Donnerstag, 14. März 2013
Zweimal Liebe nach Mass
hillebel, 10:47h
Weil Larissa Bergdorf das ständige Wechselbad der Gefühle mit Julian nicht mehr aushalten konnte, hatte sie das Angebot der Bank angenommen, ein Jahr in Kanada zu arbeiten. Nach ihrer Rückkehr erlebt sie eine Überraschung …
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Nachdem Larissa als I-Tüpfelchen die neuen Gardinen im Wohnzimmer angebracht hatte, liess sie sich zufrieden seufzend auf's Sofa fallen, um das Resultat zu betrachten. Ja, sie würde sich wohl fühlen in ihrer hübschen Zweizimmerwohnung. Seit zwei Wochen tat sie nichts anderes als putzen, herumlaufen, einkaufen, einrichten. Neben ihrer Arbeit in der Bank, natürlich. Jetzt wurde es höchste Zeit, dass sie Kontakt zu ihren alten Freunden aufnahm. Sie schämte sich etwas, dass sie während des ganzen Jahres, das sie in Toronto verbracht hatte, nichts hatte von sich hören lassen. Zuerst wollte sie vergessen, und nachher hatte sie irgendwie nicht den Dreh gefunden. Als erstes wollte sie Clara anrufen. Sie zog das Telefon näher an sich heran und tippte die Nummer ein.
„Clara Thamm, ja bitte?“ meldete sich ihre Freundin.
“Hallo, Clara. Ich bin’s, Larissa.”
“Larissa! Ja, wo …”
“Ich bin in Hamburg zurück”, erwiderte sie rasch.
Stille entstand.
“Ich weiss, ich hätte von mir hören lassen sollen”, meinte Larissa schuldbewusst. “Du bist mir doch hoffentlich nicht böse?”
“Natürlich nicht, aber …”
Wieder entstand eine Pause, dann sagte Clara entschlossen: “Wir müssen uns sehen, Larissa. Ich schlage vor, wir essen zusammen bei Luigi. Ich lade dich ein. Soll ich für morgen Abend einen Tisch reservieren?”
“Ja, morgen passt mir gut. Du, ich freue mich …”
“Bis morgen, also”, unterbrach Clara sie rasch.
Larissa legte etwas verwundert auf. Ihre Freundin hatte sich so seltsam verhalten, ihre Stimme so anders geklungen …
_ _ _
Luigi führte Larissa an den Tisch, an dem Clara schon auf sie wartete. Nach der Begrüssung bestellten sie Spaghetti à la Carbonara, gemischten Salat und Rotwein.
“Und vorher als Aperitif bitte einen Martini”, schloss Clara die Bestellung ab.
Als der Martini vor ihnen stand, entschuldigte Larissa sich noch einmal: „Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, dich die ganze Zeit ohne Nachricht gelassen zu haben. Es war … ich wollte vergessen.”
“Ich weiss, und das macht doch auch nichts. Es hätte … ich weiss nicht, ob …”
Verwundert dachte Larissa, dass es Clara nicht ähnelte, die Sätze nicht zu Ende zu bringen.
“Weisst du noch”, lächelte sie, “unsere Abende bei dir, wenn ich Liebeskummer hatte? Apropos, hast du etwas von Julian gehört?”
Es sollte beiläufig klingen, aber sie merkte plötzlich, wie ihr Herz klopfte. Julian. Der blendend aussehende Julian mit dem ganz besonderen Charme. Julian, der unheimlich zärtlich und liebevoll sein konnte, aber auch verletzend kühl und abweisend. Julian, für den Treue ein Fremdwort war. Weil sie das Wechselbad der Gefühle nicht mehr aushielt, hatte sie das Angebot der Bank angenommen, ein Jahr in ihrer Niederlassung in Toronto zu arbeiten. Jetzt wagte sie endlich, sich einzugestehen, dass sie ihn nicht vergessen hatte …
Clara drehte das Glas in den Händen und holte tief Atem: “Apropos Julian. Ich muss dir etwas sagen, Larissa. Julian und ich … wir … wir lieben uns.”
“Julian und du …” Larissa starrte ihre Freundin fassungslos an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie versuchte, sich die ruhige, besonnene Clara und den blendenden Gesellschafter Julian zusammen vorzustellen. Und schaffte es nicht. Beim besten Willen. Schon äusserlich war Clara nicht der Typ Frau, für den ein Mann wie Julian den Kopf verliert. Sie war weder besonders hübsch noch sexy. Larissa schämte sich sofort dieser Gedanken, weil Clara so viele hervorrragende menschliche Qualitäten hatte. Aber dann übermannten sie wieder Schmerz und Eifersucht: Wie konnte Clara ihr das antun? Wie konnte sie einfach so ihre, Larissas, Nachfolge bei Julian antreten und dazu noch von Liebe sprechen?
“Ich bitte dich um Verzeihung”, sagte Clara und wagte es endlich, ihre Freundin anzusehen, “aber du hattest mir gesagt, dass alles aus ist zwischen euch, und ich hatte nicht einmal deine Adresse oder deine Telefonnummer, um es dir mitzuteilen.”
Obwohl Larissa sich erinnerte, dass sie das sogar noch krasser ausgedrückt hatte, nämlich, dass sie nichts mehr mit diesem Knallkopf am Hut hätte, war sie jetzt versucht, zu behaupten, das nicht wirklich ernst gemeint zu haben.
“Du liebst ihn doch noch, ja?” stellte Clara jetzt bekümmert fest. “Ich komme mir so schäbig vor dir gegenüber.”
“Wie hältst du es bloss mit ihm aus?” rief Larissa aus. “Julian konnte nie treu sein.”
“Ich glaube schon, dass er es jetzt ist”, erwiderte Clara.
Larissa verstand immer weniger. Wie hatte Clara diese Wandlung zustande gebracht? Oder trug sie aus lauter Verliebtheit Scheuklappen? Wie sie selbst am Anfang?
„Ich muss dir noch etwas sagen”, meine Clara und schob ihr Weinglas fort. „Ich erwarte ein Baby.“
„Von Julian?“ fragte Larissa ungläubig.
„Natürlich von Julian“, erwiderte Clara fast gekränkt. „Wir werden in einem Monat heiraten, und … Erinnerst du dich noch, was wir uns früher einmal versprochen haben? Dass wir gegenseitig unsere Trauzeugin sein würden? Ich würde mich sehr freuen, wenn das immer noch für dich gelten würde!“
Julians und Claras Trauzeugin sein? Die Zeugin ihres Glücks? Das war entschieden zuviel verlangt.
„Du nimmst es mir doch nicht übel, Larissa?“ fragte Clara leise. „Glaub mir, ich hab mich gegen diese Liebe gewehrt …“
Mit Anstrengung brachte Larissa hervor: „Aber Clara, es ist alles völlig in Ordnung. Wirklich.“
Aber nichts war in Ordnung. Sie hätte Julian so gern geheiratet und ein Kind von ihm gehabt. Er hatte sich immer geweigert! Was hatte Clara, was sie nicht hatte?
Bevor sie sich an diesem Abend trennten, bat Clara sie so inständig um ihre Adresse und Telefonnummer, dass Larissa ihr beides gab.
_ _ _
Larissa hastete den Hausflur entlang, der zu ihrer Wohnung führte und hatte Schwierigkeiten, durch ihre Tränen hindurch etwas zu sehen.
Eine Tür ging auf, und ein Mann kam heraus. Er trug einen Müllbeutel in der Hand. Zum Glück war er gut verknotet, denn er fiel herunter, als er fest zugriff, um Larissa vorm Hinfallen zu bewahren, nachdem sie blind in ihn hereingerannt war.
„Hoppla“, grinste er, „warum so eilig?“ Er wartete, bis Larissa das Gleichgewicht wiedergefunden hatte und liess sie dann los.
„Können Sie nicht aufpassen?“ fauchte Larissa.
Er sah genauer hin und meinte gutmütig: „Ich verstehe. Stark behinderte Sicht. Alles in Ordnung?“
„Stellen Sie immer so dumme Fragen?“ schluchzte Larissa auf.
„Es ist mir herausgerutscht“, entschuldigte er sich zerknirscht. „Hören Sie, ich bin erst gestern hier eingezogen, in meiner Wohnung steht fast nichts an seinem Platz, aber der Kühlschrank ist angeschlossen, und der Wein hat die richtige Temperatur. Wenn Ihnen ein Glas Wein und meine Wenigkeit von irgend einem Nutzen sein können, stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Übrigens, mein Name ist Holger Schmitz. Ich bin Lehrer.“
„Larissa Bergdorf. Bankkauffrau.“ Jetzt hatte sie einen Schluckauf. Auch das noch.
Holger zog sein Taschentuch aus der Tasche und tupfte vorsichtig ihre Tränen ab. Dann hielt er ihr die Tür auf: „Ich verspreche, nicht zu beissen.“
Der Wein tat ihr gut. Und es tat ihr gut, in Holgers altem Ledersessel zu sitzen. Nachdem ihr von innen und aussen warm geworden war, erzählte sie Holger in knappen Worten, was vorgefallen war. Ganz objektiv, das hoffte sie jedenfalls. Und schloss: „Ich komme mir so schäbig vor, dass ich ihnen das Glück nicht gönne. Meine hässlichen Gefühle machen mir Angst. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten besser, wenn ich nach Toronto zurückgehe.“
Holger unterbrach sie nicht, schenkte nur ein wenig Wein nach. Er glitt tröstlich ihre Kehle hinunter. Eine Stunde später sagte sie: „Es ist sehr spät, und ich muss jetzt wirklich gehen. Danke, es war schön bei Ihnen. Die Unterhaltung hat mir gut getan.“ Sie stand auf - und das Zimmer drehte sich.
Holger sprang hinzu und stützte sie: „So viel haben wir doch gar nicht getrunken?“ meinte er etwas erstaunt.
„Ich … ich habe vorher schon. Mit Clara, beim Italiener“, erklärte sie und kicherte, weil sie sich erinnerte, dass Clara selbst höchstens ein Glas getrunken hatte, wegen des Babys.
_ _ _
Der nächste Tag war zum Glück ein Samstag. Nachdem Larissa zwei Kopfschmerztabletten geschluckt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, erstand sie im Blumenladen gegenüber eine blassrosa Azalee. Den Blumentopf an ihre Brust gepresst, klopfte sie an Holgers Wohnungstür.
Fast augenblicklich wurde geöffnet. Holger musste dahinter gestanden haben.
„Guten Morgen und schönen Dank für gestern. Ich bin sehr beschämt, dass ich Ihnen so viele Umstände bereitet habe“, sagte Larissa und streckte ihm die Blumen entgegen.
„Die Azalee ist wunderschön, und es war mir ein Vergnügen, Sie wie ein kleines Mädchen ins Bett zu bringen“, schmunzelte Holger. „Ich bin gerade dabei, Frühstück zu machen. Möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“
Es duftete nach Kaffee und Toast, und die Kopfschmerztabletten hatten gewirkt. Sie hatte plötzlich Hunger: „Vielen Dank, gern“, lächelte sie.
„Ich habe gestern so richtig egoistisch nur über mich geredet. Bitte, erzählen Sie mir etwas über sich“, bat sie, während sie einen Toast mit Orangenmarmelade bestrich.
„Das ist schnell getan: Ich unterrichte Mathematik und Physik, spiele Geige und bin ansonsten mit 30 Jahren leider noch ungebunden.“
Sie sassen in der Küche am weissgescheuerten Holztisch. Die Azalee prangte auf dem Fensterbrett, und eine eindrucksvolle Reihe von blitzblank geputzten Kupferkasserollen und sonstigen Kochutensilien zierten die Wand über der Arbeitsfläche.
„Es sieht aus wie bei einem Hobbykoch“, lächelte Larissa beeindruckt.
„Womit Sie mein Laster durchschaut haben“, lächelte er zurück.
Sie betrachtete aufmerksam Holgers massig wirkende Gestalt mit den breiten Schultern und den paar Gourmet-Pfunden zuviel um die Taille, sein rundes Gesicht, die freundlichen und zugleich kritischen Augen hinter den Brillengläsern, den wuscheligen, hellbraunen Haarschopf und die knollige Nase. Sie stellte ihn sich vor einer Klasse von albernen und manchmal agressiven Halbwüchsigen vor. Und traute ihm die nötige Autorität zu. Mehr noch, Humor.
„Examen bestanden?“ fragte er mit einem Lachen in seiner Stimme.
Sie errötete ertappt und lachte ebenfalls: „Mit sehr gut!“
Nach dem Frühstück bot sie ihm ihre Hilfe an. Schliesslich hatte sie Übung im Umziehen. Sie rückten Möbel, räumten Geschirr ein, stellten Bücherregale auf …
Sie arbeiteten fast ohne Pause bis abends. Holger entschuldigte sich, aber Larissa beruhigte ihn: Die Arbeit lenkte sie ab. Darauf lud Holger sie zu einem Eintopf ein, der schmackhafter war als alles, was sie bisher in dieser Richtung gegessen hatte.
Am Sonntag ging es weiter. Abends sah es in der Wohnung schon richtig gemütlich aus, und nach dem von Holger zubereiteten Coq au vin und der Schokoladenmousse hätte sich sogar Lukullus die Finger abgeschleckt.
Nachher räumten sie noch einträchtig die Küche auf, dann brachte Holger sie bis zu ihrer Tür, bedankte sich noch einmal und wünschte ihr eine gute Nacht: „Ich freue mich, dass wir jetzt Freunde sind“, sagte er.
„Ich auch, Holger.“ Sie meinte es ehrlich. Ihre Wohnung, die ihr noch vor zwei Tagen so gut gefallen hatte, kam ihr auf einmal kalt und leer vor. Sie würde gleich diese Woche alles in die Wege leiten, um nach Toronto zurückzugehen. Ihr Anrufbeantworter blinkte, und sie drückte auf den Knopf.
„Hallo Larissa, hier ist Julian. Darf ich dich morgen Abend gegen acht besuchen kommen? Wenn du nicht kannst oder mich nicht sehen möchtest, was ich aber nicht hoffe, rufe mich bitte morgen früh im Büro an. Es ist die alte Nummer.“ Er wiederholte sie.
Wie ein elektrischer Stoss fuhr seine Stimme ihr bis ins Herz. Was wollte er? Ihr sein Glück mit Clara unter die Nase reiben? Oder ihr im Gegenteil unsittliche Vorschläge machen? Das Erste würde weh tun, und das Zweite kam nicht in Frage. Sie beschloss, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Aber am nächsten Tag hatte sie ihn bis zwölf immer noch nicht angerufen, und als sie es nachmittags versuchte, war er in einer Besprechung. Abends wollte sie wenigstens Holger bitten, herüberzukommen. Mit ihm würde sie sich sicherer fühlen.
Aber Holger war nicht da. Richtig, er hatte ihr gestern gesagt, dass heute ein Elternabend in der Schule stattfand. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als Julian allein gegenüber zu treten. Und zu versuchen, ihre Gefühle zu beherrschen.
Als es klingelte, gelang es ihr, mit ruhiger Stimme zu fragen, wer da sei.
„Ich bin's. Julian.“
„Komm herauf.“ Sie drückte auf den Summer.
Dann standen sie sich gegenüber. Beide etwas befangen. Er sah so gut aus wie eh und je und trotzdem etwas anders.
„Ich habe ein paar Schnittchen vorbereitet“, sagte sie.
„Und ich habe eine Flasche Wein mitgebracht“, lächelte er und überreichte sie ihr.
Als sie am Tisch sassen, sagte er: „Clara und ich fanden es besser, dich getrennt zu sehen. Aber vielleicht ist es eine schlechte Idee?“
„Nein“, sagte sie. Und fügte selbstkritisch hinzu: „Ich fürchte, ich habe mich Clara gegenüber nicht sehr fair verhalten. Es kam so … überraschend. Wohlverstanden mache ich euch nicht den geringsten Vorwurf. Zwischen uns beiden war schliesslich alles klar.“
„Es ist bestimmt nicht so einfach“, meinte er.
Schon an dieser Bemerkung konnte sie ermessen, wie tief die Wandlung war, die in ihm vorgegangen war.
„Als du mit mir Schluss gemacht hast“, fuhr er fort, „ging es mir schlecht. Mir kam zu Bewusstsein, dass ich meine Partnerinnen unglücklich machte und selbst nicht glücklich dabei war. Ich habe mich damals viel mit Clara unterhalten. Es war das erste Mal, dass ich wirklich offen war zu einer Frau. Vielleicht, weil ich zu Anfang in Clara gar keine Frau sah, sondern mehr einen Kamaraden. Bis dahin traute ich den Frauen nicht. Ständig fürchtete ich, dass sie mir Fallen stellen und Fesseln anlegen könnten. Ich begehrte sie, hatte aber keine Ahnung, was Liebe ist. Kurz, ich war entsetzlich unreif. Clara hat mir geholfen, klar in mir zu sehen. Sie hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.“
„Ja“, murmelte Larissa. “Sie war auch immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte.“
Dann überschwemmte sie wieder Bitterkeit. „Wie kam das denn so plötzlich mit dem Kind? Du wolltest doch nie eins haben!“
„Das hing mit meiner Angst vor den Fallen und Fesseln zusammen. Als mir klar wurde, dass ich mir ein Kind von Clara wünschte, wusste ich, dass ich sie liebte. Ich sage das nicht, um dich zu kränken, Larissa. Und ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir oft weh getan. Es lag nicht an dir, sondern an mir, dass es zwischen uns nicht geklappt hat.“
Es gelang ihr, zu lächeln: „Es war mein Fehler, dass ich nicht verstanden habe, was dich quälte. Ich wünsche Clara und dir viel Glück.“
Julian schüttelte den Kopf, als sie ihm noch ein Schnittchen anbot: „Sie haben vorzüglich geschmeckt, aber ich denke, Clara wartet auf mich. Larissa, Clara und ich möchten dich so gern als Freundin behalten. Du wirst doch unsere Trauzeugin sein? Und später die Patin unseres Kindes?“
„Ich weiss nicht, Julian“, erwiderte sie ehrlich. „Ich denke, ich werde nach Kanada zurück gehen.“
„Doch nicht etwa unseretwegen?“
„Nicht euretwegen. Meinetwegen“, erwiderte sie.
„Das kommt aufs Gleiche heraus. Bitte, überleg es dir. Wir brauchen dich!“
Sie standen in der Diele, und plötzlich nahm Julian sie in die Arme und drückte sie fest an sich: „Glaub mir, ich bin nicht stolz auf mich, wie ich früher war. Ich weiss erst heute, was wahre Liebe ist. Ach, verdammt, ich will nicht, dass du jetzt weinst!“
„Ich weine nicht“, erwiderte sie fast grob. „Grüss Clara von mir!“ Rasch schob sie ihn zur Tür hinaus und schloss sie hinter ihm.
Larissa hatte sich energisch die Nase geputzt, hatte die Küche aufgeräumt und geduscht und wollte gerade mit einem Roman ins Bett gehen, als es leise klopfte.
„Störe ich?“ fragte Holger, als sie aufmachte.
„Natürlich nicht, komm rein.“ Sie war auf einmal sehr froh, dass er da war.
„Was hast du heute erlebt?“ fragte Holger.
„Du zuerst“, forderte sie ihn auf.
Nachdem Holger von der Elternversammlung erzählt hatte, berichtete sie ihm von Julians Besuch. Plötzlich nahm er seine Brille ab, holte ein kleines Tuch aus seiner Tasche und putzte sie. Seine Augen wirkten sehr nah und irgendwie verletzlich ohne die Brille.
„Willst du immer noch nach Toronto zurück?“ fragte er leise.
„Ja.“
„Wenn mir nur etwas einfiele, damit du hierbleibst!“
Vorsichtig setzte er seine Brille wieder auf und lächelte ihr zu. Sie spürte auf einmal die ruhige und trotzdem sensible Kraft, die von ihm ausging, und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Hier war er doch, der Mann zum Lieben, zum Lachen, zum Schmusen und Reden. Der Mann, den das Schicksal für sie massgeschneidert hatte. Der Typ Mann, für den sie bis jetzt blind war. Genau wie Julian jahrelang blind gewesen war für eine Frau wie Clara.
„Möchtest du wirklich, dass ich hierbleibe?“ fragte sie.
Er grinste: „Es hätte schon mal den Vorteil, dass ich dann vielleicht auch zur Hochzeit eingeladen würde. Ich mag Hochzeiten, weißt du?“
Trotz der später Stunde griff sie zum Telefon und wählte Claras Nummer.
Als sie nach zehn Minuten auflegte, lachte sie: „Das hast du davon, jetzt bist du auch Trauzeuge.“
Ernst erwiderte er: „Mit dir! Etwas Schöneres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und später müssen die beiden sich dann revanchieren.“
„Hoppla, nicht so schnell“, lächelte sie, aber dann verstummte sie. Weil sie in seinen Augen die schönste Liebeserklärung las, die sie je erhalten hatte. Gefolgt vom schönsten Kuss ihres Lebens …
ENDE
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Nachdem Larissa als I-Tüpfelchen die neuen Gardinen im Wohnzimmer angebracht hatte, liess sie sich zufrieden seufzend auf's Sofa fallen, um das Resultat zu betrachten. Ja, sie würde sich wohl fühlen in ihrer hübschen Zweizimmerwohnung. Seit zwei Wochen tat sie nichts anderes als putzen, herumlaufen, einkaufen, einrichten. Neben ihrer Arbeit in der Bank, natürlich. Jetzt wurde es höchste Zeit, dass sie Kontakt zu ihren alten Freunden aufnahm. Sie schämte sich etwas, dass sie während des ganzen Jahres, das sie in Toronto verbracht hatte, nichts hatte von sich hören lassen. Zuerst wollte sie vergessen, und nachher hatte sie irgendwie nicht den Dreh gefunden. Als erstes wollte sie Clara anrufen. Sie zog das Telefon näher an sich heran und tippte die Nummer ein.
„Clara Thamm, ja bitte?“ meldete sich ihre Freundin.
“Hallo, Clara. Ich bin’s, Larissa.”
“Larissa! Ja, wo …”
“Ich bin in Hamburg zurück”, erwiderte sie rasch.
Stille entstand.
“Ich weiss, ich hätte von mir hören lassen sollen”, meinte Larissa schuldbewusst. “Du bist mir doch hoffentlich nicht böse?”
“Natürlich nicht, aber …”
Wieder entstand eine Pause, dann sagte Clara entschlossen: “Wir müssen uns sehen, Larissa. Ich schlage vor, wir essen zusammen bei Luigi. Ich lade dich ein. Soll ich für morgen Abend einen Tisch reservieren?”
“Ja, morgen passt mir gut. Du, ich freue mich …”
“Bis morgen, also”, unterbrach Clara sie rasch.
Larissa legte etwas verwundert auf. Ihre Freundin hatte sich so seltsam verhalten, ihre Stimme so anders geklungen …
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Luigi führte Larissa an den Tisch, an dem Clara schon auf sie wartete. Nach der Begrüssung bestellten sie Spaghetti à la Carbonara, gemischten Salat und Rotwein.
“Und vorher als Aperitif bitte einen Martini”, schloss Clara die Bestellung ab.
Als der Martini vor ihnen stand, entschuldigte Larissa sich noch einmal: „Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, dich die ganze Zeit ohne Nachricht gelassen zu haben. Es war … ich wollte vergessen.”
“Ich weiss, und das macht doch auch nichts. Es hätte … ich weiss nicht, ob …”
Verwundert dachte Larissa, dass es Clara nicht ähnelte, die Sätze nicht zu Ende zu bringen.
“Weisst du noch”, lächelte sie, “unsere Abende bei dir, wenn ich Liebeskummer hatte? Apropos, hast du etwas von Julian gehört?”
Es sollte beiläufig klingen, aber sie merkte plötzlich, wie ihr Herz klopfte. Julian. Der blendend aussehende Julian mit dem ganz besonderen Charme. Julian, der unheimlich zärtlich und liebevoll sein konnte, aber auch verletzend kühl und abweisend. Julian, für den Treue ein Fremdwort war. Weil sie das Wechselbad der Gefühle nicht mehr aushielt, hatte sie das Angebot der Bank angenommen, ein Jahr in ihrer Niederlassung in Toronto zu arbeiten. Jetzt wagte sie endlich, sich einzugestehen, dass sie ihn nicht vergessen hatte …
Clara drehte das Glas in den Händen und holte tief Atem: “Apropos Julian. Ich muss dir etwas sagen, Larissa. Julian und ich … wir … wir lieben uns.”
“Julian und du …” Larissa starrte ihre Freundin fassungslos an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie versuchte, sich die ruhige, besonnene Clara und den blendenden Gesellschafter Julian zusammen vorzustellen. Und schaffte es nicht. Beim besten Willen. Schon äusserlich war Clara nicht der Typ Frau, für den ein Mann wie Julian den Kopf verliert. Sie war weder besonders hübsch noch sexy. Larissa schämte sich sofort dieser Gedanken, weil Clara so viele hervorrragende menschliche Qualitäten hatte. Aber dann übermannten sie wieder Schmerz und Eifersucht: Wie konnte Clara ihr das antun? Wie konnte sie einfach so ihre, Larissas, Nachfolge bei Julian antreten und dazu noch von Liebe sprechen?
“Ich bitte dich um Verzeihung”, sagte Clara und wagte es endlich, ihre Freundin anzusehen, “aber du hattest mir gesagt, dass alles aus ist zwischen euch, und ich hatte nicht einmal deine Adresse oder deine Telefonnummer, um es dir mitzuteilen.”
Obwohl Larissa sich erinnerte, dass sie das sogar noch krasser ausgedrückt hatte, nämlich, dass sie nichts mehr mit diesem Knallkopf am Hut hätte, war sie jetzt versucht, zu behaupten, das nicht wirklich ernst gemeint zu haben.
“Du liebst ihn doch noch, ja?” stellte Clara jetzt bekümmert fest. “Ich komme mir so schäbig vor dir gegenüber.”
“Wie hältst du es bloss mit ihm aus?” rief Larissa aus. “Julian konnte nie treu sein.”
“Ich glaube schon, dass er es jetzt ist”, erwiderte Clara.
Larissa verstand immer weniger. Wie hatte Clara diese Wandlung zustande gebracht? Oder trug sie aus lauter Verliebtheit Scheuklappen? Wie sie selbst am Anfang?
„Ich muss dir noch etwas sagen”, meine Clara und schob ihr Weinglas fort. „Ich erwarte ein Baby.“
„Von Julian?“ fragte Larissa ungläubig.
„Natürlich von Julian“, erwiderte Clara fast gekränkt. „Wir werden in einem Monat heiraten, und … Erinnerst du dich noch, was wir uns früher einmal versprochen haben? Dass wir gegenseitig unsere Trauzeugin sein würden? Ich würde mich sehr freuen, wenn das immer noch für dich gelten würde!“
Julians und Claras Trauzeugin sein? Die Zeugin ihres Glücks? Das war entschieden zuviel verlangt.
„Du nimmst es mir doch nicht übel, Larissa?“ fragte Clara leise. „Glaub mir, ich hab mich gegen diese Liebe gewehrt …“
Mit Anstrengung brachte Larissa hervor: „Aber Clara, es ist alles völlig in Ordnung. Wirklich.“
Aber nichts war in Ordnung. Sie hätte Julian so gern geheiratet und ein Kind von ihm gehabt. Er hatte sich immer geweigert! Was hatte Clara, was sie nicht hatte?
Bevor sie sich an diesem Abend trennten, bat Clara sie so inständig um ihre Adresse und Telefonnummer, dass Larissa ihr beides gab.
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Larissa hastete den Hausflur entlang, der zu ihrer Wohnung führte und hatte Schwierigkeiten, durch ihre Tränen hindurch etwas zu sehen.
Eine Tür ging auf, und ein Mann kam heraus. Er trug einen Müllbeutel in der Hand. Zum Glück war er gut verknotet, denn er fiel herunter, als er fest zugriff, um Larissa vorm Hinfallen zu bewahren, nachdem sie blind in ihn hereingerannt war.
„Hoppla“, grinste er, „warum so eilig?“ Er wartete, bis Larissa das Gleichgewicht wiedergefunden hatte und liess sie dann los.
„Können Sie nicht aufpassen?“ fauchte Larissa.
Er sah genauer hin und meinte gutmütig: „Ich verstehe. Stark behinderte Sicht. Alles in Ordnung?“
„Stellen Sie immer so dumme Fragen?“ schluchzte Larissa auf.
„Es ist mir herausgerutscht“, entschuldigte er sich zerknirscht. „Hören Sie, ich bin erst gestern hier eingezogen, in meiner Wohnung steht fast nichts an seinem Platz, aber der Kühlschrank ist angeschlossen, und der Wein hat die richtige Temperatur. Wenn Ihnen ein Glas Wein und meine Wenigkeit von irgend einem Nutzen sein können, stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Übrigens, mein Name ist Holger Schmitz. Ich bin Lehrer.“
„Larissa Bergdorf. Bankkauffrau.“ Jetzt hatte sie einen Schluckauf. Auch das noch.
Holger zog sein Taschentuch aus der Tasche und tupfte vorsichtig ihre Tränen ab. Dann hielt er ihr die Tür auf: „Ich verspreche, nicht zu beissen.“
Der Wein tat ihr gut. Und es tat ihr gut, in Holgers altem Ledersessel zu sitzen. Nachdem ihr von innen und aussen warm geworden war, erzählte sie Holger in knappen Worten, was vorgefallen war. Ganz objektiv, das hoffte sie jedenfalls. Und schloss: „Ich komme mir so schäbig vor, dass ich ihnen das Glück nicht gönne. Meine hässlichen Gefühle machen mir Angst. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten besser, wenn ich nach Toronto zurückgehe.“
Holger unterbrach sie nicht, schenkte nur ein wenig Wein nach. Er glitt tröstlich ihre Kehle hinunter. Eine Stunde später sagte sie: „Es ist sehr spät, und ich muss jetzt wirklich gehen. Danke, es war schön bei Ihnen. Die Unterhaltung hat mir gut getan.“ Sie stand auf - und das Zimmer drehte sich.
Holger sprang hinzu und stützte sie: „So viel haben wir doch gar nicht getrunken?“ meinte er etwas erstaunt.
„Ich … ich habe vorher schon. Mit Clara, beim Italiener“, erklärte sie und kicherte, weil sie sich erinnerte, dass Clara selbst höchstens ein Glas getrunken hatte, wegen des Babys.
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Der nächste Tag war zum Glück ein Samstag. Nachdem Larissa zwei Kopfschmerztabletten geschluckt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, erstand sie im Blumenladen gegenüber eine blassrosa Azalee. Den Blumentopf an ihre Brust gepresst, klopfte sie an Holgers Wohnungstür.
Fast augenblicklich wurde geöffnet. Holger musste dahinter gestanden haben.
„Guten Morgen und schönen Dank für gestern. Ich bin sehr beschämt, dass ich Ihnen so viele Umstände bereitet habe“, sagte Larissa und streckte ihm die Blumen entgegen.
„Die Azalee ist wunderschön, und es war mir ein Vergnügen, Sie wie ein kleines Mädchen ins Bett zu bringen“, schmunzelte Holger. „Ich bin gerade dabei, Frühstück zu machen. Möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“
Es duftete nach Kaffee und Toast, und die Kopfschmerztabletten hatten gewirkt. Sie hatte plötzlich Hunger: „Vielen Dank, gern“, lächelte sie.
„Ich habe gestern so richtig egoistisch nur über mich geredet. Bitte, erzählen Sie mir etwas über sich“, bat sie, während sie einen Toast mit Orangenmarmelade bestrich.
„Das ist schnell getan: Ich unterrichte Mathematik und Physik, spiele Geige und bin ansonsten mit 30 Jahren leider noch ungebunden.“
Sie sassen in der Küche am weissgescheuerten Holztisch. Die Azalee prangte auf dem Fensterbrett, und eine eindrucksvolle Reihe von blitzblank geputzten Kupferkasserollen und sonstigen Kochutensilien zierten die Wand über der Arbeitsfläche.
„Es sieht aus wie bei einem Hobbykoch“, lächelte Larissa beeindruckt.
„Womit Sie mein Laster durchschaut haben“, lächelte er zurück.
Sie betrachtete aufmerksam Holgers massig wirkende Gestalt mit den breiten Schultern und den paar Gourmet-Pfunden zuviel um die Taille, sein rundes Gesicht, die freundlichen und zugleich kritischen Augen hinter den Brillengläsern, den wuscheligen, hellbraunen Haarschopf und die knollige Nase. Sie stellte ihn sich vor einer Klasse von albernen und manchmal agressiven Halbwüchsigen vor. Und traute ihm die nötige Autorität zu. Mehr noch, Humor.
„Examen bestanden?“ fragte er mit einem Lachen in seiner Stimme.
Sie errötete ertappt und lachte ebenfalls: „Mit sehr gut!“
Nach dem Frühstück bot sie ihm ihre Hilfe an. Schliesslich hatte sie Übung im Umziehen. Sie rückten Möbel, räumten Geschirr ein, stellten Bücherregale auf …
Sie arbeiteten fast ohne Pause bis abends. Holger entschuldigte sich, aber Larissa beruhigte ihn: Die Arbeit lenkte sie ab. Darauf lud Holger sie zu einem Eintopf ein, der schmackhafter war als alles, was sie bisher in dieser Richtung gegessen hatte.
Am Sonntag ging es weiter. Abends sah es in der Wohnung schon richtig gemütlich aus, und nach dem von Holger zubereiteten Coq au vin und der Schokoladenmousse hätte sich sogar Lukullus die Finger abgeschleckt.
Nachher räumten sie noch einträchtig die Küche auf, dann brachte Holger sie bis zu ihrer Tür, bedankte sich noch einmal und wünschte ihr eine gute Nacht: „Ich freue mich, dass wir jetzt Freunde sind“, sagte er.
„Ich auch, Holger.“ Sie meinte es ehrlich. Ihre Wohnung, die ihr noch vor zwei Tagen so gut gefallen hatte, kam ihr auf einmal kalt und leer vor. Sie würde gleich diese Woche alles in die Wege leiten, um nach Toronto zurückzugehen. Ihr Anrufbeantworter blinkte, und sie drückte auf den Knopf.
„Hallo Larissa, hier ist Julian. Darf ich dich morgen Abend gegen acht besuchen kommen? Wenn du nicht kannst oder mich nicht sehen möchtest, was ich aber nicht hoffe, rufe mich bitte morgen früh im Büro an. Es ist die alte Nummer.“ Er wiederholte sie.
Wie ein elektrischer Stoss fuhr seine Stimme ihr bis ins Herz. Was wollte er? Ihr sein Glück mit Clara unter die Nase reiben? Oder ihr im Gegenteil unsittliche Vorschläge machen? Das Erste würde weh tun, und das Zweite kam nicht in Frage. Sie beschloss, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Aber am nächsten Tag hatte sie ihn bis zwölf immer noch nicht angerufen, und als sie es nachmittags versuchte, war er in einer Besprechung. Abends wollte sie wenigstens Holger bitten, herüberzukommen. Mit ihm würde sie sich sicherer fühlen.
Aber Holger war nicht da. Richtig, er hatte ihr gestern gesagt, dass heute ein Elternabend in der Schule stattfand. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als Julian allein gegenüber zu treten. Und zu versuchen, ihre Gefühle zu beherrschen.
Als es klingelte, gelang es ihr, mit ruhiger Stimme zu fragen, wer da sei.
„Ich bin's. Julian.“
„Komm herauf.“ Sie drückte auf den Summer.
Dann standen sie sich gegenüber. Beide etwas befangen. Er sah so gut aus wie eh und je und trotzdem etwas anders.
„Ich habe ein paar Schnittchen vorbereitet“, sagte sie.
„Und ich habe eine Flasche Wein mitgebracht“, lächelte er und überreichte sie ihr.
Als sie am Tisch sassen, sagte er: „Clara und ich fanden es besser, dich getrennt zu sehen. Aber vielleicht ist es eine schlechte Idee?“
„Nein“, sagte sie. Und fügte selbstkritisch hinzu: „Ich fürchte, ich habe mich Clara gegenüber nicht sehr fair verhalten. Es kam so … überraschend. Wohlverstanden mache ich euch nicht den geringsten Vorwurf. Zwischen uns beiden war schliesslich alles klar.“
„Es ist bestimmt nicht so einfach“, meinte er.
Schon an dieser Bemerkung konnte sie ermessen, wie tief die Wandlung war, die in ihm vorgegangen war.
„Als du mit mir Schluss gemacht hast“, fuhr er fort, „ging es mir schlecht. Mir kam zu Bewusstsein, dass ich meine Partnerinnen unglücklich machte und selbst nicht glücklich dabei war. Ich habe mich damals viel mit Clara unterhalten. Es war das erste Mal, dass ich wirklich offen war zu einer Frau. Vielleicht, weil ich zu Anfang in Clara gar keine Frau sah, sondern mehr einen Kamaraden. Bis dahin traute ich den Frauen nicht. Ständig fürchtete ich, dass sie mir Fallen stellen und Fesseln anlegen könnten. Ich begehrte sie, hatte aber keine Ahnung, was Liebe ist. Kurz, ich war entsetzlich unreif. Clara hat mir geholfen, klar in mir zu sehen. Sie hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.“
„Ja“, murmelte Larissa. “Sie war auch immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte.“
Dann überschwemmte sie wieder Bitterkeit. „Wie kam das denn so plötzlich mit dem Kind? Du wolltest doch nie eins haben!“
„Das hing mit meiner Angst vor den Fallen und Fesseln zusammen. Als mir klar wurde, dass ich mir ein Kind von Clara wünschte, wusste ich, dass ich sie liebte. Ich sage das nicht, um dich zu kränken, Larissa. Und ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir oft weh getan. Es lag nicht an dir, sondern an mir, dass es zwischen uns nicht geklappt hat.“
Es gelang ihr, zu lächeln: „Es war mein Fehler, dass ich nicht verstanden habe, was dich quälte. Ich wünsche Clara und dir viel Glück.“
Julian schüttelte den Kopf, als sie ihm noch ein Schnittchen anbot: „Sie haben vorzüglich geschmeckt, aber ich denke, Clara wartet auf mich. Larissa, Clara und ich möchten dich so gern als Freundin behalten. Du wirst doch unsere Trauzeugin sein? Und später die Patin unseres Kindes?“
„Ich weiss nicht, Julian“, erwiderte sie ehrlich. „Ich denke, ich werde nach Kanada zurück gehen.“
„Doch nicht etwa unseretwegen?“
„Nicht euretwegen. Meinetwegen“, erwiderte sie.
„Das kommt aufs Gleiche heraus. Bitte, überleg es dir. Wir brauchen dich!“
Sie standen in der Diele, und plötzlich nahm Julian sie in die Arme und drückte sie fest an sich: „Glaub mir, ich bin nicht stolz auf mich, wie ich früher war. Ich weiss erst heute, was wahre Liebe ist. Ach, verdammt, ich will nicht, dass du jetzt weinst!“
„Ich weine nicht“, erwiderte sie fast grob. „Grüss Clara von mir!“ Rasch schob sie ihn zur Tür hinaus und schloss sie hinter ihm.
Larissa hatte sich energisch die Nase geputzt, hatte die Küche aufgeräumt und geduscht und wollte gerade mit einem Roman ins Bett gehen, als es leise klopfte.
„Störe ich?“ fragte Holger, als sie aufmachte.
„Natürlich nicht, komm rein.“ Sie war auf einmal sehr froh, dass er da war.
„Was hast du heute erlebt?“ fragte Holger.
„Du zuerst“, forderte sie ihn auf.
Nachdem Holger von der Elternversammlung erzählt hatte, berichtete sie ihm von Julians Besuch. Plötzlich nahm er seine Brille ab, holte ein kleines Tuch aus seiner Tasche und putzte sie. Seine Augen wirkten sehr nah und irgendwie verletzlich ohne die Brille.
„Willst du immer noch nach Toronto zurück?“ fragte er leise.
„Ja.“
„Wenn mir nur etwas einfiele, damit du hierbleibst!“
Vorsichtig setzte er seine Brille wieder auf und lächelte ihr zu. Sie spürte auf einmal die ruhige und trotzdem sensible Kraft, die von ihm ausging, und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Hier war er doch, der Mann zum Lieben, zum Lachen, zum Schmusen und Reden. Der Mann, den das Schicksal für sie massgeschneidert hatte. Der Typ Mann, für den sie bis jetzt blind war. Genau wie Julian jahrelang blind gewesen war für eine Frau wie Clara.
„Möchtest du wirklich, dass ich hierbleibe?“ fragte sie.
Er grinste: „Es hätte schon mal den Vorteil, dass ich dann vielleicht auch zur Hochzeit eingeladen würde. Ich mag Hochzeiten, weißt du?“
Trotz der später Stunde griff sie zum Telefon und wählte Claras Nummer.
Als sie nach zehn Minuten auflegte, lachte sie: „Das hast du davon, jetzt bist du auch Trauzeuge.“
Ernst erwiderte er: „Mit dir! Etwas Schöneres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und später müssen die beiden sich dann revanchieren.“
„Hoppla, nicht so schnell“, lächelte sie, aber dann verstummte sie. Weil sie in seinen Augen die schönste Liebeserklärung las, die sie je erhalten hatte. Gefolgt vom schönsten Kuss ihres Lebens …
ENDE
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