflug von Melancholie war ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Fröhlich lachte Karen mit ihm. Das Eis war endgültig gebrochen.

Unvermutet hielt Karen mitten im Satz inne. Lennart folgte ihrem Blick. Ein hochgewachsener, lässig sportlich gekleideter Mann hatte das Café betreten. Er war in Begleitung einer jungen Frau, die aussah, als wäre sie geradewegs dem Titelblatt einer Modezeitschrift entsprungen.

“Kennen Sie ihn?” fragte Lennart flüsternd.

“Das ist … das ist Achim, mein Freund”, antwortete Karen gepresst. “Mit … mit seiner neuen Freundin.”

Ganz kurz legte Lennart seine Hand auf die ihre: “Karen, ich mag eine so erfrischend natürliche Frau wie Sie tausend Mal lieber als diese aufgetakelte künstliche Kreatur.”

In diesem Moment sah Achim sie. Er liess seine Freundin einfach stehen und kam an ihren Tisch: “Hey, Karen. Wie ich sehe, bist du in Begleitung?”

Lennart hatte seine Hand zurückgezogen, aber Karen spürte immer noch ihren warmen Druck. Sie fühlte sich plötzlich entspannt und total ruhig. Fast musste sie grinsen. “Darf ich bekanntmachen? Achim Borsum -Lennart Lübcke. Willst du uns nicht deine neue Freundin vorstellen, Achim?”

Achim würdigte Lennart keines Blickes. Honigsüss lächelte er Karen an. “Sie bedeutet mir rein gar nichts, Karen, das weisst du doch hoffentlich?”

Zum ersten Mal fiel Karen auf, dass nur Achims Mund lächelte, seinen Augen aber kalt und berechnend blieben. Gelassen erwiderte sie: “Ich bezweifle das, Achim. Es ist auch nicht mehr wichtig. Jetzt bist du es nämlich, der mir nichts mehr bedeutet.”

“Ach, und seit wann?” fuhr Achim auf.

“Genau seit heute.”

Achims Kiefern malmten, er war nie ein guter Verlieren gewesen, dachte Karen. Dann drehte er sich wortlos um und verliess mit seiner Freundin das Lokal.

Karen fühlte Torstens Blick auf sich ruhen. In ihm lag alle Liebe und Zärtlichkeit dieser Welt. Andrea hat recht, dachte sie, als sie erneut seine Hand auf der ihren spürte: “Es gibt Männer, auf die man sich verlassen kann und die die Gabe haben, eine Frau glücklich zu machen. Man muss sie nur finden …

ENDE

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Mittwoch, 26. Dezember 2012
EIN TOLLES TEAM
Celia und Tom sind seit 5 Jahren verheiratet, aber inzwischen beruflich derart eingespannt, dass sie sich kaum noch sehen. Toms Fantasie beginnt daher fieberhaft zu arbeiten, als ...
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Missmutig dachte Tom, dass er die ganze letzte Stunde für nichts gearbeitet hatte, weil er übermüdet war und sich nicht auf die Arbeit, die er sich mit nach Hause genommen hatte, konzentrieren konnte. Celia schlief sicher schon. Sie kam jeden Abend genau so spät von der Arbeit wie er selbst. Wenn sie sich nicht gerade auf einer ihrer Inspektionsreisen befand. Wann hatten sie sich zum letzten Mal richtig miteinander unterhalten? Geschweige denn, über das Baby gesprochen, das doch zu ihren Lebensplänen gehörte, als sie vor fünf Jahren aus Liebe heirateten? Seit er die gutbezahlte Stelle als Informatiker bei einer privaten Telefongesellschaft angetreten und Celia erfolgreich ihr eigenes Reisebüro eröffnet hatte, blieb ihnen kaum noch Zeit füreinander. Er wollte nur noch schnell in seinen elektronischen Briefkasten schauen, und dann ab ins Bett. Einen Moment später war er hellwach: "Lieber Herr Bergmann", lauteten die explosiven Zeilen, "wenn Sie wie ich Lust auf einen verzauberten Abend zu zweit haben, finden Sie sich doch bitte morgen um 18 Uhr in der Bar des Parkhotels ein." Unterzeichnet war mit: "Eine Frau, der Sie schon öfter begegnet sind."

Toms erster Gedanke war, dass sich jemand einen schlechten Scherz erlaubte. Andererseits: warum sollte eine Frau sich nicht in ihn verlieben? Schliesslich sah er nicht schlecht aus. Natürlich würde er nicht zum Rendezvous gehen, das würde er Celia nicht antun, aber er hätte doch gern gewusst, wen er derart beeindruckt hatte. Sollte es sich um die hübsche neue Mieterin aus dem dritten Stock handeln? Er hatte ihr neulich geholfen, einen schweren Karton, in dem sich Bücher befanden, von ihrem Auto nach oben zu tragen, ohne nennenswert aus der Puste zu kommen. Der bewundernde Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, als sie sich überschwänglich bedankte, war sehr angenehm in seinem Gedächtnis haften geblieben. Oder war es seine frisch geschiedene Kollegin Martina, die auf ihre aparte Art ebenfalls nicht schlecht aussah? Schuldbewusst wollte er sich Celias Bild ins Gedächtnis zurückrufen. Es war erstaunlich verschwommen. Kein Wunder, sie sahen sich ja kaum noch.

Einen Abend mit dieser geheimnisvollen Frau zu verbringen kam nicht in Frage, überlegte er, aber vielleicht könnte er wenigstens heimlich von der Halle aus einen Blick in die Bar werfen? Celia würde nichts davon erfahren, um 18 Uhr arbeitete sie gewöhnlich noch, wie er auch. Wie wär's, wenn er Celia dann am Samstag in ein schönes Restaurant ausführen, ihr von der E-Mail erzählen und ihr verraten würde, wer seine Verehrerin war? Sie würden gemeinsam darüber lachen. Wer weiss, vielleicht würde Celia ihn danach mit anderen Augen ansehen? Ihn überhaupt mal wieder ansehen? Er erwärmte sich zusehends für diese Idee.

Sein Herz klopfte überraschend stark, als er auf seine Bettseite schlüpfte. Celia bewegte sich ein wenig und murmelte schläfrig: "Hab ich dir gesagt, dass ich morgen für ein paar Tage nach Marokko fliege? Ich fahre direkt von der Arbeit zum Flughafen."

Er war empört. Nein, sie hatte es ihm nicht gesagt. So weit war es also gekommen, dass sie ihn wie ein vulgäres Möbelstück behandelte! Aber dann merkte er, wie sich der kleine Teufel in ihm die Hände rieb: Wer könnte ihm jetzt schon verübeln, wenn er zu seinem Stelldichein ging?

Zum ersten Mal seit langer Zeit kam er pünktlich nach Hause. Es hatte genügt, konzentriert und gut organisiert zu arbeiten, stellte er fest. Den ganzen Tag hatte er darüber hinaus das Gefühl gehabt, zu lächeln. Birgit, die Pool-Sekretärin, hatte ihn sogar geneckt: "Hey, Tom, du siehst so verliebt aus."

Wenn sie wüsste! Ob es sich bei der Mailschreiberin womöglich um Birgit handelte? Es würde ihm nicht missfallen, dass sie ihn ihrem Freund, einem angeberhaften Muskelprotz, vorzog.

Zu Hause duschte er, rasierte sich frisch und sprühte sich mit Aftershave-Lotion ein. Ein Geschenk von Celia, fiel ihm dabei mit schlechtem Gewissen ein, bis er wieder daran dachte, wie nebensächlich sie ihm gestern Nacht mitgeteilt hatte, dass sie heute nach Marokko flog. Er sprühte noch einmal nach. Dann kleidete er sich sorgfältig an und warf einen kritischen Blick in den Spiegel: Ja, er konnte sich sehen lassen. Durchaus.

Er fuhr den Wagen auf den Parkplatz des Hotels, schwang sich die Stufen hinauf und durchquerte die Halle bis zur Bar. An einem Tisch unterhielten sich zwei Herren in vorgerücktem Alter miteinander. Auf einem der Barhocker sass eine Frau, die ihm halb den langen, biegsamen Rücken zuwandte. Sie trug ein aufregendes, hochgeschlitztes Kleid, und als sie jetzt mit beiden Händen ihr dichtes, kastanienbraunes Haar aus dem Nacken hob, konnte er - wie die beiden alten Herren - einen geschmeidigen Hals und wunderbar geformte Schultern bewundern. Es war eine Geste voll Anmut und Erotik, und schlagartig wurde ihm bewusst, dass dies die Frau seines Lebens war.

"Celia", sagte er rauh, während Trümmer und Chaos in ihm herrschten, "was machst du denn hier?" Warum war sie nicht in Marokko? Kam sie etwa mit derselben unlauteren Absicht hierher wie er? Um einen heimlichen Verehrer zu treffen? Aber wer war er, um ihr Vorwürfe zu machen? Er ächzte gequält.

Celia klopfte neben sich auf den Hocker und lächelte ihm zu: "Willst du dich nicht setzen? Du siehst wunderbar aus, Liebster, wenn auch ein bisschen gebeutelt. Du hast also meine Mail erhalten?"

Es verschlug ihm die Sprache.

Zärtlich strich sie über seine Hand: "Du brauchst dir keine Lügen auszudenken, wir sind beide Schuld an der Situation. Wir haben uns auffressen lassen von unserer Arbeit. Es wurde höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen, findest du nicht? Ich freue mich, dass mir die Überraschung gelungen ist."

Sie hatte also alles eingefädelt! Er war grenzenlos erleichtert und zugleich zutiefst beschämt: "Celia, was denkst du jetzt von mir?"

Ihre blauen Augen blitzten vergnügt: "Vermutlich all das, was du gerade auch über mich gedacht hast. Ziemlich aufrüttelnd, was? Aber gerade das hatten wir wohl bitter nötig. Weisst du, mir ist klar geworden, wie sehr ich dich liebe und brauche, als ich die schmachtenden Blicke bemerkte, mit denen unsere neue Hausbewohnerin dich neuerdings bedenkt. Sie haben mich unsaft geweckt."

Tom spürte das dringende Bedürfnis nach einem doppelten Whisky. "Was trinkst du?" fragte er Celia.

"Einen Orangensaft, bitte."

Sie lachte, als sie seinen erstaunten Blick bemerkte. Dann sagte sie ganz sanft: "Wir werden ein Baby haben, Liebster."

"Aber du ..."

"Ich hatte seit einiger Zeit die Pille abgesetzt, weil wir nur noch so selten ... ach, du weisst schon. Aber vor etwa zwei Monaten, erinnerst du dich?, waren wir zufällig beide zu Hause und in verliebter Stimmung. In dem Augenblick war mir völlig entfallen, dass ich nicht mehr verhütete."

Absicht oder Zerstreutheit, sie wusste es selbst nicht zu sagen, sie wusste nur, dass sie sich unendlich glücklich fühlte, als der Arzt ihr vor zwei Tagen eröffnete, dass sie schwanger war. Jetzt sah sie dieselbe Freude in Toms Augen aufleuchten.

"Ich liebe dich, Celia", sagte er mit Inbrunst.

"Ich dich auch, Tom. Bald werden wir eine richtige Familie sein. Apropos, ich werde jemanden einstellen, der mich im Reisebüro entlastet ..."

"Und ich werde mich auch besser organisieren."

"Ja, so wie heute", kicherte sie. "Du warst auf die Minute pünktlich um 18 Uhr da!"

"Wie wär's, wenn ich dich jetzt zu einem exquisiten Abendessen einlade? Falls hier ein Tisch frei ist ..."

"Ich habe ihn schon reserviert. Sind wir nicht ein tolles Team?" Celias Kuss war so süss und verheissungsvoll, dass deutlich zwei neidische Seufzer vom Opa-Tisch her zu hören waren.

ENDE

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