Sonntag, 14. April 2013
Heimkehr nach Santorin
Nach dem Tod ihres Mannes fährt die berühmte Chansonsängerin und Tänzerin Marina Monfort auf die griechische Insel Santorin. Vor vielen Jahren, bevor sie sich für ihre Karriere entschieden hatte, lernte sie hier in den Armen eines jungen Fischers die Liebe kennen. Was wird sie diesmal vorfinden?
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Claudia Siebold stand vorn auf dem Deck des Schiffes. Vor ihr tauchte das rotgefärbte Felsenrund der griechischen Kykladeninsel Santorin auf. Hoch oben auf den Klippen thronte Thira, die Hauptstadt. Weiss leuchteten die Häuser in der Sonne. Ihr Herz war von Freude, aber auch von Zweifeln und Bangigkeit erfüllt. Es war eine Reise in die Vergangenheit. Was würde sie hier erwarten?

Als Claudia am nächsten Tag durch die Gassen von Thira spazierte, folgen ihr viele bewundernde Männerblicke. Ihr Gang und ihre Bewegungen waren geschmeidig, die nackten Füsse mit dem hohen Spann einer Tänzerin streckten in roten Sandalen. Das blonde Haar trug sie jetzt kurz, und ihre ausdrucksstarken, graublauen Augen verbarg sie hinter einer dunklen Sonnenbrille. Sie war 43 Jahre alt, doch ihr Körper war so jungendlich und straff, dass manch ein junges Mädchen sie darum beneiden konnte.

Während sie die Szenerie um sich herum betrachtete - spielende Kinder; ein Kätzchen, das über die Gasse huschte; eine alte, schwarzgekleidete Frau, die ihren Einkaufskorb nach Hause trug - fragte sie sich wieder, ob sie das Recht hatte, nach so langer Zeit zurückzukommen. Dimitri war sicher verheiratet, hatte Kinder. Sie wollte nicht in sein Leben einbrechen, wollte nur sehen, wie es ihm ging. Wenn er glücklich war, würde sie wieder nach Frankreich zurückkehren. Vielleicht war er ja auch fortgezogen? Der Gedanke schmerzte.

Sie erreichte den kleinen Platz vor dem weissgetünchten Haus mit den blauen Fensterläden und dem schmiedeeisernen Balkon. Das handgemalte Schild “Taverna” hing immer noch über der Tür. Unter dem Schatten eines Feigenbaums standen zwei Tische mit Stühlen. Claudia setzte sich, nahm ihre Sonnenbrille ab und atmete ein paarmal tief ein, damit ihr Herzschlag sich beruhigte.

Ein junges Mädchen trat zu ihr, hiess sie freundlich willkommen - und platzte dann mit leuchtenden Augen heraus: “Sie sind … Sie sind Marina Monfort, nicht wahr?”

“Ach, ich bin es nicht mehr”, gab Claudia lächelnd zurück.

“Sie … Sie sind wunderschön. Wie auf den Fotos. Schade, dass Sie Ihr Haar abgeschnitten haben. Und es tut mir so leid, dass Ihr Mann gestorben ist. Es ist so traurig. Darf ich wohl ein Autogramm haben?” Das Mädchen rannte ins Haus, kam mit einem Foto und einem Kugelschreiber zurück und legte beides auf den Tisch.

“Wie heisst du?” fragte Claudia.

“Helena. Helena Stavros.” Als würde ihr plötzlich ihre Unhöflichkeit bewusst, wurde sie rot. “Papa wird böse sein mit mir, und er hat recht. Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind. Und bitte, was darf ich Ihnen als Erfrischung bringen?”

“Einen Ouzo würde ich gern trinken”, lächelte Claudia und schob Dimitris Tochter das mit ihrem Autogramm versehene Foto hin. Sie folgte Helena, die in das dämmrige Innere zurückfloh, mit den Blicken. Das junge Mädchen mochte 16 oder 17 sein. Mit dem langen schwarzen Haar, den dunklen Augen und der geraden Nase könnte sie die Heldin einer griechischen Tragödie sein, aber sie war ein fröhlicher und lebhafter Teenager der heutigen Zeit.

Jetzt kam Dimitri heraus, gefolgt von Helena, die zwei Gläser Ouzo, einen Krug mit eisgekühltem Wasser und ein Schälchen mit schwarzen Oliven auf den Tisch stellte und leichtfüssig wieder verschwand.

Dimitri stand stumm da, ein gutaussehender Mann, ein wenig schwerer als damals, aber mit einem Körper, der immer noch kräftig war. Das Herz tat ihr weh vor Liebe, als sie ihn betrachtete.

“Hallo, Claudia”, sagte er. Seine Stimme klang bewegt.

“Hallo, Dimitri. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich hier bin? Ich wollte einfach nur sehen, wie es dir geht”, erwiderte sie leise auf Griechisch.

“Du sprichst jetzt unsere Sprache?” fragte er und lächelte unwillkürlich.

“In über zwanzig Jahren hatte ich genug Zeit, um sie zu lernen.”

Er setzte sich ihr gegenüber, goss Wasser auf das starke Anisgetränk und reichte ihr ein Glas.

“Du hast eine wunderschöne Tochter”, sagte Claudia.

“Ihre Mutter war auch sehr schön.” Er senkte den Kopf. “Maria ist bei Helenas Geburt gestorben. Ich habe sie und ihren älteren Bruder Nicholas allein aufgezogen.”

Spontan legte Claudia ihre Hand auf die seine, und Dimitri zog sie nicht zurück. Als sei durch diese innige Berührung die Brücke zu damals wieder hergestellt, schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach.

Mitleid durchfloss Claudia, Mitleid für Dimitri, der seine Frau so früh verloren hatte. Mitleid für Helena, die ihre Mutter nie gekannt hatte. Aber wenigstens hatte Helena ihren Vater noch, während sie, Claudia, nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei lieblosen Verwandten aufgewachsen war. Mit 16 hatte sie Obst und Gemüse auf dem Markt verkauft. Mit 18 war sie ausgerissen und hatte sich nach Paris durchgeschlagen. Sie sang und tanzte auf der Strasse, um etwas Geld zu verdienen.

Eines Tages sprach ein Mann sie an. Es war Jean Durand, ein erfolgreicher Komponist. Er lud sie zum Essen ein und versprach ihr eine grosse Karriere im Showgeschäft, wenn sie bereit war, hart dafür zu arbeiten.

Claudia sah an seinen Augen, dass er ein guter Mann war, und ergriff dankbar die Chance, die er ihr bot. Er kam jetzt für ihren Lebensunterhalt auf, liess sie bei den besten Tanz- und Gesangslehrern ausbilden. Sie war gelenkig, besass ein gutes Gehör und ein aussergewöhnliches Gefühl für Rhythmus, aber das beste an ihr war ihre Stimme: ein warmer, sinnlicher Mezzosopran, wie geschaffen für die Chansons, die Jean schrieb.

Er wollte nicht, dass sie zu früh auftrat, zügelte ihre Ungeduld, liess sie die Zeit nutzen, um perfekt Französisch und Englisch zu lernen, sich weiterzubilden und sich auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher zu bewegen. Es waren harte Lehrjahre, und so manchen Abend weinte sich Claudia vor Erschöpfung in den Schlaf. Aber am nächsten Morgen biss sie die Zähne zusammen und machte weiter.

Als Claudia 21 war, gestand der 25 Jahre ältere Jean ihr seine Liebe und bat sie, seine Frau zu werden. Sie verehrte ihren Mentor, konnte sich keinen besseren Mann wünschen. Sie wusste, dass sie seinen Heiratsantrag annehmen würde. Trotzdem bat sie sich einen Monat Bedenkzeit aus. Einen Monat zum Atemholen …

Im Reisebüro sah sie ein Plakat von Santorin und buchte spontan eine Reise dorthin. Sie verliebte sich auf den ersten Blick in die Ferieninsel in der Ägäis. Jeden Morgen schwamm sie weit in die türkisblaue Bucht hinaus. Eines Morgens peitschte ein plötzlich aufkommender, heftiger Wind das Wasser zu hohen Wogen auf. Claudia war eine gute und ausdauernde Schwimmerin, aber als haarscharf ein schnelles Motorboot an ihr vorbeischoss, drückte der Sog sie unter Wasser. Sie geriet in Panik und glaubte schon, ertrinken zu müssen, als eine Hand sie packte und in ein schwankendes Fischerboot zog.

Ihr Lebensretter bettete sie auf den Boden seines Bootes und klopfte sanft ihren Rücken, während sie nach Atem rang und Wasser spuckte. Endlich konnte sie sich aufsetzen: “Danke”, krächzte sie. “Ich war leichtsinnig, so weit hinauszuschwimmen.”

Er verstand ihre Sprache nicht, aber er lächelte sie freundlich an. Er deutete auf sich, machte ungeschickte Schwimmbewegungen und schüttelte den Kopf. Claudia verstand, dass er nicht schwimmen konnte. Und dennoch hatte er sich selbst in Lebensgefahr gebracht, um sie zu retten …

Zwei Oktopusse, mehrere Tintenfische sowie einige andere Fische lagen im Boot. Der junge Grieche gab ihr in seiner beredten Zeichensprache zu verstehen, dass sein Vater, der eine Taverne in Thira besass, sich über diese Delikatessen freuen würde.

Als Dank, dass er ihr das Leben gerettet hatte, wollte Claudia ihm Schwimmunterricht geben. Am nächsten Nachmittag, bedeutete sie ihm, würde sie unten am Hafen von Skala auf ihn warten.

Er war da, wollte aber nicht, dass irgend jemand sah, wie eine Frau ihm das Schwimmen beibrachte. Also fuhren sie in seinem Boot zu einer verschwiegenen Bucht. Eine Woche später schwamm er bereits wie ein Fisch.

Irgendwann, als sie mit wasserglänzenden Körpern aus dem Meer kamen, war es Claudia plötzlich, als sähe sie Dimitri zum ersten Mal. Er hatte einen herrlichen Körper, kräftig und geschmeidig zugleich. Auch Dimitri starrte sie an. Unverhohlenes Begehren lag in seinem Blick.

Wie unter Zwang näherten sie sich einander, und als sich ihre Lippen berührten, war ihr Denken wie ausgelöscht. Engumschlungen glitten sie auf den Sand …

An diesem Abend kehrten sie nicht nach Thira zurück. In Dimitris Armen, am Strand unter dem sternenübersäten Himmel, lernte Claudia die Liebe kennen. Im Morgengrauen, als die aufgehende Sonne die Bucht mit goldenem Licht übergoss, standen sie da und hielten sich an den Händen.

Trotz des überwältigend schönen Naturschauspiels waren ihre Herzen schwer. Sie wussten, dass es keine Zukunft für ihre Liebe gab. Claudia hatte ihm in einer Pantomime von ihrer bevorstehenden Hochzeit mit Jean erzählt, von ihrem ersten Auftritt, der demnächst stattfinden sollte.

Am nächsten Tag flog sie nach Paris zurück. Im Herbst heiratete sie Jean, und ihre Karriere begann …

“Es tut mir leid, dass dein Mann gestorben ist”, sagte Dimitri jetzt in ihre Gedanken hinein.

“Ja, ich war sehr traurig. Wir haben eine gute Ehe geführt. Jean war ein wundervoller Mann. Ich verdanke ihm alles.” Sie brauchte Dimitri nicht zu sagen, dass sie Jean zumindest körperlich nie so lieben konnte, wie sie es gewollt und er es verdient hätte. Nicht, nachdem sie in Dimitris Armen erfahren hatte, wie Liebe sein konnte.

“Du bist eine grosse Künstlerin”, fuhr Dimitri fort. “Wir alle kennen dich hier vom Fernsehen her.”

“Ach, ich habe nie etwas anderes getan, als zu tanzen und Jeans Chansons zu singen. Es gibt keinen Grund, besonders stolz darauf zu sein”, winkte Claudia ab. “Und ich musste viele Opfer bringen. Das grösste war, keine Kinder zu haben; aber ich hätte keine Zeit gehabt, mich um sie zu kümmern. Du hast Glück, Vater eines Sohnes und einer Tochter zu sein. Erzähl mir von ihnen, magst du?”

“Nicholas studiert in Athen. Der Junge hat sich strikt geweigert, in der Taverne zu arbeiten. Er möchte Arzt werden. Nur in den Semesterferien kommt er zurück, so wie jetzt. Morgens fischt er für die Taverne, wie ich es früher für meinen Vater getan habe. Mittags und abends arbeitet er in einem der Restaurants für Touristen, wo es gute Trinkgelder gibt. Er muss ein bisschen Geld zum Studium dazuverdienen. Zum Glück bleibt mir Helena. Eines Tages wird sie heiraten und mit ihrem Mann die Taverne weiterführen.”

Er schwieg eine Weile und sagte dann: “Ich habe niemals aufgehört, an dich zu denken. Natürlich habe ich Maria geliebt, aber du warst mein Traum. Du wirst es immer sein. Denn du wirst nicht bleiben. Du hast Verpflichtungen, bist reich und berühmt …”

“Ich bin nicht so reich, wie die meisten Leute glauben. Das Leben, das Jean und ich geführt haben, hat viel Geld verschlungen. Aber ich werde nie Not leiden müssen, dafür hat Jean gesorgt. In all den Jahren meines oft hektischen Lebens habe ich immer wieder an den Frieden dieser Insel gedacht, an die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen. Ja, auch ich konnte dich niemals vergessen.”

Sie sah ihm in die Augen und wechselte das Thema: “Ist Helena eigentlich mit ihrem Leben hier zufrieden? Möchte sie nicht auch viel lieber studieren?”

“Sie hat eingesehen, dass ich nicht auch noch ihr Studium finanzieren kann. Ausserdem brauche ich jemanden in der Taverne. Sie hilft mir, und sie macht ihre Sache sehr gut. Er drehte sich um und rief: “Helena, bring uns bitte etwas zu essen!”

Claudia unterdrückte jegliche Kritik, aber sie nahm sich vor, so bald wie möglich mit Helena zu sprechen…

Das Mahl, das Helena zubereitet hatte, war köstlich. Vorweg gab es gefüllte Weinblätter, dann Tintenfisch, den Nicholas gefischt hatte, und anschliessend zartes Lammfleisch mit Reis. Zum Nachtisch brachte Helena einen Teller mit süssen Feigen.

Nach dem Essen, nachdem der letzte Gast gegangen war, half Claudia beim Aufräumen der Küche. Dimitri und seine Tochter wollten sie unbedingt daran hindern, aber Claudia liess keine Einwände gelten. “Es macht mir Spass”, erklärte sie bündig. “Und du, Dimitri, hältst jetzt Siesta! Du bist bestimmt seit frühmorgens auf den Beinen.”

Während sie Hand in Hand arbeiteten, fragte Claudia das junge Mädchen nach seinen Lebensplänen.

“Papa möchte, dass ich einmal die Taverne übernehme.”

“Aber du, Helena”, drängte Claudia, “was möchtest du?”

“Archäologie studieren”, kam es wie aus der Pistole geschossen. Gleich darauf fügte das junge Mädchen erschrocken hinzu: “Aber Papa kann nicht ein zweites Studium bezahlen, und ich kann ihn auch nicht allein lassen.”

In diesem Moment kam ein gutaussehender junger Mann in die Küche. Aufgeregt rief Helena ihm zu: “Nicholas, stell dir vor, das ist Marina Montford! Und sie hilft mir, die Küche aufzuräumen! Madame Monfort, das ist Nicholas, mein grosser Bruder.”

“Helena, ich bin Claudia. Marina Monfort war nur mein Künstlername. Weil der schicker klang als Claudia Siebold.” Sie wandte sich Nicholas zu. “Ich kenne euren Vater von früher her. Er hat mich vorm Ertrinken gerettet.”

“Und Sie haben ihm das Schwimmen beigebracht”, kicherte Helena. “Die Geschichte hat er uns schon tausendmal erzählt. Wir haben von ihm Schwimmen gelernt, noch bevor wir laufen konnten.”

Nicholas betrachtete sie nachdenklich: “Warum sind Sie zurückgekommen?” fragte er.

“Weil ich diese Insel liebe”, erwiderte Claudia ruhig. “Genügt das erst einmal als Antwort?”

Da lächelte Nicholas ihr zu, und sie hatte das Gefühl, dass er lesen konnte, was in ihr vorging.

Sie gab ihm sein Lächeln zurück und wandte sich dann an Helena: “Würdest du mir beibringen, wie du hier all diese köstlichen griechischen Gerichte zubereitest?”

“Gern, wenn Sie es möchten.”

“Wenn du es möchtest”, berichtigte Claudia sie. “Ich möchte es wirklich, du wirst schon sehen, warum.”

Zur Freude von Helena und Nicholas, die den Nachmittag am Strand verbringen wollten, schloss Dimitri die Taverne für den Rest des Tages. Dann wandte er sich an Claudia: “Und wir? Was machen wir? Hast du Lust, zu unserer Bucht zu fahren?”

Sie nickte, und ihr Herz klopfte, als sei es ihr allererstes Rendezvous …

Die Bucht lag einsam da. Sie setzten sich in den warmen Sand, und Dimitri umarmte Claudia mit einer fast scheuen Zartheit. “Ich liebe dich”, murmelte er an ihrem Hals. “Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du da bist.”

“Ich liebe dich auch, Dimitri”, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn …

Viel später, als sie ermattet, aber unendlich glücklich nebeneinander lagen, beschloss Claudia, das Thema Helena anzuschneiden. “Sei nicht böse, aber ich habe mich mit deiner Tochter unterhalten”, begann sie. “Ich weiss, dass sie gern Archäologie studieren würde. Doch sie liebt dich und möchte gehorsam sein. Dimitri, ich möchte ihr Studium finanzieren. Bitte, lass es mich tun.”

“Das kommt überhaupt nicht in Frage”, brauste er auf.

“Sei nicht albern. Wenn deine Frau noch leben würde, hätte sie Helena unterstützt, da bin ich mir ganz sicher.”

Nach einer kurzen Pause stöhnte er: “Wir sind noch nicht mal einen Tag zusammen, und schon soll alles anders werden?”

Sie küsste ihn. “Ich werde nicht lockerlassen, Dimitri; du wirst keine ruhige Minute mehr haben.”

“Ich hätte es wissen müssen. Aber ich bin ja selbst schuld. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass eine Frau mir das Schwimmen beibringt”, grollte er und verdrehte die Augen so komisch, dass Claudia lachen musste.

Nun schmunzelte er selbst: “Nun gut, ein kluger Mann gibt nach. Wenn es Helenas grösster Wunsch ist, zu studieren, soll sie es tun. Welch ein Vater wäre ich denn, wenn ich sie nicht diese Chance ergreifen liesse? Aber wer wird mir dann in der Taverne helfen?”

“Ich”, verkündete Claudia.

“Du?” Er schaute sie verblüfft an und fing schallend an zu lachen.

“Traust du mir das etwa nicht zu?” fragte sie ein wenig gekränkt. “Ich habe eine Menge in meinem Leben gelernt. Ich werde auch noch lernen, wie man griechische Gerichte kocht. Helena will es mir beibringen.”

“Claudia! Du willst dir doch nicht etwa die Hände in der Küche einer Taverne schmutzig machen?” stiess Dimitri ungläubig hervor.

“Ich habe keineswegs die Absicht, sie in den Schoss zu legen”, gab Claudia fest zurück.

Nachdenklich fügte sie hinzu: “Glaubst du, dass deine Kinder mich irgendwann akzeptieren werden?”

“Das tun sie doch schon”, versicherte Dimitri und zog sie an sich. “Aber du bist berühmt, du lebst in Paris, hast deine Karriere!”

“Meine Karriere ist beendet, ohne Jean interessiert sie mich nicht mehr, ausserdem komme ich in die Jahre. Du wirst sehen, man wird mich schnell vergessen. Kein Grund, um traurig zu sein, aber ein Grund, um ein neues Leben anzufangen. Hier auf Santorin. Mit dir. Und sei nicht traurig wegen Helena und Nicholas. Sie werden immer wieder zu dir zurückkommen, zu uns zurückkommen, denn hier sind ihre Wurzeln.” Lebhaft fuhr sie fort: ” Ich habe auch schon Ideen für die Taverne, wir werden sie renovieren, sie freundlicher gestalten, ohne dass sie ihren Zauber verliert. Die Küche muss auch modernisiert werden, aber keine Bange, an die traditionellen Gerichte werden wir nicht rühren.” Sie redete sich mehr und mehr in Begeisterung, fühlte eine seit Jeans Tod nicht mehr gekannte Energie in sich aufsteigen, aber plötzlich hielt sie ein und warf Dimitri einen raschen Seitenblick zu. Vielleicht war sie zu weit gegangen?

Dimitri runzelte tatsächlich die Stirn, aber dann sah auch er sie an - und hob komisch seufzend die Schultern: “Für mich brechen schwere Zeiten an”, raunte er ihr ins Ohr, aber es klang so zärtlich, dass Claudia wusste: Sie war endlich heimgekommen …

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 9. April 2013
So schön prickeln nur verbotene Gefühle
Corinna hat ihren Mann Thomas verlassen, um in Marbella als Landschaftsgärtnerin zu arbeiten. "Selbstverwirklichungstrip", lästert der erfolgreiche Architekt Thomas, der im Schmollwinkel sitzt. Aber als Ariane, die bezaubernden Freundin ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Thomas schenkte sich einen Whisky ein und ging damit zum Sessel zurück. Er nahm die Zeitung wieder auf, stellte aber fest, dass er nicht lesen wollte. Er wollte sprechen. Und nicht mit irgend jemandem, sondern mit Corinna. Und Corinna war nicht da! Seine Frau war in Marbella und legte dort einen Garten an, eins der Wunderwerke, wie nur sie sie zu schaffen verstand.

Er wusste, dass er sich wie ein verwöhntes Kind benahm, als er die Zeitung hinwarf, aufsprang und durchs Haus wanderte. Das Haus, das er einst entworfen und gebaut und das Corinna zu einem gemütlichen Heim für sie alle gemacht hatte. Durch die breite Glasschiebetür des Wohnzimmers sah er in den Garten hinaus. Warum genügte er Corinna nicht mehr? Warum kümmerte sie sich um fremde Gärten?

"Warum genügt es dir nicht, als Architekt unser Haus gebaut zu haben?" hatte sie ihm vor zwei Jahren erwidert, "warum musst du auch andere Häuser bauen? Kannst du wirklich nicht verstehen, dass ich wieder arbeiten möchte? Jetzt, wo die Kinder gross sind?"

"Aber ich bin doch noch da!"

"Du füllst leider nicht meine ganzen Tage und Nächte aus, so oft, wie du beruflich fort bist."

"Wenn du jetzt auch noch beruflich oft fort sein wirst, werden wir uns gar nicht mehr sehen!"

Sie hatte den Vorschlag gemacht, ein Team zu werden. Er baute die Häuser, und sie legte, wo es passte, die Gärten und Grünanlagen an. Er hatte abgelehnt. Aus dem egoistischen Verlangen heraus, dass sie ihren Plan aufgab. Traurigkeit und Enttäuschung hatten sich wie ein Schatten über ihr schönes Gesicht gelegt, aber dann hatte sie trotzig das Kinn gereckt: "Ich schaffe es auch ohne dich, Thomas, lass dir das gesagt sein!"

Sie hatte es geschafft, ermutigt von den Kindern. Seit einem Jahr gaben sich die Kunden die Klinke in die Hand. Bis nach Marbella war ihr Ruf als begnadete Landschaftsgärtnerin gedrungen. Einzig durch Mundpropaganda. Und er stand jetzt wie ein Volltrottel da!

Der Glockenschlag ertönte. Er ging an die Sprechanlage: "Wer ist da, bitte?"

"Ariane Aurich, eine Freundin von Vanessa."

"Es tut mir schrecklich leid, Sie so spät noch zu stören", entschuldigte sie sich, als er ihr geöffnet hatte, "aber morgen beginnt ein viertägiges Fachseminar, an dem ich beruflich teilnehme, und im Hotel gab es eine Panne. Das für mich reservierte Zimmer war schon belegt. Es war auch kein anderes Zimmer mehr zu bekommen. Natürlich werde ich es morgen noch einmal versuchen, aber könnte ich diese eine Nacht vielleicht hier schlafen?"

Waren es zwei Jahre oder schon länger her, dass er die Freundin seiner Tochter zuletzt gesehen hatte? Sie war bezaubernd: klein und zierlich, mit dunklem Haar und dunklen Augen, einem schwellenden Mund und einem Teint wie Porzellan. "Natürlich können Sie hier übernachten", erwiderte er herzlich. "In Vanessas Zimmer ist das Bett frisch bezogen. Meine Frau hat es mir vor ihrem Abflug nach Marbella noch gesagt, für den Fall eines Besuchs."

"Oh, Ihre Frau ist nicht da?" zögerte Ariane, aber er nahm ihr schon die Reisetasche ab: "Sie werden doch keine Angst vor einem alten Mann haben?"

Er freute sich, als Ariane kicherte: "Natürlich nicht, selbst wenn Sie überhaupt nicht alt sind und sehr gut aussehen. Ich möchte Ihnen nur keine Umstände bereiten."

"Im Gegenteil, Sie machen mir eine Freude", versicherte er ihr.

In Vanessas anheimelndem Zimmer sah Ariane sich gerührt um: "Hier haben wir so oft zusammen gearbeitet. Ich werde ihr erzählen, dass ich in ihrem Bett geschlafen habe. Es ist eine Schande, wie lange wir uns schon nicht mehr gesehen haben."

Thomas öffnete die Tür, die zum kleinen Bad führte: "Ich werde Handtücher holen." Er musste eine Weile suchen, bis er sie fand, kam dann aber stolz mit ihnen zurück.

"Möchten Sie etwas essen?" erkundigte er sich.

"Nein danke, ich habe schon gegessen und werde mich jetzt zurückziehen. Sie müssen morgen doch sicher auch früh heraus?"

"Stimmt. Dann also, gute Nacht, Ariane."

"Gute Nacht, Herr Haake, und nochmals vielen Dank."
_ _ _

Am nächsten Tag kam Thomas früher als sonst nach Hause. Er hoffte, dass Ariane noch da war.

Sie kam eine Stunde später. Ihr Tag war lang und anstrengend gewesen: "Ich hatte keine Zeit, um nach einem Hotelzimmer zu suchen", gestand sie ihm kleinlaut.

"Wieso auch? Gefällt es Ihnen hier denn nicht?"

"Hm, doch", lächelte sie, "von hier aus komme ich auch bequem mit dem Bus bis zu meinem Seminar."

Er fühlte sich prächtig: "Bitte, machen Sie dem alten Herrn, der ich bin, die Freude, mit ihm essen zu gehen. Ganz in der Nähe gibt es ein ausgezeichnetes japanisches Restaurant."

"Gern, wenn ich Sie einladen darf. Als Dank für Ihre Gastfreundschaft."

"Das dürfen Sie das nächste Mal."

Thomas freute sich an den neidischen Blicken der Männer an den Nachbartischen. Er bemerkte sie auch, wenn er Vanessa ausführte, aber jetzt, bei Ariane, kam etwas anderes hinzu. Ein Prickeln, der Gedanke an eine Möglichkeit, der Hauch eines Abenteuers. Er wollte diese gefährlichen Gedanken abschütteln, begegnete dann aber Arianes Blick. Sie lachte nicht mehr, ihre grossen Augen waren noch dunkler geworden.

Ein scharfer Stich durchfuhr seinen Körper. Grosser Gott, dachte er erschrocken, er begehrte doch nicht etwa die Freundin seiner Tochter? Hastig fragte er: "Haben Sie einen Freund?"

Sie zögerte, ehe sie knapp antwortete: "Ja, aber es klappt nicht so toll zwischen uns im Augenblick. Ich möchte jetzt lieber nicht an ihn denken."

Thomas liess nicht locker, obwohl jedes Wort ihn Überwindung kostete: "Manchmal ist es gut, über seine Probleme zu sprechen."

Ariane seufzte: "Himmel, sind Sie neugierig. Und hartnäckig. Also: Frederik möchte eine Familie gründen, und ich bin noch nicht bereit dazu."

"Lieben Sie ihn nicht genug?"

"Es war die grosse Liebe, aber jetzt streiten wir uns nur noch."

"Macht Ihnen womöglich die feste Bindung Angst?"

"Sehen Sie, das glaubt er auch, aber das ist es nicht. Es ist eher ... Eine Frau muss so viel aufgeben, wenn sie heiratet und Kinder bekommt."

"Das ist doch heute nicht mehr so!"

"O doch", erwiderte sie heftig. "Es ist immer noch die Frau, die am meisten unter der Doppelbelastung von Beruf und Familie zu leiden hat. Und Frederik kann ein solcher Macho sein!"

"Ein Mann kann schliesslich auch dazulernen."

"Ich möchte einen kennenlernen, der es schon gelernt hat!"

Er grinste: "Vielleicht werden Sie einen solchen Mann dann langweilig finden?"

Endlich lächelte sie wieder: "Sehen Sie, ein solches Gespräch könnte ich nicht mit Frederik führen, er wäre mir längst ins Wort gefallen."

Fast wäre ihm vor Stolz die Brust geschwollen, aber Corinnas Lachen, das er plötzlich zu hören glaubte, hinderte ihn daran. Er wusste natürlich, warum sie diesen Heiterkeitsaanfall bekam. Warf sie ihm nicht oft genug halb amüsiert, halb erbost, vor, dass er sie nicht aussprechen liess?

Nach der köstlichen Mahlzeit, zu der sie Sake tranken, gingen sie wieder durch die warme Nacht zum Haus zurück. Als sie vor Julianes Zimmer standen, schlang die junge Frau plötzlich ihre Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen kurz und sanft auf die seinen: "Danke für den wunderschönen Abend!"

Er hatte seine ganze Willenskraft aufbieten müssen, um sie nicht festzuhalten und ihren Kuss leidenschaftlich zu erwidern. Ihre Lippen waren warm und weich, und er hatte gefühlt, wie ihr Herz klopfte. Eine solche Aufruhr der Gefühle, ein solch heftiges Begehren hatte er schon lange nicht mehr gespürt, aber er schaffte es, ihr zuzulächeln und mit neutraler Stimme eine gute Nacht zu wünschen. Leise und wie bedauernd schloss sich die Tür hinter der jungen Frau.

Jetzt brauchte er dringend einen Whisky. Mit dem Glas in der Hand ging er in den nächtlichen Garten hinaus, während es fieberhaft in seinem Kopf arbeitete. Er erwog, eine Geschäftsreise zu erfinden, um Ariane allein im Haus zu lassen, fand es dann aber etwas albern, zu flüchten. Es reichte doch, standhaft zu bleiben! Das Schlimmste: Ihm war bewusst, dass er ein Heuchler war, dass er blieb, weil er nicht anders konnte, weil Ariane ihn wie ein Magnet anzog.

Ein kleiner Teufel flüsterte ihm zu, dass es ein Kinderspiel sein würde, für ein paar Tage die Rolle zu spielen, die sie ihm offensichtlich zudachte, die Rolle des Mannes, der Vater und Beschützer, Geliebter und Vertrauter zugleich war; der Märchensprinz, der sie verstand und ihr nie weh tun würde. Es würde sogar relativ gefahrlos für ihn sein. Ariane wusste, dass er verheiratet war. Und Corinna musste nichts davon erfahren. Die Einzige, die es ihr hätte verraten können, war Frau Weber, die Aufwartefrau, und die war für eine Woche zu ihrer Tochter gefahren, die ein Baby bekommen hatte. Er brauchte nur sorgfältig alle Spuren im Haus zu tilgen.

Die Versuchung, in ihr Zimmer zu gehen, wo sie wahrscheinlich sehnsüchtig auf ihn wartete, bereitete ihm solche Qualen, dass er ins Haus zurückging und sich den blutrünstigsten Krimi aus dem Bücherbord fischte, in der Hoffnung, dadurch abgelenkt zu werden.
_ _ _

Beim Frühstück sah Ariane ihn aus ebenso übernächtigten Augen an wie er sie. Und als sie abends fast gleichzeitig wieder zu Hause eintrafen, war ihrer beider Zustand kaum besser geworden.

Er wusste aber jetzt, dass es an ihm war, dem Älteren und Erfahreneren, für beide vernünftig zu sein, ehe das Feuer sie verschlingen würde. Mit dem Gefühl, sich bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust zu reissen, begann er: "Ariane, Corinna hat allen Grund, mir genau das vorzuwerfen, was du an deinem Frederik auszusetzen hast."

"Das glaube ich nicht", fuhr sie auf.

"Hör mir bitte zu! Es beginnt bei ihrem Beruf. Sie hat ihn an den Nagel gehängt, als unsere Kinder zur Welt kamen, und ich habe das als viel zu selbstverständlich hingenommen. Dabei war sie damals schon eine ausserordentlich begabte Landschaftsgärtnerin. Ich habe nie darüber nachgedacht, ob sie in all den Jahren glücklich war."

"Sie war es, jedenfalls machte sie immer den Eindruck auf mich."

"Aber vor zwei Jahren, als sie es nicht mehr war und in ihren Beruf zurück wollte, habe ich nur daran gedacht, ihr Steine in den Weg zu legen. Aus purem Egoismus."

"Sie sind kein Egoist", protestierte sie.

Er sah, dass sie darum kämpfte, sich ihre Illusionen zu bewahren und ihren Verstand auch weiterhin auszuschalten. So stark war die Macht der Träume und Wunschvorstellungen!

"Wie wär's, wenn Sie mich jetzt zum Essen einladen würden?" lächelte er ihr zu.

Sie atmete ein paarmal tief durch, dann war ihr Blick wieder klar: "Mit Vergnügen, Herr Haake."

Als Ariane und Thomas fröhlich wieder zurückkamen, stand eine dunkle Gestalt vor der Tür. Ariane zögerte, dann beschleunigte sie ihren Schritt: "Frederik, wie kommst du hierher?"

"Ich störe hoffentlich nicht?" Frederik, ein hochgewachsener, blendend aussehender junger Mann, mass Thomas mit einem derart argwöhnischen Blick, dass dieser sich wider Willen geschmeichelt fühlte.

Er überliess Ariane, deren Augen bei Frederiks Anblick aufgeleuchtet hatten, die Erklärung. Sie blinzelte Thomas kurz zu und sagte: "Herr Haake, das ist Frederik, mein Freund. Frederik, Thomas Haake ist der Vater meiner Freundin Vanessa."

Das schien Frederik nicht zu beruhigen. Er grollte: "Ich wollte dich im Hotel besuchen, und da bekam ich den Bescheid, dass du hier wohntest."

"Im Hotel hatten sie eine Doppelbuchung vorgenommen, und Herr Haake war so nett, mir Vanessas Zimmer zur Verfügung zu stellen."

"Im Hotel ist jetzt ein Doppelzimmer frei, ich habe es für uns reserviert." Er fügte hinzu: "Ich möchte dich um Verzeihung bitten, Ariane, weil ich mich die ganze letzte Zeit so grässlich bekommen habe." Sein Blick drückte so viel Liebe und Verlangen aus, dass Thomas schnell sagte: "Ich geh schon mal hinein."

Als er sich noch einmal umwandte, waren die beiden in einem leidenschaftlichen Kuss versunken. Er würde warten, bis sie Arianes Gepäck geholt hatten und er wieder allein sein würde, um Corinna anzurufen und sie ebenfalls um Verzeihung zu bitten. Der ausserordentlich schmerzliche Gedanke durchzuckte ihn, dass auch sie im fernen Marbella Versuchungen ausgesetzt sein könnte. Ihr Auftraggeber war ein reicher junger Spanier. Zu jung für sie? Plötzlich war er nicht mehr so sicher. Liebe und Sehnsucht nach seiner Frau sprengten beinahe seine Brust. Er hoffte aus ganzem Herzen, dass er nicht zu spät kommen würde, um ihrem Vorschlag, im Team zu arbeiten, zuzustimmen.

Als Ariane und Frederik strahlend fortgegangen waren, änderte er jedoch sein Vorhaben und rief den Flughafen an, um für den nächsten Tag einen Flug nach Marbella zu buchen. Schwere Fälle wie den seinen sollte man besser persönlich plädieren ...

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Sonntag, 7. April 2013
Am Ende eines langen Irrwegs
Marion und Achim stecken in einer schweren Ehekrise. Je höher Achim die Stufen der beruflichen Erfolgsleiter emporklettert, desto mehr enttäuscht ihn Marion, die sich nicht seinem neuen Lebensstil anpassen will. Nun hat er Jill kennengelernt ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Marion öffnete die Tür zur kleinen Terrasse ihres Ferienappartments. "Oh", rief sie aus, "dieser wundervolle Blick! Achim, Lena, kommt mal schnell!"

Die 5-jährige Lena lief sofort zu ihr, drängte sich an sie. Marion legte den Arm um die schmalen Schultern ihres Töchterchens und streckte den anderen nach Achim aus, aber dieser stiess missmutig hervor: "Du liebes bisschen, Marion, der Blick läuft uns nicht davon! Ich will erstmal unter die Dusche nach der langen Fahrt."

"Entschuldige bitte", sagte sie leise. "Natürlich musst du furchtbar müde sein."

"Wenn du mir bitte die Toilettensachen und ein Handtuch geben würdest?"

Schuldbewusst sprang sie hinzu, öffnete den Koffer und suchte das Gewünschte heraus. Achim verschwand im Bad.

"Mama, gehen wir jetzt auf die Terrasse?"

Marion fühlte, wie Lenas kleine warme Hand sich in die ihre schob. "Ja, Schatz", lächelte sie und hoffte, dass das Kind nicht die Tränen sah, die hinter ihren Augenlidern brannten.

Hand in Hand gingen sie hinaus. Vor ihnen lag die Bucht von Saint Tropez, die sich zum tiefblauen Mittelmeer hin öffnete. Irgendwo am Horizont ging das in der Sonne gleissende Meer in den wolkenlosen Himmel über. Der Anblick war atemberaubend schön.

"Sieh nur, all die Schiffe", krähte Lena entzückt.

"Das sind Segel- und Fischerboote. Hier werden wir schönen, frischen Fisch essen."

"Ohne Gräten?"

"Papa sucht sie dir alle heraus."

Vielleicht hätte sie das nicht so vorschnell versprechen dürfen, denn Achim hatte das schon lange nicht mehr getan. Er war damit beschäftigt, Karriere zu machen, kletterte fast atemberaubend schnell die Stufen der Erfolgsleiter empor. Achim war enorm tüchtig in seinem Beruf als Wirtschaftsinformatiker. Sie gönnte ihm den Erfolg von Herzen, aber manchmal dachte sie mit Sehnsucht an die Zeit zurück, in der sie ärmer, aber viel glücklicher gewesen waren.

Als sie sich vor acht Jahren kennenlernten, arbeitete sie in einem Reisebüro, und Achim war noch Student. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie konnten über alles miteinander reden, schwammen auf der gleichen Wellenlänge. Damals hatte sie mehr Geld als er, aber das war nie ein Problem gewesen. Sie hatten noch während Achims Studium geheiratet, und ein Jahr später kam Lena zur Welt. Achim war vernarrt gewesen in seine Tochter. In jeder freien Minute beschäftigte er sich mit ihr. Als er sein Studium beendet und eine Stelle in einem kleinen, aber rasch expandierenden Unternehmen gefunden hatte, hörte Marion auf zu arbeiten. Sie wollte ein paar Jahre für ihr Kind da sein. Aber mit steigendem Einkommen veränderte Achim sich auf beunruhigende Weise. Der Schein wurde für ihn immer wichtiger als das Sein. Als letztes hatte er einen flotten Sportwagen gekauft. Einen Sportwagen für eine Familie! Er machte ihr und Lena kostspielige Geschenke, aber auch sie entsprangen mehr seinem neuen Statusdenken als der Überlegung, was seinen "beiden Frauen" wirklich Freude machen würde. Denn beide, Marion und Lena, wünschten sich nichts sehnlicher, als dass er ein bisschen mehr Zeit für sie hätte. Wenn Marion ihm Vorhaltungen wegen seiner Verschwendungssucht machte, ihn bat, doch lieber auf ein eigenes Haus zu sparen, lachte er nur: "Das Haus bekommst du auch, aber das, was mir vorschwebt, kann ich noch nicht bezahlen."

"Es kann doch ruhig etwas Bescheideneres sein. Jetzt bezahlen wir eine hohe Miete. Es beunruhigt mich, wie du das Geld zum Fenster hinauswirfst."

"Bei uns zu Hause fehlte es an allen Ecken und Enden", war seine knappe Antwort gewesen. "In der Schule machten meine Mitschüler sich über mich lustig, weil ich nur abgetragene und ausgebesserte Sachen trug. Das hier, das ist meine Revanche."

"Aber Schatz, du hast es doch gar nicht nötig, Minderwertigkeitskomplexe zu haben!"

Er wischte ihre Bemerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite: "Was weisst du schon davon?"

Er kleidete sich in teuren Geschäften ein und war ärgerlich, dass sie es ihm nicht nachtun wollte. Seine Freunde von früher sah er kaum noch, dafür hatte er neue Bekannte. Sie redeten alle furchtbar schnell und zogen über die Abwesenden her. Unter vier Augen sagte Marion ihm, wie sehr ihr das alles missfiel, und sie stritten sich immer öfter.

Warum blieb sie bei ihm? Nur Lenas wegen? Nein, es gab auch etwas anderes. Denn manchmal kam der alte Achim wieder zum Vorschein, der zärtliche, rücksichtsvolle Mann, in den sie sich verliebt hatte. Dann dachte sie, dass nicht alles verloren war, dass Achim diese Phase vielleicht überwinden würde. Sie hoffte nur, dass er sich damit beeilte, ehe etwas geschah, das vielleicht nicht wieder gutzumachen war.

Die Tür klappte. Achim kam aus dem Bad und trat zu ihnen auf die Terrasse: "Tatsächlich", stellte er zufrieden fest, "der Ausblick ist schön. Das konnte man aber auch verlangen für den Preis."

"Hör auf, immer über Geld zu reden", gab sie leise zurück. "Ich wäre genau so gern in den Harz gefahren, das weisst du. Aber so was ist dir jetzt ja viel zu popelig."

Lenas Augen gingen angstvoll von einem zum anderen. Würden sich ihre Eltern wieder streiten? Sie hörte oft ihre Wortwechsel, wenn sie im Bett lag, und konnte dann nicht einschlafen.

Beide sahen den Blick ihres Töchterchens und nahmen sich zusammen. Marion wandte sich ab, weil ihr wieder die Tränen kamen, und Achim presste fest die Lippen aufeinander.

Still ging Lena in ihr Zimmer zurück und packte ihre kleine Reisetasche aus. Marions Herz zog sich zusammen. Wie einsam das Kind aussah! Sie waren im Augenblick alle drei sehr einsam. Wie würde das alles enden? Sie legte ihre Hand auf Achims Arm und sagte versöhnlich: "Verzeih', ich bin sicher undankbar."

"Du willst mich nicht verstehen", antwortete er bitter.

"Ich bemühe mich, aber es stimmt, manchmal gelingt es mir nicht ganz."
_ _ _

Während sie, Lena in der Mitte, am weissen Strand entlanggingen, der jetzt im Frühjahr nicht so überfüllt war wie im Sommer, schwiegen sie. Manchmal sah Achim seine Frau verstohlen von der Seite an. Sie trug leichte lange Hosen, dazu eine hüftlange Bluse. Beides stand ihr gut, aber das Wissen, dass die Kleidung ganz schlicht aus dem Kaufhaus kam, störte ihn unsagbar.

Jetzt strich sie mit beiden Händen das blonde, halblange Haar zurück, das der Wind ihr ins Gesicht wehte. Marion war hübsch, aber sie könnte so viel mehr aus sich machen. Warum liess sie sich nicht in einem Schönheitsinstitut beraten? Er hatte sie so oft darum gebeten. Wenn sie sich ein bisschen zurechtmachen würde, könnte sie aussehen wie Jill. Sein Herz fing dumpf an zu schlagen, als er an Jill Förster dachte. Er hatte sie junge, attraktive Gattin eines reichen Industriellen vor zwei Monaten auf einer Geschäftsreise kennengelernt. Vor drei Wochen hatten sie sich auf einem Empfang wiedergesehen, und Jill hatte ihn gebeten, sie im Taxi nach Hause zu begleiten. Sie hatte ziemlich viel getrunken.

Sie bewohnte eine teure Villa am Stadtrand: "Mein Mann ist nicht da. Bitte, kommen Sie doch herein", forderte sie ihn mit einem Lächeln auf. Drinnen löste sie seinen Schlips und knöpfte aufreizend langsam sein Hemd auf. Ihre Finger mit den blutroten Fingernägeln strichen zärtlich über seine Brust.

"Komm", stöhnte sie.

Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück: "Aber ... Sie sind verheiratet, und ich bin es auch!"

Sie hatte gelacht: "Na und? Die beiden müssen es doch nicht erfahren?"

Es war nichts passiert. Er hatte nicht gekonnt, weil er an Marion dachte. Jill hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht. "Das nächste Mal klappt es bestimmt", hatte sie ihn getröstet. "Im Mai fahre ich für zwei Wochen in meine Ferienwohnung nach Cannes. Besuch mich doch mal dort."

Und nun war er hier. Von Saint Tropez nach Cannes war es nur ein Katzensprung mit seinem Sportwagen. Marion hatte sich diese Familienferien gewünscht, damit sie wieder etwas mehr Zeit füreinander hätten, und er hatte zugestimmt, weil er an Jill dachte. Er fühlte sich von ihr angezogen wie von einem Magneten, hatte sie schon von der Firma aus angerufen. Aber wie sollte er Marion beibringen, dass er morgen für zwei Tage nach Cannes musste?

"Papa, Papa, ich will baden", bettelte Lena.

Achim war so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er sie nicht hörte.

"Das Wasser ist vielleicht noch etwas kalt", überlegte Marion an seiner Stelle, "aber du kannst deine Schuhe ausziehen und etwas im Wasser waten."

Sie ging vor ihrer Tochter in die Hocke, zog ihr die Schuhe aus und krempelte die Jeans auf. Vergnügt lief das Kind zum Meer, liess die Wellen um seine Füsse spielen und bückte sich nach Muscheln.

"Marion", begann Achim und räusperte sich.

"Ja?" fragend sah sie ihn an.

"Ich muss morgen für zwei Tage nach Cannes."

"Nach Cannes? Warum denn das?"

"Wir haben einen Geschäftspartner dort, und es ist eine gute Gelegenheit, einige Probleme persönlich zu besprechen."

"Und ich hatte so gehofft, dass die Geschäfte hier vor der Tür bleiben." Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Das schlechte Gewissen liess ihn schroffer antworten, als er wollte: "Ich kann's nicht ändern, Herrgott noch mal! Ich nehme den Wagen, ja? Du kommst doch hier problemlos überall zu Fuss hin?"

Sie nickte resigniert, und er atmete auf. Sie hatte seine Lüge geschluckt. Aber gleichzeitig fühlte er sich zerrissen und elend.
_ _ _

Lena war auf den glatten Felsen ausgerutscht und hingefallen. Sie weinte herzzerreissend.

"Lass mich doch bitte mal sehen, was du dir getan hast", bat Marion, aber das Kind presste durch die Jeans hindurch beide Händchen auf das Knie und schüttelte den Kopf.

"Bonjour", sagte eine Männerstimme. Sie gehörte einem sympathisch aussehenden jungen Mann, der sich jetzt vor Lena niederkniete und ihr zulächelte: "Ich bin Arzt und möchte dir gern helfen. Es wäre ganz schön mutig von dir, wenn du deiner Mama und mir dein Knie zeigen würdest", sagte er auf Französisch.

Marion wollte gerade übersetzen, als Lena von ganz allein die Hände fortnahm und Marion die Jeans vorsichtig hochschieben konnte.

'Das tut weh, gell?" sagte der Mann mitfühlend. "Komm, wir gehen jetzt mit deiner Mama dort drüben zur Apotheke und lassen dir ein schönes Pflaster draufkleben, einverstanden?"

Er richtete sich auf und sah Marion an: "Es ist nicht schlimm, aber es ist besser, wenn die Wunde desinfiziert wird. Ich heisse übrigens Jean-Luc Giraud."

"Und ich Marion Hagemann, und das ist Lena."
_ _ _

"Merci", lächelte Marion, als sie wieder am Strand zurück waren.

"Gern geschehen. Sie ... Sie machen wohl hier Ferien?"

"Ja, im Augenblick bin ich allerdings allein mit Lena, mein Mann musste geschäftlich nach Cannes. Selbst in den Ferien muss er arbeiten, dabei hätte gerade er Erholung so nötig."

"Sie sprechen ein ausgezeichnetes Französisch", meinte er erfreut.

"Ich war nach der Schule ein Jahr als Au-pair-Mädchen in Paris. Meine Sprachkenntnisse konnte ich nachher sehr gut in meinem Beruf brauchen." Im Nu waren sie in ein anregendes Gespräch vertieft.
_ _ _

"Hallo" , sagte Jill erfreut und zog Achim in die Wohnung. "Da bist du ja. Komm, ich stell dich meinen Freunden vor."

Sie lachte, als sie sein Gesicht sah: "Heute Nacht sind wir ganz allein", raunte sie ihm zu. Er roch an ihrem Atem, dass sie getrunken hatte.

Sie führte ihn in den grossen, teuer eingerichteten Wohnraum: "Das ist Achim", stellte sie ihn vor. "Achim, das sind Angela, Markus und Stefan. Markus, ist noch Champagner da?" Es war erst elf Uhr vormittags, aber zwei leere Champagnerflaschen standen schon auf dem niedrigen Tisch vor der Couch.

Der junge Mann ging in die Küche und kam mit einer neuen Flasche zurück, die er geschickt öffnete. Dann schenke er ein.

Jill reichte Achim ein Glas und prostete ihm zu: "Auf schöne Stunden", meinte sie anzüglich. "Hast du deine brave Ehefrau in Saint Tropez gelassen? Hört zu", rief sie in die Runde, "es ist das erste Mal, dass Achim seinem biederen Heimchen am Herd untreu werden wird. Es ist Zeit, findet ihr nicht?"

Sie neigte sich zu ihm hinüber und flüsterte in sein Ohr: "Das heisst, wir wollen hoffen, dass du es diesmal schaffst!"

Achim lachte pflichtschuldigst mit den anderen, aber dann geschah etwas Seltsames. Er sah sich selbst da stehen. Einen Aufsteiger und Möchtegern-Casanova, der servil mitlachte, wenn sich andere über ihn - und was viel, viel schlimmer war über Marion - lustig machten. Wie kam er dazu, Marion der Spottlust dieser Leute auszusetzen? Ja, was war er denn für ein Mensch? Er stellte sein Glas so hart auf den Tisch zurück, dass der Champagner über den Rand spritzte.

"Chéri, sei vorsichtig, diese extra für uns angefertigten Gläser kosten ein kleines Vermögen", tadelte ihn Jill.

"Ich ... es ist besser, ich gehe zu meiner Ehefrau zurück und bitte sie um Verzeihung", sagte er.

"O je, schon bekommt der arme Kerl wieder Gewissensbisse", sagte Jill in kindhaftem Ton, aber Achim sah, dass sie ihren Freunden zublinzelte.

Er stand auf: "Es tut mir leid, mich so unmöglich benommen zu haben. Marion und auch dir gegenüber, Jill. Bitte, verzeih mir", sagte er, ehe er das Zimmer verliess.

In der Diele holte Jill ihn ein: "Darf ich wissen, was mit dir los ist?" fragte sie wütend. "Warum blamierst du mich derart?"

"Ich wollte dich nicht blamieren, Jill, aber seit einiger Zeit mache ich alles falsch. Es wird Zeit, dass ich mich endlich auf die wahren Werte des Lebens besinne." Er merkte selbst, dass es pedantisch klang, aber genau so fühlte er es.

"Ich hätte nicht gedacht, dass du ein solcher Langweiler bist, aber bitte schön ..."

Plötzlich begriff er, dass sie längst nicht so glücklich war, wie sie vorgab, und er sagte noch einmal: "Verzeih mir, Jill."

"Ach, schon gut", sagte sie, zuckte kurz die Schultern und versuchte zu lachen.

Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
_ _ _

Die Wohnung war leer, als er ankam. Er ging zum Strand und sah sie schon von weitem: Marion, Lena und einen fremden Mann. Als er nahe genug war, hörte er, dass der Mann etwas auf Französisch sagte und Marion ihm in derselben Sprache antwortete. Ihr Tonfall war herzlich, und beide lächelten.

Er sah Marion plötzlich so, wie der gutaussehende, dunkelhaarige Franzose sie wahrnehmen musste. Ihr blondes Haar, die weichen Konturen ihres Gesichtes, die klaren blauen Augen, die mal fröhlich, mal nachdenklich dreinschauen konnten - und ganz dunkel wurden vor Liebe, wenn er sie in den Arm nahm. Wann hatte er sie zum letzten Mal in die Arme genommen? Richtig in die Arme genommen? War es zu spät? War sie dabei, sich in diesen Mann zu verlieben?

Er verstand nicht, was sie sagten. Er konnte kein Französisch. Marion beherrschte dagegen bewundernswert diese schwierige Sprache. Wie hatte er nur glauben können, dass sie nicht mit ihm Schritt halten konnte? Das Gegenteil war der Fall. Sie war die Stärkere von beiden. Die Ausgeglichenere, die sich nicht von Geld und Erfolg blenden liess, der die Herzen der Menschen wichtiger waren als alle Kreditkarten der Welt.

Statt auf Marion zu hören, hatte er sie ständig kritisiert. Wie hatte er nur wünschen können, dass Marion Jill ähnelte? War eine Frau wie Jill zu Liebe fähig? Zu wahrer Liebe? Und dieser Franzose, der sie nicht aus den Augen liess!

Auch Lena schien ihn zu mögen. Immer wieder lief sie zu ihm, zeigte ihm die Muscheln oder Seeigel, die sie gefunden hatte. Er sah sie sich genau an, bewunderte sie und sagte ihr die Wörter auf Französisch: Coquillage. Oursin. Lena wiederholte sie eifrig und kugelte sich vor Lachen.

So fröhlich hatte er seine kleine Tochter schon lange nicht mehr erlebt. Aber wann hatte er auch zum letzten Mal mit ihr gespielt? Oder ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen? Oder ihr auch nur zugehört?

"Marion, Lena!" rief er rauh.

Lena sah kurz hinüber, wandte sich aber rasch wieder dem Fremden zu: "Wie heisst das?" fragte sie eifrig und zeigte ihm einen Kieselstein.

"Caillou", lächelte dieser.

Lenas Gleichgültigkeit schnitt Achim ins Herz.

Auch Marion hatte sich umgewandt. Sie stand auf, ging auf ihn zu und fragte überrascht: "Du bist schon zurück?"

Er holte tief Atem: "Ich habe mich geirrt", sagte er hilflos. "Ich bitte dich um Verzeihung. Es war ... es war gar nicht geschäftlich."

Sie lächelte: "Warst du bei Jill?"

Er glaube, ohnmächtig zu werden. "Woher ... woher weisst du von Jill?"

"Du hast mich neulich aus Versehen Jill genannt, als du schon fast eingeschlafen warst", antwortete sie leise.

"Ja, ich war bei Jill", sagte er niedergeschmettert. "Ich habe sie vor zwei Monaten zum ersten Mal gesehen, und zwischen uns ist nichts passiert. Ich weiss, es ist keine Entschuldigung, denn ich konnte einfach nicht, und jetzt ..."

"Und jetzt?" fragte sie ernst.

"Jetzt auch nicht. Weil ich merkte, dass ich dabei war, mich zu verlieren, und damit auch dich, Marion! Wenn du mir verzeihen kannst, könnten wir dann vielleicht von vorn anfangen?"

"Das ist nicht möglich", sagte sie.

"Du willst ... dich scheiden lassen?"

"Nein", erwiderte sie zärtlich, "aber es ist besser, die Lehre aus dem zu ziehen, was schiefgegangen ist. Ich habe sicher auch etwas falsch gemacht. Ich könnte mir mehr Mühe geben, auf deine Wünsche eingehen."

"Auf welche Wünsche?"

"Du weisst schon, mich besser anziehen und zurechtmachen, damit du stolz sein kannst auf mich."

Er wurde rot. "Bitte, Marion, bleib, wie du bist. Ich war ein Esel, als ich dich ändern wollte."

"Ist das dein Ernst?"

"Mein voller Ernst. Ich war es, der plötzlich überschnappte. Und das ist sehr milde ausgedrückt. Ich werde dir alles noch ausführlicher erzählen. Wer ist dieser Mann?"

"Jean-Luc, ein französischer Arzt. Lena ist vorhin hingefallen, und er hat uns geholfen. Sie hat den kleinen Kratzer schon vergessen. Er ist Witwer. Seine Frau und sein Kind, das heute so alt wäre wie Lena, sind vor einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen."

Der Franzose sah jetzt zu ihnen hinüber. Er stupste Lena an und zeigte auf ihre Eltern.

Achim ging in die Hocke, und plötzlich rannte Lena auf ihn zu und warf sich in seine Arme: "Meine kleine Lena, mein Liebling", sagte er erstickt und drückte sie an sich.

Als Marion sich nach dem Franzosen umschaute, schlenderte er schon davon. "Adieu, Jean-Luc", flüsterte sie und sah der einsamen Gestalt nach, die sich entfernte.

"So ist das Leben", hatte er ihr gesagt, als sie ihm von ihrer Ehekrise erzählte. "Und man muss alles mitnehmen, auch das Schwierige. Es ist dazu da, um überwunden zu werden."

"Merci", sagte sie leise, und plötzlich wusste sie, dass alles gut werden würde. Die Ferien hatten gerade erst begonnen ...

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 4. April 2013
Die komplizierten Wege der Liebe
Es war Liebe auf den ersten Blick. Zu Luises Kummer leider nur einseitig. Auch ein Heiratsantrag ihres Jugendfreundes Bastian kann sie nicht trösten ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Luise parkte ihren Wagen in der Tiefgarage und lehnte mit geschlossenen Augen ihren Kopf zurück. Sie war todmüde und gleichzeitig waren ihre Nerven zum Zerreissen angespannt. In der Immobilienagentur, in der sie arbeitete, war heute der Teufel losgewesen. Schwierige Kunden, arrogante Hausbesitzer, geplatzte Termine ... Sie liebte ihren Job. Gegen die gewöhnliche Hektik war auch nichts einzuwenden, sie mochte es, wenn es rund ging, aber an Tagen wie diesem, wenn nichts richtig lief, träumte sie von einem Achtstundentag in irgendeinem ruhigen Büro.

Es klopfte leise ans geschlossene Fenster. Als sie aufsah, beugte sich ein Mann zu ihr hinunter, den sie noch nie gesehen hatte.

"Geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen helfen?" Seine Stimme war angenehm tief und klang besorgt.

Hastig stieg sie aus, warf die Tür zu und lächelte etwas verlegen: "Danke, es ist nichts. Ich fühle mich nur geschlaucht von meinem Arbeitstag."

Sofort nahm sein Gesicht nur noch einen höflichen Ausdruck an: "Entschuldigen Sie, ich hätte Sie also lieber in Ruhe lassen sollen." Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: "Aber jetzt kann ich mich auch gleich vorstellen: Ich heisse Carl Eberts und bin gestern hier ins Haus gezogen."

"Ach, dann sind Sie also mein neuer Nachbar. Ich heisse Luise. Luise Grothe." Spontan streckte sie ihm die Hand hin.

Gemeinsam gingen sie zum Fahrstuhl, der ausnahmsweise unten hielt. Und irgendwann auf der Fahrt in den sechsten Stock passierte es. Luise sah ihn aufmerksamer an. Der Mann mochte etwa dreissig sein, er war hochgewachsen und breitschultrig, hatte ein sensibles und trotzdem sehr männlich wirkendes Gesicht. Nun sah auch er sie an. Seine Augen waren sehr blau, und obwohl er immer noch eher zurückhaltend dreinschaute, durchfuhr es Luise heiss von Kopf bis Fuss. So ist das also, dachte sie fassungslos, wenn man sich auf den ersten Blick verliebt. Eine völlig verrückte Sache. Und scheinbar absolut einseitig. Jedenfalls sah ihr Gegenüber nicht so aus, als wäre ihm etwas Ähnliches widerfahren.

Oben verabschiedete er sich mit einem kurzen Kopfnicken von ihr, und sie schloss mit immer noch weichen Knien ihre Wohnungstür auf. Im selben Augenblick trillerte ihr Handy.

Es war Bastian: "Hallo Luise, ich wollte dir nur sagen, dass du bitte noch nicht essen sollst. Ich komme und bringe alles mit!"

Er legte auf, ehe sie antworten konnte, hatte nicht einmal gefragt, ob es ihr passte. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Obwohl sie sich immer freute, Bastian zu sehen, wäre sie heute tatsächlich lieber allein gewesen, hätte sich gern in einem warmen Schaumbad entspannt und es sich nachher mit einem Tablett in der Sofaecke bequem gemacht, um von Carl Eberts zu träumen ...
_ _ _

Bastian kam zehn Minuten später, wie angekündigt mit einer grossen Tüte. Nachdem er Luise herzlich auf beide Wangen geküsst hatte, befahl er liebevoll-streng: "Setz dich aufs Sofa und ruh dich aus. Du siehst aus, als hättest du es nötig."

Sie gehorchte lächelnd. Bastian und sie kannten sich seit ihrer Schulzeit. Er war der beste Freund, den sie sich vorstellen konnte, der Bruder, den sie nicht hatte. Sie beschloss, ihm nachher von ihrem neuen Nachbarn zu erzählen, und von dem, was ihr passiert war. Aber erst einmal sah sie träge zu, wie er ihnen beiden einen Drink mixte.

Das Glas in der Hand, bewunderte sie seine geschickte Art, den runden Tisch festlich mit ihrem besten Geschirr, den Kristallgläsern und dem dreiarmigen Leuchter zu decken. Anschliessend verschwand er in der Küche, kam mit drei hübsch angerichteten Platten zurück. Nachdem er noch einen Korb mit verschiedenen Brotsorten und den Edelstahlkübel mit einer Champagnerflasche geholt hatte, zündete er die Kerzen an, betrachtete kritisch sein Werk und verbeugte sich in ihre Richtung: "Madame, es ist serviert!"

"Ist heute etwas Besonderes los?" fragte sie verwundert. Wortlos rückte er ihr den Stuhl zurecht, wartete, bis sie sass und schenkte Champagner ein.

"Ich komme mir vor wie in einem Dreisterne-Hotel", sagte sie gerührt.

"Kein Wunder, da arbeite ich ja auch", grinste er. Dann wurde er ernst, sah ihr tief in die Augen und hob das Glas: "Ich liebe dich, Luise. Bitte, heirate mich!"

Sie brachte keinen Ton heraus. Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht! Sie waren doch immer nur gute Kamaraden gewesen. Wann war auf seiner Seite Liebe daraus geworden?

Er gab ihr ungefragt die Antwort darauf: "Ach, Luise, ich liebe dich seit langem, aber du schienst nur immer einen guten Freund in mir zu sehen. Und jetzt habe ich beschlossen, dich einfach zu fragen. Wie soll ich sonst wissen, ob du vielleicht nicht doch meine Gefühle erwiderst?" Flehend sah er sie an.

Sie dachte, dass Bastian ein wundervoller Ehemann sein würde. Er war lieb, rücksichtsvoll und absolut zuverlässig. Mit ihren 28 Jahren sehnte sie sich danach, eine Familie zu gründen. Gestern hätte sie vielleicht noch geglaubt, seine Liebe erwidern zu können. Sie hätte es für möglich gehalten, dass eine Ehe, die einem ruhigen Hafen glich, sie glücklich machen würde. Heute konnte sie es nicht mehr. Sie war Carl Eberts begegnet. Ihr Herz gehörte ihm, selbst wenn er es vielleicht gar nicht haben wollte.

"Bastian", sagte sie und hoffte, ihm nicht allzu sehr weh zu tun: "Es tut mit schrecklich leid, wirklich, aber ich kann deine Liebe nicht erwidern."

"Es kommt vielleicht etwas zu schnell", meinte er unglücklich und hielt ihr die Platte mit dem Lachs hin, damit sie sich nahm. "Ich bin blöd, derart mit der Tür ins Haus gefallen zu sein. Das musste dich ja erschrecken. Aber ich kann warten, Luise. Vielleicht überlegst du es dir ja noch?"

"Nein", erwiderte sie behutsam. "Ich ... ich habe mich nämlich heute verliebt."

Er wurde ganz blass: "In wen? Ist es ... ernst?"

"Sehr", nickte sie. "Auf meiner Seite, wenigstens. Auf seiner, das weiss ich nicht. Er heisst Carl Eberts und ist mein neuer Nachbar."

"Du liebst ihn und weisst, nicht, ob er deine Gefühle erwidert?"

"Genau", nickte sie.

"Dir geht es also so, wie es mir mit dir ging", seufzte er halb komisch, halb traurig. "Warum ist die Liebe bloss so kompliziert?"

Sie dachte, dass das vielleicht gerade ihren Reiz ausmachte, obwohl es zugegebenerweise sehr schmerzhaft sein konnte. "Sag, Bastian", bat sie leise, "wir bleiben doch Freunde?"

"Selbstverständlich. Du kannst immer auf mich zählen."

"Danke, Bastian", sagte sie warm. "Deine Freundschaft ist mir nämlich sehr wichtig."

"Mach dir keine Sorgen. Tu so, als hätte ich nichts gesagt. Wie findest du den Lachs?"

"Himmlisch", sagte sie und lächelte ihm erleichtert zu.
_ _ _

Bastian hielt sein Versprechen. Er kam nicht auf sein Liebesgeständnis zurück. Alles blieb scheinbar beim Alten. Was Carl anging, leider auch. Luise begegnete ihm ab und zu im Flur oder in der Tiefgarage. Sie hatte inzwischen herausbekommen, dass er Architekt war und sich vor kurzem selbstständig gemacht hatte. Jedesmal schlug ihr Herz wie verrückt, während tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten. Ihr Schwarm grüsste jedesmal höflich, schien aber nicht die geringste Ahnung zu haben, welchen Gefühlsaufruhr er in ihr auslöste. Es war zum Verzweifeln, fand Luise. Wie gut verstand sie jetzt Bastian!

Eines Abends, als sie nach Hause kam, schloss Carl gerade seine Wohnungstür auf. Er war nicht allein. Eine unglaublich attraktive junge Frau begleitete ihn. Er lächelte Luise zu, was er sonst kaum einmal tat, aber sie sagte sich gleich kummervoll, dass sein Lächeln natürlich nicht ihr galt. Er lächelte, weil er glücklich war. Sie grüsste zurück, nickte auch seiner Begleiterin zu und machte sich mit zentnerschwerem Herzen an ihrer eigenen Tür zu schaffen, die sie schnell hinter sich schloss. "Blödes Huhn", schimpfte sie dabei mit sich selbst, "was hast du denn gedacht? Dass ein Mann wie Carl allein ist? Dass er sich ausgerechnet in dich verliebt?"

Verzweifelt starrte sie in den Dielenspiegel. Was hatte sie schon zu bieten, verglichen mit dieser Traumkreatur mit den endlos langen Beinen, den grünen Augen und den kunstvoll gelockten tizianroten Haaren? Es gab Tage, da fand sie sich durchaus hübsch, zumindest apart, aber jetzt kam sie sich vor wie eine graue Maus. Seufzend betrachtete sie ihr glattes blondes Haar, ihre blauen Augen, die ihr viel zu klein vorkamen, im Gegensatz zu ihrem Mund, der entschieden zu gross geraten war. Und dann ihre Nase! Solche Nasen wirkten doch höchstens bei kleinen Mädchen niedlich, dachte sie.

Als es klingelte, war sie richtig erleichtert.

"Ich bin's, Bastian", tönte es aus der Sprechanlage. "Darf ich raufkommen?"

"Aber natürlich!"

Als er gross und solide gebaut vor ihr stand, kam er ihr vor wie ein Fels in der Brandung. Selten war sie so froh gewesen, ihn zu sehen.

"Wie geht's dir?" fragte er munter und küsste sie wie gewohnt auf beide Wangen.

"Gut", log sie. Aus Rücksicht auf Bastian, weil er so gut gelaunt schien, aber auch, weil die Enttäuschung noch zu frisch war und sie noch nicht darüber sprechen konnte. Vielleicht nachher, sie würde sehen ...

"Möchtest du zum Essen bleiben?" fragte sie.

"Was hast du denn da?"

Sie öffnete den Kühlschrank: "Nicht viel", gestand sie kleinlaut. "Ich hatte mal wieder keine Zeit zum Einkaufen."

"Komm, ich lade dich ins Restaurant ein", sagte er.

Sie sassen sich beim Italiener gegenüber. Bastian war plötzlich schweigsam geworden, wirkte bedrückt. Gleichzeitig kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ihn schon eine ganze Weile nicht gesehen hatte.

"Es ist doch alles in Ordnung, Bastian?" fragte sie besorgt.

Er nickte und lächelte unwillkürlich: "Sehr gut sogar. Ich weiss nur nicht so recht, wie ich es dir sagen soll. Also Luise, ich ... ich werde heiraten."

Das war nun heute schon der zweite Schock. Und es tat viel weher, als sie gedacht hatte. Weil sie Bastian gerade jetzt so nötig brauchte. Aber sie schämte sich sofort, derart egoistisch zu sein. Sie lächelte ihm zu und antwortete herzlich: "Ich freu mich so für dich. Wer ist es denn? Seit wann kennst du sie? Du musst mir alles erzählen!"

Vor lauter Erleichterung strahlte er jetzt wie ein Honigkuchenpferd: "Sie heisst Anette, und ich habe sie bei Freunden kennengelernt. Einen Monat, nachdem du mir gesagt hast, dass du mich nicht heiraten willst. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich mich in eine andere Frau verlieben könnte! Anette ist im Hotelfach, wie ich. Ach Luise, ich wusste gar nicht, dass man so glücklich sein kann!"

Nachher im Bett überkam sie von neuem der Katzenjammer. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so grässlich gefühlt. Carl war anderweitig verliebt, und jetzt heiratete auch noch Bastian, ihr treuester Freund. Sie fühlte sich einsam, verschmäht, im Stich gelassen. Am liebsten hätte sie sich in den Kissen vergraben und geheult. Aber wieder rief sie sich streng zur Ordnung. Was sollte dieses Selbstmitleid? Wo blieb ihr Stolz? Ihr Mitgefühl? Gönnte sie etwa Bastian und Carl nicht ihr Glück? Es gab Menschen, denen es schlechter ging als ihr. Viel schlechter. Sie musste relativieren. Sie hatte eine hübsche Wohnung, in der sie sich wohl fühlte, eine interessante Arbeit, die sie liebte. War das etwa nichts?

Sie lud Bastian und seine Anette gleich am übernächsten Tag zum Essen ein, und es wurde ein fröhlicher Abend. Sie fand die hübsche junge Frau auf Anhieb sympathisch und freute sich für die beiden, die sichtlich sehr verliebt waren. Sie hatte gefürchtet, einen Freund zu verlieren, statt dessen hatte sie eine neue Freundin dazugewonnen.

Eine Woche später traf sie Carl in der Tiefgarage. Als sie zusammen im Fahrstuhl hochfuhren, fasste sie sich ein Herz: "Ich habe neulich Ihre Freundin bewundert. Sie könnte ein Top-Model sein, so gut sieht sie aus."

"Iris?" Er sah sie nachdenklich an, und sie fühlte, wie sie puterrot wurde.

"Wir waren zwei Jahre befreundet", brach es plötzlich aus ihm heraus. "Ich habe sie vergöttert, aber sie hat mich eines anderen Mannes wegen verlassen. Ein halbes Jahr bin ich in unserer gemeinsamen Wohnung geblieben, in der Hoffnung, dass sie zurückkommen würde. Eine halbleere Wohnung - Iris hatte ihre Sachen mitgenommen - ist etwas entsetzlich deprimierendes. Haben Sie das einmal mitgemacht? Entschuldigen Sie, natürlich wünsche ich es Ihnen nicht. Dann bin ich hierhergezogen. Als Sie Iris gesehen haben, hatten wir uns zufällig in der Stadt getroffen. Iris wollte unbedingt mitkommen, um meine neue Wohnung kennenzulernen." Er schwieg abrupt.

"Und?" hakte sie leise nach. Sicher hatten sie sich wieder versöhnt. Sie wollte es ihm wenigstens wünschen.

"Ach, ich langweile Sie doch bestimmt ...", sein Gesicht hatte sich wieder verschlossen.

"Aber nein", protestierte sie, "ganz bestimmt nicht. Erzählen Sie bitte weiter." Aber dann dachte sie bedrückt, dass er sie vielleicht neugierig fand und fügte hastig hinzu: "Natürlich nur, wenn Sie möchten."

Sie standen jetzt oben im Flur, aber er konnte sich offensichtlich nicht entschliessen, in seine Wohnung zu gehen. Zögernd meinte er: "Ich weiss nicht, warum es so gut tut, mir gerade bei Ihnen alles von der Seele zu reden. Also, Iris wollte zu mir zurückkommen, mit ihrem neuen Freund war nämlich alles schiefgegangen. Sie weinte. Noch vor einem halben Jahr wäre ich vor Mitleid und Liebe geschmolzen, aber irgend etwas hatte sich verändert. Plötzlich spürte ich genau, dass sie ihre Tränen nur als Druckmittel einsetzte. Als ich es ihr sagte, ist sie wütend geworden. Sie hat mich einen herzlosen Mistkerl geschimpft und versucht, mich mit meiner Lieblingsvase zu treffen. Dann ist sie gegangen."

Luise nahm ihren ganzen Mut zusammen: "Möchten Sie nicht zu einem Aperitif hereinkommen?"

Er zögerte, folgte ihr aber dann doch in ihre Wohnung.

"Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Zumal Sie doch einen Freund haben."

"Welchen Freund?" fragte sie, dann ging ihr ein Licht auf: "Sie meinen Bastian! Er ist ein sehr guter Freund, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Wir kennen uns seit ewigen Zeiten. Übrigens heiratet er bald."

Endlich ging ein Lächeln über Carls Gesicht. In völlig verändertem Ton sagte er: "Mir fällt ein Felsbrocken vom Herzen. Sie müssen mich für wahnsinnig begriffsstutzig halten, aber erst als ich Iris wiedersah, ist mir klargeworden, wie anders Sie sind. Sie sind so erfrischend natürlich, so ungekünstelt und herzlich. Und trotzdem schön. Ich ..."

Seine Augen waren so blau wie der Sommerhimmel, als er schloss: "Luise, ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt."

Das Glück, das sie überflutete, verschlug ihr schier die Sprache.

"Sagen Sie doch etwas", bat er. "Vielleicht finden Sie mich lächerlich?"

Ihn lächerlich finden? Wenn er wüsste! Weil sie immer noch einen ganz ungewohnten Kloss im Hals hatte, sah sie nur zärtlich zu ihrem Traummann auf, und er brauchte sich nur ein wenig zu bücken, damit ihre Lippen sich zum schönsten Kuss ihres Lebens trafen ...

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 30. März 2013
Nicht nur einen Sommer lang
Janne Groth hat in der Toskana ein altes Steinhaus gemietet, um Bilder für ihre nächste Ausstellung zu malen. Verwundert stellt sie fest, dass es noch einen weiteren Gast gibt: Lothar Remitz ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Janne Groth freute sich darauf, nach einem Tag im Freien in das alte Steinhaus in den Hügeln der Toskana zurückzukommen, das sie für den ganzen Juli gemietet hatte. Hinten in ihrem Kombi befand sich ihr erstes Bild: ein Weingarten in den Chiantibergen. Sie fuhr auf die untergehende Sonne zu, die wie ein orangenfarbener Feuerball zwischen den Kiefern hing. Ihr Herz wurde weit vor so viel Schönheit. Sie bremste, bog in die Zypressenallee ein, die zum Haus führte - und sah befremdet, dass ein anderer Wagen mit deutschem Kennzeichen auf ihrem gewohnten Platz stand. Ein hochgewachsener Mann im sommerlich hellen Anzug wollte gerade die Tür aufschliessen.

"Halt", protestierte Janne und sprang aus dem Wagen. "Was machen Sie hier?"

Er drehte sich um: "Ich habe das Haus gemietet."

Janne schätzte den Mann mit den leicht angegrauten Schläfen auf Anfang vierzig. Er musterte sie jetzt aufmerksam aus blauen Augen.

"Das ist nicht möglich", erwiderte sie stirnrunzelnd. "Ich war gestern bei Signor Brunelli in Siena, und er hat mir den Schlüssel ausgehändigt. Ich habe für den ganzen Monat bezahlt."

"Ich auch. Ich war gerade eben da, und mir hat er auch einen Schlüssel gegeben." Er zeigte ihn vor.

Sie sahen sich ratlos an, dann überlegte der Mann: "Signor Brunelli ist alt, wahrscheinlich bringt er schon alles durcheinander."

"Er ist alt, aber er war auch schon immer ein Schlitzohr. Jedenfalls vermietet er diese Bruchbude zu Palastpreisen, und jetzt sogar doppelt." Nachdenklich fügte sie hinzu: "Trotzdem kann ich nirgends so gut malen wie hier. Es ist das dritte Mal, dass ich hierher komme."

"Bei mir ist es das vierte Mal. Ich komme immer, wenn ich Ruhe zum Schreiben brauche. Hier gibt es kein Telefon, keinen ungebetenen Besuch ..."

"Keinen Strom, kein fliessendes Wasser", lachte sie.

"Ja, hier schreibe ich mit der Hand, aber das gefällt mir gut. Und vor allem: ich kann nachdenken."

Um Zeit zu gewinnen, schlug sie vor: "Warten Sie, ich hole uns etwas zu trinken."

Als sie mit der Chiantiflasche und zwei Gläsern aus dem Haus kam, nahm er ihr das Tablett ab und stellte es auf den grob gezimmerten Tisch unter dem verwilderten Feigenbaum. Sie setzten sich auf die morsche Bank, und er schenkte ein. "Hier sitze ich immer am liebsten", bemerkte er.

"Ich auch", bestätigte sie.

"Übrigens, ich heisse Lothar Remitz."

"Und ich Janne Groth."

Sie tranken schweigend, dann fragte Lothar: "Ja, Frau Groth, was machen wir jetzt?"

"Ich weiss nicht", zögerte sie. "Sie scheinen genauso Anrecht auf dieses Haus zu haben wie ich, aber ..."

Er unterbrach sie: "Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Ich ziehe in das kleine Zimmer im oberen Stock. Da kann ich auch mal nachts arbeiten, ohne Sie zu stören. Den unteren Teil des Hauses überlasse ich Ihnen. Sie werden kaum etwas von mir bemerken. Ich werde nicht einmal hier kochen", versprach er. "Das letzte Mal habe ich eine kleine Albergo in der Nähe entdeckt, in der man ausgezeichnet speist."

"Also gut, einverstanden", sagte sie kurz entschlossen. "Natürlich zahlen Sie in diesem Fall weniger als ich, und auf alle Fälle werden wir uns vom guten Signor Brunelli das zuviel bezahlte Geld zurückgeben lassen, okay?"

Sie tranken einen Schluck Chianti darauf.
_ _ _

Lothar Remitz hatte nicht zuviel versprochen. Janne bekam ihn kaum zu Gesicht. Sie stand früher auf als er, frühstückte rasch und bestieg dann ihren mit Malutensilien beladenen Kombi, um sich eine neue Ecke zum Malen auszusuchen. Wenn sie abends zurück kam und ihre Tagesproduktion auslud, war das Haus still. Nicht lange, denn wenn sie für sich auf dem kleinen Gaskocher das Abendessen zubereitete, kam er die wackelige Holztreppe hinunter, grüsste höflich und verschwand durch die offene Tür nach draussen, ohne auch nur einmal Notiz von ihren Bildern zu nehmen, die zum Trocknen an der Wand lehnten.

Einen Augenblick später hörte Janne dann sich entfernendes Motorengeräusch. Er fuhr zum Essen in seine Albergo.

Später sass sie mit ihrer Mahlzeit draussen am Holztisch und ärgerte sich über sich selbst. Statt froh zu sein über die geradezu vorbildliche Diskretion dieses Mannes, stellte sie fest, dass ihre Gedanken sich von Tag zu Tag mehr mit ihm beschäftigten.

Als sie Tage später am Spätnachmittag zurückkam und in die Zypressenallee einbog, sah sie einen zweiten Wagen mit deutschen Kennzeichen vor dem Haus stehen. Besuch für Lothar?

Richtig. Sie hörte eine weibliche Stimme oben. Lothar lachte.

Schritte näherten sich, und sie blickte unwillkürlich zur Treppe. Zuerst sah sie zwei schlanke, wohlgeformte Beine, dann einen frechen kurzen Rock. Das Ganze entpuppte sich als eine bezaubernde junge Frau.

Das Bild, das Janne gemalt hatte, lehnte zum Trocknen an der Wand. Die junge Frau blieb stehen und betrachtete es eingehend.

"Dieses Bild ist wundervoll. Sieh doch nur, Lothar!" sagte sie. Dann wandte sie sich Janne zu und streckte ihr spontan die Hand entgegen: "Hallo, ich bin Larissa."

Janne ergriff die Hand: "Ich heisse Janne", stellte sie sich ebenfalls vor.

"Komm, Larissa", sagte Lothar eilig, und er entschuldigte sich bei Janne: "Lassen Sie sich nicht stören, Frau Groth."

Rasch zog er die junge Frau mit sich fort, und draussen legte er zärtlich den Arm um ihre Schulter. Sie fuhren in seinem Wagen davon.

Jannes Herz zog sich heftiger zusammen, als sie vermutet hätte. Diese Frau schien Lothar viel zu bedeuten.

Wieso hatte sie überhaupt angenommen, dass Lothar allein war? Ein Mann, der so aussah wie er, war nicht allein!

Als sie am nächsten Spätnachmittag von ihrem langen Maltag zurück kam, stand sein Auto wieder da. Allein.

Kurz darauf kam er die Treppe hinunter: "Ich hoffe, Sie haben sich keine Sorgen gemacht, Frau Groth. Larissa und ich haben uns gestern ein Hotelzimmer in Siena genommen, weil wir Sie nicht stören wollten. Sie ist jetzt nach München zurückgefahren." Er sah ihr neues Bild an und meinte zögernd: "Larissa findet Ihre Bilder sehr schön."

"Das freut mich", antwortete sie und fragte dann mutig: "Und Sie?"

"Leider verstehe ich nicht genug von der Malerei, um mir ein Urteil erlauben zu können. Larissa dagegen studiert Kunstgeschichte."

"Ich male doch nicht nur für Fachleute", protestierte sie. "Sie können es mir ruhig sagen, wenn Ihnen meine Bilder nicht gefallen."

"Sie gefallen mir im Gegenteil sehr. Übrigens hat Larissa mich regelrecht nach Ihnen ausgefragt und es unmöglich gefunden, dass ich kaum etwas über Sie weiss."

"Tatsächlich?" erwiderte sie vorsichtig.

Er fuhr fort: "Ich folge jetzt dem dringenden Rat meiner Tochter und lade Sie zum Abendessen in meine Albergo ein." Verlegen fügte er hinzu: "Wenn Sie Lust haben, natürlich."

Larissa war seine Tochter? Janne war im ersten Augenblick unbeschreiblich erleichtert. Aber gleich darauf sagte sie sich, dass zu einer Tochter eine Mutter gehörte. Wie stand Lothar zu Larissas Mutter? Verheiratet? Geschieden?

Er missverstand ihr Schweigen und fügte hinzu: "Es ist natürlich nicht nur Larissas wegen. Auch ich möchte gern mehr über Sie wissen."

Endlich lächelte sie ihm zu und meinte freimütig: "Ich wünsche mir auch schon seit langem, dass wir uns einmal richtig miteinander unterhalten. Ich ziehe mich nur schnell um, und dann fahren wir los."
_ _ _

Sie sassen auf der Terrasse der Albergo. Janne hatte ihr dunkles Haar locker im Nacken zusammengebunden und trug das Sommerkleid, das sie kurz vor ihrer Abreise im Schaufenster einer Boutike bewundert und kurz entschlossen gekauft hatte. Sie war froh, es im letzten Moment mit eingepackt zu haben.

"Wie kommen Sie zu Ihrer bildschönen Tochter?" wollte sie wissen.

"Wie fast alle Menschen war ich verheiratet."

"War?"

"Ja. Weil ich zu viel über meinen historischen Büchern hockte, habe ich meine Frau an einen anderen verloren. Damals tat das sehr weh. Heute verstehe ich das besser. Leider habe ich meine Tochter erst entdeckt, als es fast schon zu spät war. Und das auch nur, weil sie eines Tages zu mir kam und nicht eher ging, als bis wir uns auseinandergesetzt hatten."

"Das war sehr klug von ihr. Sie nennt Sie aber beim Vornamen?"

"Sie sagt, dass ich eher ein Freund als ein Vater bin. Ja, die Gelegenheit, ihr Vater zu sein, habe ich wohl endgültig verpasst." Er sah etwas traurig aus, aber dann ging ein Lächeln über sein Gesicht: "Immerhin sagt sie, dass sie sich keinen besseren Freund wünschen könnte. Sie war in Ravenna und Florenz, und hat mir auf der Rückfahrt einen kleinen Überraschungsbesuch abgestattet. Sie wusste, dass ich hier bin, aber natürlich nichts von der doppelten Vermietung und Ihrer Anwesenheit."

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Und Sie, Janne? Gibt es jemanden in Ihrem Leben?"

"Nicht mehr seit drei Jahren. Ich habe mich immer in Taugenichtse verliebt und mir geschworen, dass damit Schluss sein würde. Ich bin jetzt 37. Beruflich habe ich mein Auskommen, meine Bilder verkaufen sich gut, aber ich bin allein."

"Janne", sagte er plötzlich, "ich habe mich vom ersten Tag an in Sie verliebt, aber ich hatte Angst, dass Sie mich zurückweisen könnten. Sie sind so schön."

Ein warmes Glücksgefühl überflutete sie. "Ich habe ja auch längst gemerkt, dass Sie ... dass du mir nicht gleichgültig bist, Lothar. Übrigens mag ich deine Tochter sehr." Fast hätte sie ihm von ihrem Irrtum erzählt, beschloss aber, das für später aufzuheben.

Am nächsten Tag fuhren sie nach Siena und besuchten Signor Brunelli, um das Problem mit dem doppelten Scheck zu lösen. Er kratzte sich den Kopf, betrachtete Lothar und Janne, denen das Glück aus den Augen sprach, und schlug ihnen vor, doch einfach einen Monat länger zu bleiben.

"Ich glaube, nur wir sind so verrückt, um das Haus zu diesen Preisen zu mieten", lachte Janne, als sie auf der Piazza del Campo zu Mittag assen.

"Es ist eben ein Glückshaus", sagte Lothar und gab ihr einen zärtlichen Kuss...

ENDE

... link (2 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 28. März 2013
Sophie - geschieden und glücklich?
Nach aussen hin ist Sophie, seit kurzem geschieden, eine glückliche Frau, die sich problemlos in ihr neues Leben hineingefunden hat. Aber in ihrem Inneren sieht es anders aus ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

"Sophie, Liebes, Paul und ich geben zu unserem 25. Geschäftsjubiläum eine Riesenparty, zu der du herzlich eingeladen bist. Dein Ex-Ehemann Arno wird auch da sein, natürlich mit seiner neuen Frau Beatrice. Das ist doch kein Problem für dich? Es ging leider nicht anders - bei den engen geschäftlichen Beziehungen, die Paul und Arno miteinander haben."

Sophie hielt den Hörer etwas vom Ohr ab, denn Nicole hatte eine durchdringende Stimme. Resolut fuhr ihre Freundin auch schon fort: "Zeig es einfach diesem Kerl, wie gut du ohne ihn zurechtkommst." Und flüsternd fügte sie hinzu: "Du, ich hab eine Überraschung für dich. Einen tollen Mann, den ich dir vorstellen möchte ..."

Hier gelang es Sophie endlich, sie zu unterbrechen: "Versuch nicht wieder, mich zu verkuppeln. Mit Männern hab ich nichts mehr im Sinn!"

"Ach was", lachte Nicole. "Mit 44 Jahren ist man noch nicht jenseits von Gut und Böse. Sieh ihn dir wenigstens an. Ausserdem möchte ich doch nur, dass du dich gut unterhältst, und er ist ein erstklassiger Unterhalter. Weisst du übrigens, dass du dich sehr zu deinem Vorteil verändert hast? Ich kann's dir ja ruhig sagen, nicht wahr? Früher fand ich dich ein bisschen zu hausmütterchenhaft, zu ... bieder. Du hattest auch mindestens 10 Pfund zuviel auf den Rippen. Aber das ist ja jetzt alles runter. Du siehst grossartig aus, Liebes!"

Ja, sie hatte abgenommen, aber nicht mit Absicht. Es war der Kummer gewesen. Sophie fühlte sich unbehaglich. Ihr war bewusst, dass sie ihren Freunden und Bekannten eine Kommödie vorspielte. Die Kommödie der "glücklich geschiedenen Frau", die sich problemlos in ihr neues Leben hineinfindet. Mitleid hätte sie nicht ertragen.

Bezeichnenderweise war ihr auch alles gelungen. Zumindest nach aussen hin. Sie hatte sich in Rekordzeit eine Existenz aufgebaut, indem sie Leuten, die den Sprung in die Selbstständigkeit wagen wollten, bei der Unternehmensgründung half.

Aber in ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Da herrschten immer noch Schmerz, Ratlosigkeit und Wut. Arno und sie waren 22 Jahre verheiratet gewesen. Sophie hatte beim Aufbau seiner Firma mitgeholfen, war in den ersten schwierigen Jahren und auch später stets an seiner Seite gewesen. Zusammen hatten sie zwei Söhne aufgezogen, auf die sie stolz sein konnten.

Doch plötzlich zählte das alles nicht mehr. Weil er Beatrice begegnet war. Beatrice war jung und schön, sie bewegte sich absolut sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett und in den Kreisen, die für Arnos neue politischen Ambitionen wichtig waren. Beatrice war die Frau, die er jetzt an seiner Seite brauchte, hatte er Sophie unverblümt erklärt. Er hatte einen befreundeten Anwalt mit der Scheidung beauftragt und war in materieller Hinsicht daraus als Gewinner hervorgegangen.

"Sophie, bist du noch am Apparat?"

"Natürlich."

"Du kommst also zu unserer Party", bestimmte Nicole. "Unbedingt!"

"Gut", gab sich Sophie geschlagen.
_ _ _

Sie hatte sich für die Party besonders sorgfältig zurechtgemacht, und als sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, stellte sie fest, dass Nicole recht hatte: Ja, sie konnte sich durchaus sehen lassen. Ihr Haar war voll und seidig, die Augen glänzten, und ihre Figur war mädchenhaft schlank.

In der kiesbedeckten Einfahrt parkten schon viele Autos. Je näher Sophie der Eingangstür kam, desto grösser wurde der Druck in ihrer Brust. Auf einmal wusste sie, dass sie sich der Begegnung mit Arno und Beatrice nicht gewachsen fühlte. Zu viele Wunden würden wieder aufbrechen. Und warum sollte sie sich das eigentlich antun?

Abrupt drehte sie sich um - und prallte gegen einen Mann, der rasch zugriff um sie vorm Hinfallen zu bewahren.

"Verzeihung, ich wollte Sie nicht umrennen", entschuldigte sie sich.

"Das hätte ich auch nie vermutet. Haben Sie etwas vergessen?" erkundigte er sich, ehe er sie vorsichtig wieder losliess.

Sie nickte: "Ja, mich selbst."

"Das ist schlimm", meinte er ernsthaft und musterte Sophie aufmerksam. "Sie weinen ja", stellte er besorgt fest.

Es war, als sei ein Damm gebrochen, als drängten alle Tränen heraus, die Sophie viel zu lange zurückgehalten hatte. Der Fremde drückte ihr ein sauberes Taschentuch in die Hand und führte sie etwas abseits zu einer Baumgruppe, die sie vor neugierigen Blicken schützte. Spontan legte er den Arm um sie und hielt sie fest, bis ihr Schluchzen verebbte und sie sich beruhigte.

"Wollen wir nicht lieber auf dieses Fest verzichten?" schlug er vor. "Ich bin sowieso nur hier, weil Nicole mir die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Allein fühle ich mich wohler."

Nein, fügte er in Gedanken hinzu, das stimmt nicht ganz. Aber lieber allein als in oberflächlicher Gesellschaft. Wie kam es, dass diese weinende Frau ihn derart berührte? Weil er spürte, dass ihr Schmerz echt war und sie Hilfe brauchte?

"Ich kenne ein nettes kleines Bistro in der Stadt, wo man ausgezeichnet essen kann", sagte er. "Ich lade Sie ein."

Seine tiefe, ruhige Stimme und seine Fürsorge taten ihr gut. Sophie hatte nicht das Gefühl, sich vor ihm verstecken zu müssen. Deshalb nahm sie seine Einladung an.

Er führte sie zu seinem Wagen, der direkt neben dem ihren geparkt war und öffnete die Beifahrertür.

"Nein, ich nehme meinen eigenen Wagen und fahre hinter Ihnen her", entschied sie und fügte hinzu: "Bitte, das ist mir lieber."

"Können Sie denn fahren? Ich meine, mit diesem Kummer?"

Sie wischte sich entschlossen die Tränen ab und putzte sich die Nase: "Ich hab schon ganz andere Sachen geschafft!"

"Also gut, einverstanden. Aber ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ich möchte Sie nämlich nicht verlieren."

Während der Fahrt wurden sie tatsächlich nicht getrennt. Mit diesem Mann, fand Sophie, war alles so einfach.

Im Bistro wurde er wie ein guter Freund empfangen - und sie mit ihm. Sie bekamen einen gemütlichen Tisch in einer Niesche. "Mein Stammtisch", erklärte er ihr, "und ich finde es wunderbar, ihn mit Ihnen teilen zu dürfen."

Als der Wein vor ihnen stand, hob er sein Glas: "Mein Name ist Ludwig", sagte er. "Ludwig Korte."

"Ich bin Sophie. Sophie Wilckens." Der Wein tat ihr gut. Oder war es die Gegenwart dieses sympathischen Mannes?

Ludwig Korte schlug ihr vor, das Spezialmenü des Hauses zu bestellen, und Sophie stimmte sofort zu. Sie merkte, dass sie hungrig war, und langte mit grossem Appetit zu, nachdem die Vorspeise serviert worden war.

"Darf ich den Grund für Ihre Traurigkeit wissen? Oder ist das zu indiskret?" fragte er. "Wissen Sie, ich habe auch schon viel geweint. Das war, als ich meine Frau vor vier Jahren verlor."

"Das tut mir leid", sagte sie betroffen. "Verglichen mit dem Tod ist eine Scheidung natürlich lächerlich."

"Ich bin mir da nicht sicher", erwiderte er nachdenklich. "Wenn jemand stirbt, kann man um ihn trauern. Aber wie soll man um jemanden trauern, der lebt - und einen womöglich verraten hat?"

"Man kann um die Ehe trauern", überlegte Sophie laut. "Aber es ist schwerer, damit fertig zu werden, dass man sich in dem Partner geirrt hat. Kann ein Mensch sich derart ändern? Oder habe ich Arno nicht gut genug gekannt?" Sie seufzte. "Aber wie ist es möglich, einen Menschen wirklich zu kennen? Man kennt sich ja nicht einmal selbst. All diese Gedanken gehen mir Tag und Nacht im Kopf herum."

Ludwig war Schriftsteller. "Mit einem Hang, mich zu verkriechen", erläuterte er. "Aber es ist nicht gut, sich dem Leben zu entziehen. Als Alma noch lebte, war sie es, die das nicht zuliess. Sie war fröhlich und gesellig und ging leidenschaftlich gern aus. Sie fehlt mir unbeschreiblich."

"Warum werden wir nicht einfach Freude und helfen uns gegenseitig?" schlug Sophie vor. Zu keinem anderen Menschen hatte sie so ehrlich sein können wie heute zu Ludwig. Dieser Abend, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, hatte eine unerwartete Wende genommen.

"Ich nehme Ihren Vorschlag gern an", erwiderte er lächelnd ...
_ _ _

Der nächste Tag war ein Sonntag. Um elf Uhr rief Ludwig an, um zu fragen, wie sie geschlafen hatte.

"So gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Und Sie?"

"Ich ebenfalls."

Sie plauderten noch etwas und verabredeten sich für den Abend zu einem Theaterbesuch. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Es war Nicole: "Warum bist du nicht gekommen?" schimpfte sie. "Du hast hoffentlich eine gute Erklärung?"

"Tut mir leid, aber mir kam etwas dazwischen", flunkerte Sophie.

"Hoffentlich nichts Schlimmes."

"Nein, nein, mach dir keine Sorgen.

Nicole wartete, aber als von ihrer Freundin keine weitere Erklärung kam, bemerkte sie säuerlich: "Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können! Mit dem Mann, den ich dir zugedacht hatte, hab ich übrigens auch ein Hühnchen zu rupfen. Er ist ebenfalls nicht erschienen. Aber mein Cousin Ludwig war schon immer sehr eigen. Früher hat Alma ihn aus seiner Höhle gelockt, da war alles einfacher. Sie ist vor vier Jahren gestorben. Ist das nicht traurig?"

Sophie hätte sich beinahe verschluckt. Fast hätte sie ihrer Freundin die Wahrheit gestanden, aber eine innere Stimme sagte ihr, ihre beginnende Freundschaft zu Ludwig vor Nicoles Neugier und ihren direkten Fragen zu schützen. Sie wusste ja selbst nicht, was daraus werden würde. So entgegnete sie nur: "Ja, es ist sehr traurig, einen geliebten Menschen zu verlieren." Und fügte rasch hinzu: "Ich hoffe, die Party war trotzdem schön?"

"Sie war ein voller Erfolg. Hör mal, dein Ex-Mann und seine ..."

Nein! Sophie hatte partout keine Lust, etwas über die beiden zu hören, deshalb fiel sie ihrer Freundin rasch mit einer neuen Notlüge ins Wort: "Es hat gerade geklopft, das ist sicher meine Nachbarin, die vorbeischauen wollte. Also, bis bald, Nicole. Danke für deine Einladung und verzeih bitte, dass ich nicht gekommen bin." Damit legte sie einfach auf.
_ _ _

Vier Monate später machte Ludwig ihr einen Heiratsantrag. "Ich liebe dich, Sophie. Nie hätte ich geglaubt, dass ich noch einmal eine Frau von ganzem Herzen lieben könnte. Es ist wie ein Wunder."

Ludwig hatte inzwischen auch ihre erwachsenen Söhne kennengelernt. Sie waren sich sympathisch, Sophie wusste, dass ihre Kinder ihr dieses neue Glück wünschten. Und sie selbst mochte Ludwig. Mochte ihn mehr als irgendeinen anderen Menschen.

Ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht mehr vorstellen - aber war es Liebe? Sie hatte bisher nur einen Mann geliebt: Arno. Und irgendwo in ihrem Inneren hoffte sie noch immer, dass er zu ihr zurückkommen würde. Sie versuchte, das alles Ludwig zu erklären.

"Ich verstehe das, und ich werde geduldig sein. Du sollst nur wissen, dass ich dich liebe ..."
_ _ _

Sie waren zu einem Opernabend verabredet. Sophie hatte einen Parkplatz gefunden und ging das letzte Stück zu Fuss. Wie versteinert blieb sie stehen, als aus einem Taxi vor ihr plötzlich ein Paar stieg: Arno und Beatrice.

Während Beatrice zielstrebig weiterging, drehte sich Arno langsam zu seiner Ex-Frau um. Einen Augenblick sahen sie sich an. Dann räusperte er sich: "Hallo, Sophie. Gut siehst du aus."

"Hallo, Arno, du auch." Seine Bräune sah nach Sonnenstudio aus, und er trug einen teuren Kaschmirmantel.

Jetzt kam Beatrice zurück und hakte Arno besitzergreifend unter. "Was machst du denn hier? Komm, wir dürfen den Bürgermeister und seine Frau nicht warten lassen!" Mit einem schnippischen Blick auf Sophie zog sie ihn fort - und Arno folgte ihr gehorsam. Wie ein kleiner Hund, dachte Sophie.

Sie sah ihnen nach und atmete tief ein. Nein, dieser Mann, das war nicht mehr "ihr" Arno. Er war ihr fremd geworden, er bewegte nichts mehr in ihr. Selbst wenn er zu ihr zurückkäme - sie würde ihn nicht mehr wollen ...

"Da bist du ja", sagte Ludwig. "Ich habe mir schon Sorgen gemacht."

"Ja, da bin ich. Für immer, Ludwig. Ich meine, wenn du mich noch haben willst. Als deine Frau." Sie würde ihm später erzählen, was vorgefallen war und warum sie sich plötzlich wie befreit fühlte. Jetzt wollte sie nur die Liebe in Ludwigs Augen sehen, seine Wärme spüren und seine Lippen auf den ihren ...

Als sie sich endlich voneinander lösten, flüsterte er ihr verschmitzt zu: "Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht meiner lieben Cousine Nicole, wenn wir sie zu unserer Hochzeit einladen!"

ENDE

... link (2 Kommentare)   ... comment


Samstag, 23. März 2013
Begegnung in der Karibik
Claudia und Roland, zwei Menschen, die sich suchen, begegnen sich in der Karibik. Sie sind endlich bereit für ein neues Glück, aber alles wird kompliziert, als Arthur auftaucht, Rolands Sohn ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Claudia Vogler glitt hinter das Steuer ihres gemieteten kleinen Wagens, legte den Sicherheitsgurt an und startete den Motor. Zehn Minuten später hatte sie Fort de France verlassen und befand sich auf der Strasse, die ins bergige Innere der Insel Martinique führte. Ab und zu blitzte noch in ihrem Rückspiegel die tiefblaue Karibik auf, dann umgab sie nur noch die dichte, grüne Vegetation des Regenwaldes.

Sie fuhr langsam. Sie genoss diesen ersten richtigen Urlaub, den sie sich zeitlich und finanziell nach vier Jahren harter Arbeit endlich leisten konnte. Sie kam durch ein Dorf. Einige der dunkelhäutigen Frauen trugen noch die malerische Tracht der Insel: weite Kleider oder Röcke aus Madras-Stoffen, zu denen eine kunstvoll zusammengesteckte Kopfbedeckung gehörte.

Hinter dem Dorf lagen auf einem Hügel die Reste einer Zuckermühle. Links lag das Vulkangebirge Les Pitons du Carbet, und einer Eingebung folgend verliess Claudia die Strasse und bog in einen schmalen Weg ein, der direkt auf den beeindruckenden hohen Berg zuzuführen schien - nur tat er es nicht.

Der Weg machte viele Windungen und wurde immer schmaler. Rechts schäumte ein Wildbach, an der anderen Seite herrschte dichte Vegetation. Zweige schlugen gegen den Wagen, und immer zahlreicher werdende Löcher machten das Weiterfahren schwer.

Claudia fragte sich etwas bang, wohin der Weg wohl führen mochte. Sie konnte nicht einmal wenden. Aber plötzlich kam sie an eine Lichtung. Erleichtert hielt sie an und stieg aus. Sie reckte sich gerade ausgiebig, als sie das kleine Steinhaus bemerkte, das fast ganz von blühenden Bäumen und Sträuchern verborgen war. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und einem breitkrempigen Hut arbeitete im Garten.

Sie waren die einzigen Menschen weit und breit, und Claudia grüsste ihn etwas unsicher: "Bonjour Monsieur."

Er hob nur flüchtig den Kopf: "Bonjour Madame." Es klang nicht sehr freundlich.

Sie wollte ihn nicht weiter stören und beschloss, gleich zu wenden und zurück zu fahren. Sie betätigte den Anlasser, aber der Wagen sprang nicht an. Erst als sie fürchtete, die Batterie völlig lahmzulegen, stieg sie wieder aus und machte ihrem Herzen mit einem kräftigen: "Verdammt, was ist denn jetzt los?" Luft.

Der Mann schlenderte heran. Sein Alter war schwer zu schätzen. Mitte bis Ende vierzig, vermutete Claudia. Er legte seine Hand auf die Motorhaube und sagte ebenfalls auf Deutsch: "Der Motor ist heissgelaufen. Das passiert auf diesen Wegen. Lassen Sie den Wagen eine Weile abkühlen."

"Ach, Sie sind Deutscher?" fragte sie überrascht.

"Es stört Sie doch nicht etwa?"

"Selbstverständlich nicht."

Er sah sie prüfend an: "Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser trinken? Etwas anderes kann ich Ihnen im Augenblick nicht anbieten."

Sie hatte Durst, aber konnte sie seine Einladung annehmen? Die ganze Situation war so abenteuerlich.

"Sie können auch hier stehen bleiben und warten", erklärte er ungerührt.

Der Durst und die Neugierde siegten. Ausserdem konnte ein Mann, der gärtnerte, nicht schlecht sein, fand sie. Sie folgte ihm in den Garten, und er bat sie mit einer Handbewegung, am grobgezimmerten Tisch unter einem Jasminbaum Platz zu nehmen. Dann verschwand er ins Haus, kam mit zwei Gläsern und einem Tonkrug zurück und schenkte ein.

"Verbringen Sie Ihren Urlaub hier?"

"Ja, und Sie leben sicher hier?"

"Seit fünf Jahren", bestätigte er. "Ich heisse Roland Merbach."

"Und ich Claudia Vogler."

Eine kleine Stille entstand. Sie trank aus ihrem Glas, sah sich dann um und meinte: "Ihr Garten ist sehr schön."

"Leider ist er nicht sehr gross", bedauerte er.

Sie zeigte auf die verschiedenen Orchideensorten, die Lilien, die Hibiskussträucher und Poincianas und nannte ihre Namen. Als ihr Blick zu Roland zurückkehrte, lächelte er. Zum ersten Mal. Sein Gesicht kam ihr ganz verwandelt vor.

"Woher haben Sie Ihre Kenntnisse?" fragte er.

"Von meinem Vater. Er besass ein grosses Gewächshaus. Er wäre gern Botaniker geworden, aber mein Grossvater verlangte von ihm, dass er in den Familienbetrieb eintrat, eine Spinnerei. Wir stellen Garne her. Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben, meine Mutter will nichts von der Spinnerei wissen, ich bin es, die den Betrieb weiterführt." Sie lächelte nicht ohne Stolz: "Und dieses Jahr kann ich zum ersten Mal eine richtige Urlaubsreise machen!"

Sie dachte, er würde nun ein wenig von sich erzählen, aber er tat es nicht. Als das Schweigen zu drückend wurde, stand sie auf: "Ich denke, der Motor ist jetzt abgekühlt. Danke für ihre Gastfreundschaft."

Er hielt sie nicht zurück. Immerhin begleitete er sie bis zum Wagen, der tatsachlich ohne Schwierigkeiten ansprang. Er nickte ihr zum Abschied zu und ging zurück in seinen Garten.
_ _ _

Den nächsten Morgen verbrachte sie am Strand von Sainte Anne, der von herrlichen Palmen gesäumt war, aber sie stellte fest, dass sie sich inmitten der Urlauber langweilte. Sie sehnte sich in den Garten von Roland Merbach mit seinen Orchideen, den leuchtenden Hibiskusblüten und dem süssen Duft des Jasmins zurück. Und, warum sollte sie es sich nicht eingestehen, sie wollte nicht nur den Garten, sie wollte auch Roland Merbach wiedersehen.

Kurzentschlossen, wenn auch mit klopfendem Herzen, setzte sie sich Nachmittags wieder in ihren Wagen. In einer Pâtisserie kaufte sie Kuchen. Sie wollte nicht mit leeren Händen kommen. Dann fuhr sie den wohlbekannten Weg hoch. Das Haus lag ruhig da. Niemand war im Garten.

"Roland", rief sie. "Herr Merbach, sind Sie da?"

Keine Antwort. Nur die Papageien lärmten in den Mangobäumen.

Sie blieb eine Weile stehen. Wie einsam es auf einmal hier war. Sie wollte gerade enttäuscht zum Wagen zurück gehen, als sie Roland auf sich zukommen sah. Er hielt zwei Einkaufstüten im Arm, und sie erkannte ihn kaum wieder. Er trug lange Leinenhosen, ein offenes, aber gutgeschnittenes Hemd, und er hatte sich sogar rasiert. Wenn sie nicht alles täuschte, wurde er sogar etwas rot, aber bei seiner Sonnenbräune war das kaum mit Sicherheit festzustellen.

Sie schluckte: "Ich kam gerade zufällig hier vorbei, und da dachte ich ..." Dann sah sie auf das Kuchenpaket in ihrer Hand und lachte: "Ach, Quatsch. Ich hatte Lust, Sie wiederzusehen, und ich habe Kuchen mitgebracht." Mit bald 41 Jahren war sie doch nun wirklich kein schüchternes junges Mädchen mehr.

Er zeigte mit dem Kinn auf die Tüten und grinste: "Ich finde, das trifft sich gut. Ich habe nämlich Kaffee und Tee besorgt. Unter anderem. Ich hatte nichts mehr im Haus."

Erst jetzt sah sie seinen Wagen. Er parkte hinter dem ihren. Sie hatte das Motorengeräusch der Papageien wegen nicht gehört.

Roland war ihrem Blick gefolgt: "Gewöhnlich stelle ich ihn hinter das Haus, aber jetzt trinken wir erst einmal Kaffee." Er wirkte liebenswürdiger als am Vortag. Entspannter. Als sie einträchtig im Wohnraum des Hauses die Tüten auspackten, sagte er ernst: "Ich Esel habe Sie gestern nicht einmal gefragt, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind. Aber konnte ich denn wissen, dass Sie mir nicht aus dem Sinn gehen würden?"

"Mir ist es genau so ergangen", gab sie ehrlich zurück.

"Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Claudia."

Während sie im Garten Kaffee tranken und den mitgebrachten Kuchen dazu assen, erzählte Roland endlich seine Geschichte: "Ich bin ein Aussteiger. Vielleicht haben Sie das schon vermutet. Ich war Manager und habe zuletzt in Frankfurt gearbeitet. Ich war beruflich derart eingespannt, dass meine Ehe darüber in die Brüche ging. Ich habe es kaum wahrgenommen. Erst als mein Arzt mich nach einem Check-up vor die Wahl stellte: Entweder Herzinfarkt oder kürzertreten, habe ich begriffen, dass es so nicht weitergehen konnte. Statt kürzerzutreten, was mir schwerfiel, habe ich ganz aufgehört. Meine Frau, nun, meine Ex-Frau, hatte wieder geheiratet. Ich habe das Geld, das mir nach der Scheidung blieb, gut angelegt und bin hierhergekommen. Bis jetzt habe ich den Kontakt zu Menschen weitgehendst vermieden. Aber unser Gespräch gestern - hat mir gut getan. Leider habe ich es erst gemerkt, als Sie schon wieder fort waren."

"Ich bin auch geschieden", sagte sie. "Mein Mann wollte Kinder, und ich konnte keine bekommen. Eines Tages hat er mir eröffnet, dass er seit zwei Jahren eine Freundin hat, die nun ein Kind von ihm erwartete. Für mich brach eine Welt zusammen. Gleich danach habe ich meinen Vater verloren, und meine Mutter heiratete ein Jahr später einen anderen Mann. Sie lebt jetzt in Amerika. Ich glaube, die Arbeit hat mich gerettet Es gab viel zu tun, auch vieles zu modernisieren in der Spinnerei. Aber eines Tages bin ich aufgewacht und habe mich im Spiegel betrachtet. Ich habe mir gesagt, dass das Leben mir mit 40 Jahren vielleicht noch etwas anderes bieten kann als nur Arbeit. Gleichzeitig habe ich festgestellt, dass ich von meinem Unglück geheilt war."

Beide hatten sich lange nicht so rückhaltslos einem anderen Menschen anvertraut. Die Zeit verging wie im Flug. Ehe sie es sich versahen, war es dunkel geworden.

"Ich sollte vielleicht zurückfahren", meinte sie, stellte jedoch fest, dass sie nicht zurück wollte.

"Sie müssen unbedingt noch zum Abendessen bleiben. Ich habe doch eingekauft", bat er.

Während sie das Kaffeegeschirr abwusch, bereitete er ein pikantes Reisgericht zu. Dazu gab es leichten französischen Rotwein und als Nachtisch Ananas, Papayas, Bananen; voll ausgereifte, aromatisch süsse Früchte.

Und dann war es ganz selbstverständlich, dass sie auch die Nacht blieb. Diese erste Liebesnacht nach langer Zeit war für beide wie eine Neugeburt. Am nächsten Morgen fuhr sie nur rasch ins Hotel zurück, um einige Sachen zu holen.

Es folgten traumhaft schöne, zärtliche und leidenschaftliche Tage und Nächte. Sie lebten in der Gegenwart, vermieden es, über die Zukunft zu sprechen.

Claudia holte gerade Wasser aus dem Brunnen, als sie den Jungen auf dem kleinen Platz vor dem Haus sah. Er war blond und blauäugig, trug einen Rucksack und sah sich suchend um.

"Kann ich Ihnen helfen?" fragte Claudia auf Französisch.

"Ich suche meinen Vater. Roland Merbach. Man hat mir im Dorf gesagt, dass er hier lebt."

Roland hatte einen Sohn? Davon wusste sie nichts. Aber sie fing sich rasch: "Sie sind richtig hier, ich werde ihn holen."

Roland erntete gerade Bohnen fürs Abendessen. Sie rief: "Roland, komm mal, da ist jemand für dich!"

Er kam. Sah den Jungen, kniff die Augen zusammen: "Bist du es, Arthur?" fragte er schliesslich überrascht." "Himmel, ich hätte dich fast nicht wiedererkannt!"

"Kein Wunder. Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen", murmelte der Junge. Er sah Roland und Claudia an und fragte trotzig: "Ich störe sicher?"

"Rede keinen Unsinn", erwiderte Roland, aber es klang halbherzig. "Machst du Urlaub hier?"

"Wie man will. Eigentlich bin ich nur deinetwegen gekommen."

Roland schien sich unbehaglich zu fühlen. Er wandte sich Claudia zu und sagte: "Claudia, das ist Arthur, mein Sohn. Wie alt bist du jetzt, Arthur? Sechzehn? Siebzehn?"

"Achzehn. Ich hab in diesem Jahr mein Abi gemacht."

"Gratuliere. Arthur, das ist Claudia Vogler, eine ... Bekannte. Was möchtest du von mir? Brauchst du Geld?"

Der Junge wurde glühend rot: "Geld! Als ob es um Geld ginge! Ich möchte mich einfach nur mal mit dir unterhalten."

"Gibt's ein Problem?"

"Mein Problem ist, dass ich meinen eigenen Vater nicht kenne! Früher hast du immer nur gearbeitet, und als du deinen gottverdammten Beruf endlich aufgegeben hat, bist du aus Deutschland verschwunden. Ich habe dich nach der Scheidung kein einziges Mal mehr gesehen. Du hast nie dein Besuchsrecht wahrgenommen. Hast du überhaupt je gewusst, dass du einen Sohn hast?"

Rolands Stirnader schwoll gefährlich an: "Wenn du möchtest, dass wir uns miteinander unterhalten, schlag gefälligst einen anderen Ton an! Für wen habe ich denn gearbeitet? Für deine Mutter und dich. Fehlt es dir an etwas? Kommst du nicht gut mit deinem Stiefvater aus?"

"Doch, aber darum geht es jetzt nicht. Ich weiss auch, dass du finanziell für mein Studium aufkommst. Aber in Wirklichkeit bin ich dir doch völlig egal. Übrigens: Jeder Vollidiot weiss, das Workalkoholics, wie du einer warst, Probleme haben!"

"Ich? Probleme? Würdest du mir das mal genauer erklären?" Rolands Stimme war jetzt gefährlich leise.

Arthur warf Claudia einen feindseligen Blick zu: "Nicht, solange deine Freundin dabei ist."

Roland wollte auffahren, aber Claudia hob beschwichtigend die Hand: "Keine Aufregung, ich gehe ein bisschen spazieren."

"Das wäre ja noch schöner. Du bleibst hier!" Roland brüllte jetzt. So hatte Claudia ihn noch nie erlebt.

"Und du, Arthur, du entschuldigst dich sofort bei Claudia!"

"Entschuldigen Sie bitte, Frau Vogler. Entschuldige auch du mich, mein Vater. Entschuldigt alle beide, dass ich überhaupt vorbeigekommen bin", brachte Arthur zwischen den Zähnen hervor. Er rückte seinen Rucksack zurecht, drehte sich um und strebte mit langen Schritten davon.

Claudia war blass geworden. "Hol ihn zurück, Roland! Du kannst deinen Sohn doch nicht so gehen lassen!"

"Und warum nicht? Ich lasse mich doch nicht von diesem Bengel demütigen und beleidigen!"

Roland wollte sie in die Arme nehmen, aber sie wich zurück. "Ich habe mir so sehr Kinder gewünscht und konnte keine bekommen, und andere haben Kinder, von denen sie nichts wissen wollen." Heiss stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie wischte sie zornig fort, machte auf dem Absatz kehrt und lief zu ihrem Wagen.

Sie holte den Jungen schnell ein. Sie hielt neben ihm, stiess die Tür von innen auf und befahl: "Einsteigen!"

Arthur runzelte die Augenbrauen: "Wie komm ich dazu?"

"Steig schon ein! Wo wohnst du überhaupt?" Sie duzte ihn jetzt einfach.

"In Fort de France, in einem kleinen Hotel", antwortete er widerwillig.

"Ich bringe dich hin."

"Ich kann unten den Bus nehmen, wie für die Hinfahrt."

"Er ist gerade abgefahren, und der nächste fährt erst in zwei Stunden", sagte sie aufs Geradewohl.

Endlich stieg er ein, aber er starrte verbissen geradeaus. Als sie an die grosse Strasse kamen, wendete sie.

"He, Sie fahren ja zurück", protestierte er.

"Ganz richtig. Ich bringe Sie zu Ihrem Vater zurück."

"Das kommt überhaupt nicht in Frage! Lassen Sie mich sofort aussteigen!" Seine Stimme überschlug sich fast, aber Claudia hörte nicht nur Zorn, sondern auch Kummer und Ratlosigkeit heraus.

"So schnell gibst du auf?" schimpfte sie. "Ich dachte, dir liegt etwas an deinem Vater!"

"Sind Sie immer so energisch?" fragte er nach einer Weile.

"Wenn's sein muss, ja."

Beide machten jetzt ein finster entschlossenes Gesicht. Als sie vor Rolands Haus hielt, stieg Arthur wortlos aus und warf die Tür hinter sich zu. Claudia sah, wie er auf Roland zuging.

"Viel Glück, Arthur", sagte sie leise, ehe sie noch einmal wendete und fortfuhr. Die Sachen, die sie hier zurückliess, konnte sie in Fort de France nachkaufen.
_ _ _

Ihr Gepäck war registriert, und sie wartete darauf, dass ihr Flug aufgerufen wurde. Sie war traurig, dass Roland sich nicht gemeldet hatte, aber vielleicht war es besser so.

Und dann sagte eine Stimme hinter ihr: "Claudia, endlich haben wir dich gefunden!"

Sie fuhr herum, stand Roland und Arthur gegenüber.

"Ich habe im Hotel angerufen. Dort hat man mir gesagt, dass du zum Flughafen gefahren bist." Roland sah sie unverwandt an.

Arthur blinzelte ihr zu und meinte: "Ich geh' mir mal eine Zeitschrift kaufen."

"Lass dir Zeit dabei", rief sein Vater ihm nach.

"Ihr habt euch also vertragen?" Claudias Herz klopfte noch immer so heftig, dass sie kaum sprechen konnte. "Ich freu mich so, dass alles ein gutes Ende genommen hat!"

"Alles hat noch kein gutes Ende genommen. Ich kann nicht ohne dich leben, Claudia."

"Mir wird es auch schwerfallen", seufzte sie, "aber ich muss nach Deutschland zurück."

"Arbeitest du nicht auch ein bisschen zuviel?" hakte er nach.

Sie hob die Schultern. "Was soll ich machen?"

"Du könntest vielleicht einen fähigen Manager brauchen. Und damit meine ich natürlich mich. Ich habe mich lange genug ausgeruht. Heute riskiere ich keinen Herzinfarkt mehr, dafür unheilbares Herzweh!"

Jähes Glück erfüllte sie, aber gleich kamen ihr Bedenken: "Ich kann aber keine Spitzengehälter zahlen, Roland."

"Wer redet denn davon? Ich fange ganz klein wieder an. Normal, nach fünf Jahren Abwesenheit. Und wenn wir den Betrieb erst einmal richtig hochgebracht haben ..."

"Stopp", lachte sie, "du kennst wohl keinen Mittelweg?"

Nun lachte auch er: "Arthur und du, ihr werdet auf mich aufpassen müssen. Da kommt er ja zurück. Worüber freut er sich denn so?"

Arthur grinste tatsächlich über das ganze Gesicht: "Bist du immer noch da, Claudia?" Auch er duzte sie jetzt.

"Warum sollte ich nicht mehr da sein?"

"Das Flugzeug ist wenigstens weg. Habt ihr nicht gehört, wie Claudia zum Schluss sogar namentlich aufgerufen wurde?"

"Das Flugzeug ist weg? Mit meinem Gepäck?" Claudia wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

"Das Gepäck bekommst du in Deutschland wieder", tröstete Roland sie. "Ausserdem hast du doch auch noch ein paar Sachen bei mir. Die Welt wird nicht untergehen, wenn du ein oder zwei Tage länger bleibst, im Gegenteil!"

"Du hast deine Lektion gut gelernt", lobte ihn Arthur und wandte sich an Claudia: "Ich würde mich auch freuen, wenn du bleibst."

Endlich enspannte sich auch Claudia: "Ihr habt ja recht. Ich buche den nächstmöglichen Flug und rufe in der Firma an, dass ich später komme."
_ _ _

Zwanzig Minuten später gingen sie einträchtig zu Arturs Wagen. Zwei zusätzliche Urlaubstage lagen vor Claudia. Plötzlich blieb Roland stehen und überreichte Arthur die Autoschlüssel: "Geh schon mal voraus, Sohnemann."

Dann sah er Claudia an. Seine Augen lächelten: "Ich bestehe darauf, dass wir meinen Einstellungsvertrag sofort unterzeichnen."

"Aber Roland ..."

"Ich will ein blindes Vorversprechen. Eher rühre ich mich nicht von der Stelle!"

Endlich verstand sie. Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf und bot ihm lächelnd ihre Lippen zum Kuss ...

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 20. März 2013
Das Schicksal lässt sich nicht betrügen
Ein junger Mann läd eine riesige Schuld auf sich. Seinetwegen wurde seine schöne Freundin Lydia schwer verletzt. Er flieht um die halbe Welt, bis nach Manila. Gibt es trotz allem noch einen Ausweg?
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Dr. Lukas Dering ging mit den anderen Passagieren des Fluges Manila-Frankfurt die Fluggastbrücke entlang. Sie führte ihn gleich in die Vergangenheit. Schon von weitem sah er das Empfangskomitee, zwei Herren in dunklen Anzügen. Und eine schlanke, gerade aufgerichtete Frau im Rollstuhl. Lydia. Ihm war, als griffe eine Faust nach seinem Herzen. Er hatte gewusst, dass diese Begegnung stattfinden würde - und musste.
_ _ _

"Wie geht es dir?" fragte sie. Sie hatte ihn in das für ihn reservierte Hotelzimmer begleitet. Sie war noch so schön wie früher, aber über ihren beiden Beinen lag eine Decke. Sie bemerkte seinen Blick und zog sie fort: "Sie sind etwas dünn geworden", sagte sie ihm lächelnd.

Er dachte an Constanze, die er in Manila zurückgelassen hatte. Ihre mandelförmigen Augen hatten voller Tränen gestanden, als sie flüsterte: "Ich liebe dich, Lukas. Komm bald zurück."

Er dachte auch an das ärmliche Haus, in dem sie beide mit dem kleinen Arturo wohnten, und die lange, geduldige Schlange von Menschen, die jeden Tag Hilfe bei ihm, dem deutschen Doktor, suchten. Diesen Menschen fehlte es an allem.

Rauh sagte er: "Du verachtest mich. Lass mich zahlen für das, was ich dir angetan habe!"

Sie lächelte: "Du siehst doch, dass ich lebe!"

"Ja, aber wie?" Verzweifelt stöhnte er: "Wenn es nur einen Weg gäbe, um es wieder gutzumachen ..."

"Wie geht es deinen Schützlingen in Manila?" fragte sie.

Er dachte an die zerlumpten Gestalten, die schlecht durchgeführten Operationen, die vereiterten Wunden, die Kinder, die die Abfallhalden nach Nahrung durchsuchten.

"Mir geht es gut", sagte Lydia. "Mir geht es sogar viel besser als früher."

Wie konnte sie das sagen? Früher konnte sie laufen, tanzen ...

"Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie ich früher war?" fragte sie eindringlich.

Er sah sie vor sich, vor zehn Jahren. Das schöne, verwöhnte Töchterchen eines der bekanntesten Chirurgen der Stadt. Ihr Vater hatte eine Privatklinik und er, Lukas, war sein von Ehrgeiz besessener Assistent. Sein einziges Kapital waren sein blendendes Aussehen und seine Tüchtigkeit gewesen. Beides wusste er wirkungsvoll einzusetzen. Lydia wollte ihn, und was Lydia wollte, bekam sie gewöhnlich. Eine Heirat mit ihr bedeutete für ihn den begehrten Platz an der Sonne. Und er würde ein willkommener Schwiegersohn sein, das hatte der "Alte" schon durchblicken lassen.

Dann kam die schreckliche Nacht, die Lydias und sein Leben verändern sollte. Sie waren auf einer Party gewesen: ein mit Lampions geschmückter Garten. Ärzte, Rechtsanwälte, bekannte Künstler. Und verloren mitten unter ihnen ein junger Geschichtsprofessor. Lydia hatte den ganzen Abend nur mit ihm getanzt. Übermütig, Glas auf Glas Wein mit ihm trinkend.

Lukas hatte kurz vor Mitternacht rasend vor Wut und Eifersucht die Party verlassen. Zwei Stunden später klingelte es. Es war Lydia, die ihn weinend um Verzeihung bat. Sie war betrunken.

Er war verletzt, fühlte sich zu gedemütigt, um ihr jetzt schon verzeihen zu können. Sie war in ihrem Sportwagen gekommen. Er nahm ihr die Schlüssel aus der Hand, ging mit ihr hinunter, um sie wenigstens sicher nach Hause zu bringen. Aber Lydia überredete ihn zu einer langen Spazierfahrt auf der nächtlichen Landstrasse.

Er liebte es, Lydias roten Sportwagen zu fahren. Die Geschwindigkeit und der Wind berauschten ihn. Lydia warf ihm heftig vor, ihr nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken, zuviel zu arbeiten. Sie hätte ihn mit dem jungen Claus Paesch nur eifersüchtig machen wollen.

Als er nicht antwortete, griff sie voller Wut ins Steuer, um ihn zu zwingen, anzuhalten. Er erschrak, stiess sie zurück, aber es war zu spät. Der Wagen stürzte die Böschung hinab, überschlug sich mehrere Male ...

Wie durch ein Wunder blieb er unversehrt. Er hörte Lydia neben sich stöhnen. Ihre Beine waren eingeklemmt. Trotz aller Bemühungen konnte er sie nicht befreien. Plötzlich sackte ihr Kopf weg. Sie hatte das Bewusstsein verloren.

Mit Lydias Handy wählte er die Nummer der Polizei. Er bat, mit Arzt und Rettungswagen zu kommen, beschrieb genau die Stelle des Unfalls.

Einige Augenblicke stand er wie betäubt da, mit dem Gefühl, dass sein Leben zu Ende war. Und dann tat er das, was er sich nie verzeihen konnte: Er ergriff die Flucht. Die Strasse war menschenleer. Er säuberte sich, so gut es ging, und als ein Wagen kam, hielt er ihn an, liess sich in die Stadt zurückbringen. Sie kamen an der Unfallstelle vorbei. Er sah jetzt die Blaulichter der Polizei, des Rettungswagens ...

Am nächsten Abend war er in Madrid, und dann begann eine lange Irrzeit. Ständig fürchtete er, dass die Polizei ihn aufspüren könnte. Von seinem letzten Geld kaufte er eine Flugkarte nach Manila. Dort arbeitete er als Barman in einem grossen Hotel. Auf Umwegen erfuhr er, dass Lydia überlebt hatte. Gelähmt. Das Bild verfolgte ihn Tag und Nacht. Lydia im Rollstuhl, durch seine Schuld ...

Seinen Beruf als Arzt übte er nicht mehr aus. Er hatte das Recht darauf verloren, hatte als Arzt, als Mensch, völlig versagt.

Dann war Constanze in sein Leben getreten. Eines Tages schlüpfte ein kleiner Junge in zerrissener Kleidung und mit tränenverschmiertem Gesicht am Portier vorbei ins Hotel. Verzweifelt schrie er etwas. Lukas kannte die Landessprache gut genug, um zu verstehen, dass etwas mit seiner Mutter passiert war, dass sie einen Arzt brauchte.

Niemand wusste hier, dass Lukas Arzt war. Er wartete ein paar Sekunden, ob sich jemand des Jungen annehmen würde, aber schon näherte sich der Portier, wollte ihn verscheuchen.

"Warte", rief Lukas, "ich komme gleich mit zu deiner Mutter!" Das Gesicht des dunkelhäutigen Filippinojungen leuchtete vertrauensvoll auf. Hand in Hand gingen sie am verdutzten Portier vorbei ins Freie.

Der Junge hiess Arturo. Lukas winkte einem Taxi, und sie fuhren bis zum Stadtrand, wo ärmliche kleine Häuser dicht aneinandergedrängt an einer langen, staubigen Lehmstrasse standen.

Eine dieser Behausungen betraten sie. Eine Frau lag zusammengekrümmt und von Fieber geschüttelt in einer Ecke. Lukas kniete wortlos nieder, zog die Decke fort. Er untersuchte sie sorgfältig, stellte Fragen.

"Arturo", stöhnte die junge Frau. "Er hat doch nur mich ..."

"Machen Sie sich keine Sorgen", sagte Lukas mit ruhiger Stimme. "Sie werden gesund."

Constanze wurde wieder gesund. Lukas kam jeden Tag, um nach ihr zu sehen. Er brachte ihr und Arturo gutes Essen mit. Constanze arbeitete in einer Textilfabrik, verdiente aber nur das Nötigste zum Leben. Seit sie krank war, war die Not bei ihnen ausgebrochen.

Sie erzählte Lukas, halb auf Englisch, halb auf Spanisch, ihre Lebensgeschichte: Ihren amerikanischen Vater hatte sie nie gekannt, ihre Mutter war gestorben, als sie zwölf war. Seitdem schlug sie sich allein durch. Mit 16 Jahren heiratete sie Arturos Vater. Er war Fischer, kam eines Tages nicht zurück. Arturo war gerade zwei.

Constanzes langes, schwarzes Haar bekam wieder Glanz und Fülle. Ihre und Arturos erschreckende Magerkeit verschwand. Sie lachte wieder. Ihr rundes, fröhliches Gesicht und die sanften Augen zogen Lukas auf geheimnisvolle Weise an. In einer schwülen Sommernacht fanden sich ihre Körper in Constanzes kleiner Schlafkammer ...

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, dass der Deutsche, der so oft Constanze besuchte, Arzt war, und dass er kein Geld von den Armen nahm. Lukas arbeitete bis zum Umfallen, verlor seine Arbeit im Hotel, nachdem er ein paarmal völlig erschöpft hinter der Bar eingeschlafen war. Die geheilten Patienten brachten ihm Früchte, Gemüse, auch schon mal ein Huhn. Constanze arbeitete wieder in der Textilfabrik. Wie durch ein Wunder reichte es immer bis zum nächsten Tag. Aber er hatte kein Geld mehr, um Medikamente für "seine" Kranken zu kaufen.

Ein deutscher Journalist stöberte ihn eines Tages auf, schrieb einen Artikel über den "Doktor der Armen". Die Zeitschrift bat ihre Leser um Spenden und schickte Lukas ein Flugticket, damit er bei einem Empfang das Geld entgegennehmen konnte.

Lukas hasste den Mann, der er einst gewesen war, aber er brauchte das Geld, um helfen zu können. Jetzt sass er der Frau gegenüber, die sein Schicksal in der Hand hatte ...

Lydia erklärte nun mit leiser Stimme: "Wie du schon weisst, hatte ich den Artikel über dich in der Zeitschrift gelesen und gebeten, dich mit den beiden anderen Herren am Flughafen empfangen zu dürfen. Ich möchte dir sagen, dass niemand weiss, dass du damals am Steuer gesessen hast."

"Was ... soll das bedeuten?"

"Warum sollte ich dich verraten? Es gab ja keine Zeugen", antwortete sie mit äusserster Gelassenheit.

Er dachte an die Reden, die nachher gehalten werden würden, an die Ehrung. Er war ihrer nicht würdig. Gepresst brachte er heraus: "Ich werde die Polizei anrufen, werde mich ihr stellen."

Er wollte aufspringen, aber sie legte rasch ihre Hand auf sein Knie: "Gar nichts wirst du tun! Wem würde das denn nützen? Deinen Kranken, etwa?"

"Aber sieh doch ein, was ich dir angetan habe!" stöhnte er.

Sie lachte leise: "Mir geht es gut, Lukas. Ich bin glücklich!"

Als sie seinen ungläubigen Gesichtsaussdruck sah, fügte sie hinzu: "Vorher war ich mit dem Leben unzufrieden. Ich war egoistisch, arrogant. Am Unfall war ich selbst Schuld, Lukas, ich weiss erst jetzt, was es bedeutet, zu leben - und zu lieben."

Sie lächelte weich: "Er wird gleich kommen, um mich abzuholen. Er ist ein wundervoller Mensch. Ich helfe ihm bei seinen Manuskripten, soweit es mir möglich ist, und bin darüber hinaus seine Agentin."

"Weiss er Bescheid?" Lukas hielt den Atem an.

Sie sah ihm gerade in die Augen: "Ja, als einziger. Weil ich Vertrauen zu ihm habe."

Es klopfte.

Lukas starrte den Mann an. Er hätte ihn noch nach hundert Jahren wiedererkannt.

Claus Paesch war nicht attraktiver geworden. Er wirkte immer noch schüchtern und eher etwas linkisch. Aber Lukas begegnete seinem Blick und war endlich fähig, die Seelengrösse dieses Mannes zu erkennen. Der Historiker streckte ihm die Hand entgegen, und Lukas ergriff sie voller Dankbarkeit.

Lydia lachte zufrieden und meinte dann: "Claus und ich warten unten in der Halle auf dich. Du willst dich sicher frisch machen nach der langen Reise. Der Empfang beginnt erst in einer guten halben Stunde."

Aller Augen waren auf sie gerichtet, als sie in den Konferenzsaal kamen: Lydia in der Mitte, links und rechts eskortiert von den beiden Männern.

Applaus begrüsste sie, und Lukas verneigte sich. Niemand würde die Last der Schuld von ihm nehmen können, aber ihm war seine Zukunft geschenkt worden.

Er empfand Dankbarkeit für Lydia, und überströmende Liebe für Constanze, Arturo und seine neue philippinische Heimat. Wenn er in Manila zurück war, würde er Constanze heiraten und Arturo adoptieren.

Und immer würde er ein Arzt der Armen bleiben ...

ENDE.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 18. März 2013
Flora zwischen zwei Männern
Flora und Mathias sind Geschäftspartner und inzwischen Freunde geworden: Sie betreiben ein Restaurant auf Kreta. Eines Tages bricht Lutz in ihr Leben ein. Früher waren Mathias und er eng befreundet ...
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

"Gelernter Koch mit Auslandserfahrung sucht Partner(in), um mit ihm (ihr) zusammen ein Jahr lang ein Restaurant auf Kreta zu betreiben. Er (sie) sollte ausser Griechisch auch Englisch und möglichst Französisch sprechen und Erfahrung im Gaststättengewerbe haben."

Flora lass die Anzeige zum dritten Mal. Schade, dass sie weder Griechisch sprach, noch Erfahrung im Gaststättengewerbe hatte. Mit Englisch und Französisch konnte sie dagegen aufwarten und der nötigen Begeisterung auch. Hier hielt sie jedenfalls nichts zurück: Sie war seit letzter Woche arbeitslos - und beinahe froh darüber, denn ihr Chef war ein Scheusal gewesen. In ihrer kleinen Wohnung fiel ihr die Decke auf den Kopf, und ihr Liebesleben glich seit zwei Jahren einer Wüste. Mit 27 Jahren kam sie sich vor wie auf's Abstellgleis geschoben. Warum sollte sie nicht anrufen? Wer nicht wagt, gewinnt nicht ...
_ _ _

Wie jeden Morgen wachte Flora gutgelaunt und voller Tatendrang auf. Als erstes lief sie zum Fenster, um die blau gestrichenen Läden zu öffnen. Der Blick auf den gleissenden tiefblauen Golf von Mirampéllu, in dessen Halbrund sich das Hafenstädtchen Aghios Nikolaos schmiegte, begeisterte sie immer wieder auf's Neue ...

Als sie zwanzig Minuten später in ihrem buntgeblümten Sommerkleid die Terrasse betrat, war dort schon der Frühstückstisch gedeckt.

"Guten Morgen, Mathias", lächelte sie.

"Guten Morgen, Flora. Gut geschlafen?" Mathias schenkte ihr Kaffee ein. Die Sonne sauberte kupferfarbene Lichter auf Floras kurzgeschnittene Locken, streichelte die zarte Rundung ihrer Wangen und küsste jede einzelne ihrer Sommersprossen.

"Danke, hier schlafe ich immer gut", antwortete sie. Es war die Wahrheit. Der graue, norddeutsche Winter lag in ihrer Erinnerung viel weiter zurück als nur sechs Monate. Das Telefongespräch damals hatte ihr Leben geändert.

"Mathias Eckert, ja bitte?" hatte sich eine sympathische Männerstimme gemeldet. Obwohl sie ihm gleich ehrlich sagte, dass sie kein Griechisch konnte und nicht im Gaststättengewerbe tätig war, sondern eine kaufmännische Ausbildung hatte, schlug er ihr ein Treffen in einem Café vor.

Als sie ihn sah, hatte sie sofort Vertrauen gefasst in den mittelgrossen Dreissigjährigen mit den breiten Schultern. Mathias hatte ein angenehmes Gesicht, die brauen Augen unter dem dunklen Haarschopf blickten warm und aufmerksam, und alles, was er tat und sagte, wirkte ausgereift und gut durchdacht.

Er hatte ihr erklärt, dass er zuletzt als Koch in Frankreich gearbeitet hatte, sich aber gern selbstständig machen wollte. Dieses Restaurant auf Kreta schien ihm ein guter Einstieg zu sein. Der Besitzer, ein Deutscher, wollte es aus familiären Gründen für ein Jahr verpachten. Er, Mathias, würde kochen, wärend sein Partner oder seine Partnerin sich um die Gäste kümmern sollte. Über dem Restaurant befände sich eine möblierte Privatwohnung mit Terrasse. Es gäbe zwei Schlafzimmer, das Wohnzimmer und das Bad würden sie sich teilen.

Nach einer Stunde kam es ihnen beiden vor, als würden sie sich seit Jahren kennen. Schliesslich meinte Mathias, dass er sich freuen würde, wenn sie gemeinsam mit ihm das Abenteuer wagen würde. In den zwei Monaten, die ihnen bis zum Pachtantritt blieben, könne sie sich sicher noch Griechischkenntnisse aneignen. Er selbst nahm gerade an einem Intensivkurs teil.

Seit Flora auf Kreta war, hatte sie nicht eine Sekunde bereut, sein Angebot angenommen zu haben.

Sie trank mit Genuss einen Schluck Kaffee, bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und Honig und erwiderte: "Jeden Morgen, wenn ich aufwache, bin ich glücklich."

Mathias lachte: "Mir geht es auch so. Obwohl man nicht sagen kann, dass wir auf der faulen Haut liegen. Aber wir tun das, was uns Spass macht und sind unser eigener Herr. Dazu scheint jeden Tag die Sonne, und wir haben diesen wunderbaren Blick auf's Meer."

Mathias, der jeden Morgen früh aufstand, hatte bereits am Hafen fangfrischen Fisch und Meeresfrüchte eingekauft, und der alte Costa war auch schon wie jeden Tag mit den Erzeugnissen seines Bauernhofs dagewesen. Nach dem Frühstück besprachen Flora und Mathias die Speisekarte und kalkulierten die Preise, dann ging Mathias nach unten, um mit den Vorbereitungen für das Mittagessen zu beginnen.

Während Flora rasch die Wohnung aufräumte, dachte sie an den Tag, der vor ihnen lag. Es würde jetzt rundgehen bis drei Uhr Nachmittags. Dann konnte sie eine Siesta machen oder an den Strand gehen, ehe Abends der Restaurantbetrieb wieder begann. Mathias hatte recht: Sie lagen wirklich nicht auf der faulen Haut, aber noch nie hatte sie sich so gut gefühlt. Und ihre Belohnung waren zufriedene Gäste.

An diesem Abend betrat mitten in der Stosszeit der bestaussehendste Mann, der Flora je über den Weg gekommen war, das Restaurant.

"Ist bitte noch ein Tisch frei?" fragte er.

"Leider nein", bedauerte sie.

Er lachte. Seine weissen Zähne blitzten im sonnengebräunten Gesicht: "Macht nichts, dann komme ich später wieder. Ich bin übrigens ein Freund von Mathias."

"Ich sage ihm schnell Bescheid", bot Flora ihm an, aber er wehrte ab: "Ich möchte ihn überraschen."

Er tauchte wieder auf, als sie gerade nach den letzten Gästen die Tür verschliessen wollte.

"Passt es jetzt besser?' erkundigte er sich.

"Viel besser", lächelte sie ihm zu und liess ihn herein. Mathias, der aus der Küche gekommen war, starrte den später Besucher an, als handelte es sich um eine Erscheinung. Einen Augenblick wirkte sein Gesicht völlig ausdruckslos.

"Mathias, erkennst du mich nicht wieder?" fragte dieser endlich.

"Oh doch, Lutz", antwortete Mathias schliesslich grimmig.

Der Besucher lächelte Flora zu: "Ich heisse also Lutz. Lutz Weigand."

"Flora Lorenz", stellte sie sich ebenfalls vor.

"Wie gut der Name zu Ihnen passt: Flora, schön wie eine Blume."

Seine Stimme war wie ein Streicheln, die zwingenden blauen Augen liessen sie nicht los. Eine heisse Woge durchfuhr die junge Frau.

"Es ist eine ziemliche Frechheit, dass du hier auftauchst", stiess der sonst so gastfreundliche Mathias zwischen den Zähnen hervor.

Flora sah ihn erstaunt an, aber Lutz hob bekümmert die Schultern: "Die alte Geschichte mit Lydia, stimmt's? Das ist doch schon zehn Jahre her!"

"Ich habe nichts vergessen!"

"Mathias hat ein Elefantengedächtnis", wandte Lutz sich an Flora, "dabei war es eine Lappalie, ein Streit um eine Frau, die es nicht wert war, dass zwei gute Freunde sich ihretwegen entzweiten."

Er ging einen Schritt auf Mathias zu und streckte ihm die Hand entgegen: "Ich habe dich schon damals um Entschuldigung gebeten."

Mathias übersah die Hand: "Was willst du?"

Lutz seufzte komisch: "Gibt es hier eine Übernachtungsmöglichkeit für mich? Alle Hotels sind besetzt, und ehrlich gesagt, bin ich momentan auch knapp bei Kasse."

"Und woher weisst du meine Adresse?"

"Purer Zufall. Ich las deinen Namen auf der Speisekarte draussen."

Flora sah, dass Mathias' Kieferknochen malmten. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es gute Gründe dafür geben musste, trotzdem versuchte sie, zu vermitteln: "Mathias, es ist spät. Er kann doch auf dem Klappsofa im Wohnzimmer übernachten."

"Und wann gehst du wieder?" fragte Mathias knapp.

Flora war seine Unhöflichkeit peinlich, aber Lutz antwortete bereitwillig: "Spätestens am nächsten Ersten, das heisst in drei Wochen. Dann kommt wieder Geld auf mein Konto. Ihr könnt mich aber auch vorher jederzeit hinauswerfen."

Und wieder zu Flora gewandt: "Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Das dafür bezahlt wird, sich vom Familienunternehmen fernzuhalten."

Flora war schockiert: "Warum arbeiten Sie nicht?"

"Ich habe nichts dagegen. Wenn Ihr gegen Kost und Logis Arbeit für mich habt, würde ich mich freuen."

So kam es, dass Lutz Flora im Restaurant half. Er machte seine Sache ausgezeichnet. Besonders die weiblichen Gäste waren entzückt.

Was Flora anging, so verliebte sie sich von Tag zu Tag mehr. Es war eine quälende, verzehrende - und allem Anschein nach einseitige Liebe, denn Lutz war nie mehr als nur freundlich zu ihr.

Und Flora fiel auf, dass Mathias, der Lutz im Übrigen möglichst aus dem Weg ging, seine Lebensfreude verlor. Flora machte sich Sorgen um den Freund. Einmal, als sie mit ihm allein war, fasste sie sich ein Herz: "Was ist denn damals bloss zwischen Lutz und dir vorgefallen?"

Nach kurzem Zögern erzählte er ihr die Geschichte: "Lutz und ich waren beide zwanzig. Nachdem wir während der ganzen Schulzeit unzertrennlich waren, hatten unsere Wege sich getrennt: Ich machte nach dem Abitur eine Kochlehre - zur Enttäuschung meiner Eltern, denen ein Studium lieber gewesen wäre - und Lutz studierte im Ausland. Ich hatte eine Freundin, eben diese Lydia. Ich war sehr in sie verliebt, obwohl ich heute weiss, dass es nicht die ganz grosse Liebe war. Und eines Tages kam Lutz zu Besuch - und siegte. Wenn er Lydia wenigstens glücklich gemacht hätte, aber sie war nur ein Spielzeug für ihn. Du kennst ja jetzt Lutz: Er ist intelligent, selbstsicher, sieht blendend aus, und er nimmt nichts ernst im Leben. Alles fällt ihm in den Schoss. Er hat die Leichtigkeit, die mir fehlt. Damals habe ich mir glühend gewünscht, so zu sein wie er. Vielleicht war deshalb die Enttäuschung so gross."

"Du solltest ihm verzeihen", sagte Flora leise, "er ist bestimmt nicht schlecht."

"Er glaubt, dass er sich alles erlauben kann, und vielleicht kann er das tatsächlich."

"Es sieht so aus, als wäre er gern hier", sagte Flora und merkte nicht, wieviel Hoffnung in ihrer Stimme mitschwang.

Mathias sah sie aufmerksam an: "Im Augenblick braucht er uns, aber sobald er wieder flüssig ist, wird er verschwinden. Die Freiheit ging ihm schon damals immer über alles."

"Vielleicht hat er sich geändert?"

"Vielleicht." Leise fügte er hinzu: "Trotzdem: Pass auf dich auf, Flora!"

Sie wurde rot: "Warum sagst du das?"

Er lächelte ihr zu: "Nur so."

Abends, als Mathias schon nach oben gegangen war, schloss sie hinter den letzten Gästen das Restaurant zu. Nur Lutz war noch unten. Er stand so dicht neben Flora, dass ihre Knie weich wurden und sie ein süsses Ziehen im ganzen Körper spürte.

"Ich muss dir etwas sagen, Flora."

Sie hielt den Atem an: "Ja?"

"Ich glaube, ich liebe dich, aber ich möchte Mathias nicht noch einmal eine Frau wegnehmen."

"Aber ... es ist nichts zwischen Mathias und mir. Wir arbeiten zusammen und sind gute Freunde, nichts weiter."

"Mathias liebt dich, ich bin nicht blind."

Sie starrte ihn ungläubig an: "Davon weiss ich nichts."

Er lächelte ihr zu: "Wenn du nicht zu müde bist, könnten wir uns gleich am Strand treffen."

Sie war nicht mehr müde. Sie war selig. Trotzdem fragte sie: "Was hast du denn weiter vor, Lutz? Ich meine, willst du hier bleiben?"

Lutz blickte sie überrascht an: "Meinst du, dass das möglich ist?"

"Morgen sprechen wir mit Mathias. Arbeit gäbe es genug für drei."

"Einverstanden." Er küsste sie leicht auf die Wange. "Also, bis gleich am Strand? Für den Fall, dass Mathias noch nicht schläft, ist es besser, wir gehen getrennt dorthin. Ich möchte ihm nicht unnötig weh tun. In Ordnung?"

Es gefiel ihr nicht, Mathias zu hintergehen, aber die Sehnsucht nach Lutz war zu stark, und sie kannte Mathias' Meinung über ihn. Er würde sie, hoffte sie, bald ändern. Sobald sie mit ihm gesprochen hatten.

"Geh du voraus", schlug sie vor. "Ich komme nach."

Als sie die Tür zum Treppenhaus öffnete, um die schmutzige Wäsche unter die Treppe zu legen, hörte sie oben Mathias' Stimme: "Darf ich wissen, was für Pläne du für die nahe Zukunft hast, Lutz? Morgen ist der Erste."

Flora hielt den Atem an. Jetzt würde Lutz ihm sagen, dass er weiter mit ihnen arbeiten wollte. Statt dessen hörte sie ihn lachen: "Keine Bange, du wirst mich bald los sein, spätestens nächste Woche ziehe ich weiter. Mein Herr Bruder hat wie jeden Monat brav das Geld auf mein Konto überwiesen."

"Hast du das Flora schon gesagt?"

"Noch nicht."

"Und wann wirst du das tun?"

"Kannst du das nicht mir überlassen? Hör zu, ich würde mich gern weiter mit dir unterhalten, aber ich hab ein Rendezvous am Strand. Ich wollte nur schnell andere Schuhe anziehen."

"Ein Rendezvous mit Flora?"

"Geht dich das etwas an? Ich weiss, dass du sie liebst, aber deswegen brauchst du nicht den Aufpasser zu spielen. Sie selbst empfindet nur Freundschaft für dich, hat sie mir gesagt."

"Das ist ihr Recht, aber es ist nicht dein Recht, mit ihren Gefühlen zu spielen. Wenn es Flora ist, und du ihr weh tust, bekommst du es mit mir zu tun", sagte Mathias ruhig.

Wieder lachte Lutz: "Du bist wie mein Bruder. Ihr nehmt alles so tierisch ernst."

Flora hörte Schritte die Treppe herunterkommen und versteckte sich rasch in der Niesche unter der Treppe. Fröhlich pfeifend ging Lutz so dicht an ihr vorüber, dass sie ihn hätte berühren können. Noch vor fünf Minuten hatte sie ihrem Rendezvous entgegengefiebert, jetzt fühlte sie sich, als hätte man einen Kübel Eiswasser über sie ausgeschüttet ...

Als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, fuhr Mathias, der am Fenster stand, herum.

"Oh, du bist es", lächelte er. "Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte, du wärst mit Lutz verabredet."

"Ich war es", erwiderte sie leise, "aber dann habe ich, ohne es zu wollen, euer Gespräch mit angehört."

"Das tut mir leid ..."

"Braucht es nicht", entgegnete sie tapfer. "Im Gegenteil."

Plötzlich stieg Röte in Mathias' Gesicht. Wenn Flora das Gespräch mit angehört hatte, wusste sie auch, dass er sie liebte ...

"Warum hast du mir nie gesagt, dass du mich liebst?" fragte sie nun auch ganz leise.

"Ich ... mir fehlte der Mut. Du bist so schön."

"Du siehst auch gut aus, Mathias."

"Nicht so gut wie Lutz."

"Dein Herz ist aber viel schöner. Und darauf kommt es an."

Sie trat dicht an ihn heran und lehnte den Kopf an seine Schulter. Als seine Arme sich fest und warm um sie schlossen, fühlte sie sich den Tränen nahe und gleichzeitig auf geheimnisvolle Art getröstet.

"Hast du noch ein wenig Geduld mit mir?" bat sie. "Euer Gespräch mit angehört zu haben, hat mir die Augen geöffnet und mich von meiner Blindheit geheilt, aber ... ich muss das noch irgendwie verarbeiten."

"Du hast alle Zeit dieser Welt", sagte er ernst. So standen sie lange da, er wiegte sie sanft in seinen Armen, und in ihr wuchs die Gewissheit, dass dies und kein anderer der Mann ihres Lebens war, der Mann, der sie glücklich machen würde ...

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 16. März 2013
Ein verflixter zweiter Honigmond
Zwanzig Jahre nach ihrer Hochzeitsreise sind Friedrich und Doris wieder in Paris. Aber diesmal ist alles anders als damals in den Flitterwochen: Friedrich hat eine junge Geliebte, die in der Stadt der Liebe auf ihn wartet, und Doris weiss längst Bescheid …
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Friedrich fühlte sich unbehaglich in dem Hotelzimmer, in dem das Doppelbett den ganzen Raum einzunehmen schien. Verlegen wandte er den Blick ab und platzte heraus: “Was für eine blöde Situation! Hättest du den Kindern nicht reinen Wein einschenken können?”

Seine Frau Doris war gerade dabei, ein Kleid auf den Bügel zu hängen. “Warum ich? Du bist es doch, der sich anderweitig verliebt hat.”

“Du stehst ihnen aber näher!”

“So ein Unsinn, Friedrich. Der wahre Grund ist, dass es dir unangenehm ist”, konterte sie bissig.

“Wie sind sie bloss auf die Idee gekommen, uns dieses Wochenende in Paris zu schenken?” seufzte er irritiert.

“Claudia und Kai wollten, dass wir unseren zwanzigsten Hochzeitstag richtig schön feiern. In Paris, wo wir auch in unseren Flitterwochen waren. Wir haben ihnen doch so oft davon vorgeschwärmt. Sie haben sogar unser kleines Hotel von damals in Montmartre ausfindig gemacht. Das hat mich sehr berührt.” Leise fügte sie hinzu: “Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass wir in den letzten Monaten wenig Zeit füreinander hatten.”

“Eine schöne Bescherung, ich sag’s ja!” Friedrich sah wütend aus.

Doris betrachtete ihn nachdenklich. Seine Schläfen fingen an, grau zu werden, zwei Falten hatten sich in seine Stirn eingegraben. Aber der Mann, in den sie sich vor über zwanzig Jahren verliebt hatte, sah immer noch gut aus.

Schmerz und Bitterkeit schwappten in ihr hoch. Was war aus ihrer wunderbaren Liebe geworden? Vielleicht hatten sie doch zu jung geheiratet? Sie war gerade erst 20 gewesen, er 26. Gemeinsam waren sie durch dick und dünn gegangen, hatten zwei Kinder grossgezogen; sich geliebt und auch gestritten, und es hatte himmlische Versöhnungen im Bett gegeben. Nur in den letzten Jahren hatten sie sich wohl etwas aus den Augen verloren.

Friedrich war ein vielbeschäftigter Anwalt, und sie selbst nahm, seit die Kinder fast erwachsen waren, wieder mehr Arbeiten als Übersetzerin an. Trotzdem hatte sie geglaubt, dass ihre Ehe immer noch glücklich wäre. Bis Friedrich ihr vor zwei Wochen gestanden hatte, dass er eine andere Frau liebte. Sie hiess Nathalie, und altersmässig hätte sie seine Tochter sein können …

“Sieh dir das Zimmer an”, murmelte Friedrich. “Diese hässlichen Tapeten. Davon bekommt man ja Alpträume.”

Wider Willen musste Doris lachen. “Es hatte schon damals hässliche Tapeten, diese sind neu, aber nicht hübscher. Und das Bett hatte damals eine Kuhle, in der wir uns immer …” Sie hielt inne, als sie sein verdrossenes Gesicht bemerkte. Und plötzlich wurde sie wütend. “Ausserdem kann es dir doch egal sein”, ereiferte sie sich. “Du wirst ja doch nicht hier schlafen. Geh doch zu deiner Nathalie. Sie wartet bestimmt schon auf dich!”

Friedrich hatte für sich und Nathalie eine Suite in einem Luxushotel reserviert, es seiner Frau aber nicht erzählt. “Ich möchte dich wenigstens in einem besseren Hotel unterbringen”, schlug er schuldbewusst vor.

“Nein danke”, erwiderte sie kühl. “Es ist ein Geschenk der Kinder, und mir gefällt es ausgezeichnet hier!”

“Wie du möchtest. Dann hole ich dich also am Montag hier ab, und wir fliegen zusammen zurück?”

“Flieg mit deiner Nathalie zurück, ich komme schon allein zurecht.”

“Was machst du die beiden Tage?”

“Das geht dich nichts an. Ich stelle ja auch keine Fragen.” Energisch schob sie ihn aus dem Zimmer und schloss hastig die Tür hinter ihm, damit er ihre Tränen nicht sah.

Es war das erste Mal, dass sie ihren Hochzeitstag getrennt verbringen würden. Und schlimmer noch: Friedrich würde mit einer anderen Frau zusammen sein! Doris wusste sogar, wo. Sie hatte unfreiwillig das Telefongespräch mit angehört, als Friedrich die Suite reserviert hatte. Für Herrn und Frau Hilpert! Er gab Nathalie schon als seine Ehefrau aus! Wie würde es bloss weitergehen mit ihnen? Bis jetzt hatte sie es vermieden, über die Zukunft zu sprechen, und Friedrich hatte sie noch nicht um die Scheidung gebeten. Doris hatte deshalb gehofft, dass Nathalie nur eine kurze Affäre wäre, dass alles wieder gut werden würde. Aber dieses Wochenende war er zu weit gegangen, denn er hatte sich mit seiner Geliebten in Paris verabredet. Dieser Mistkerl! Doris dachte allerdings nicht daran, sich mit der Rolle der betrogenen Ehefrau abzufinden. Es wurde höchste Zeit, dass sie etwas unternahm. Sie schlug die Zeitung auf, die sie vorhin gekauft hatte, und war plötzlich hellwach …
_ _ _

Friedrich warf sich unwillkürlich in die Brust, als er mit Nathalie die Hotelbar betrat. Sie sah umwerfend sexy aus in ihren hautengen Leggings und dem stilvollen Longtop. Voller Besitzerstolz stellte er fest, dass sie die Blicke der anwesenden Männer auf sich zog.

“Was möchtest du trinken?” fragte er galant, nachdem sie sich gesetzt hatten.

Aber Nathalie sah sich erstmal beeindruckt um. Kein Mann hatte sie je so verwöhnt wie Friedrich - und ihr Freund Lothar schon gar nicht. Mit dem hatte sie sich zuletzt nur noch gestritten, und immer war’s um Geld gegangen. Er hatte ihr Verschwendungssucht vorgeworfen, sie ihm Geiz. Nach dem letzten Streit hatte sie ihn mitten auf der Strasse stehen lassen. An einer Ampel war sie tränenblind bei Rot über die Strasse gelaufen, genau vor ein Auto. Sie hatte das Quietschen der Bremsen noch im Ohr. Der Fahrer - es war Friedrich gewesen - war sofort ausgestiegen und hatte besorgt gefragt: “Sind Sie verletzt?”

“Nein, ich hab nur einen Schreck bekommen.” Ihre Stimme hatte hoch und zittrig geklungen. Wie gut es getan hatte, als Friedrich, statt zu schimpfen, sie ins nächste Café geführt, fürsorglich einen Cognac bestellt und ihr sein blütenweissen Taschentuch überreicht hatte, damit sie ihre Tränen trocknen konnte. Später hatte er sie mit seinem tollen Audi bis vor ihre Haustür gebracht. Sie hatte ihn gefragt, wohin sie ihm das Taschentuch zurückbringen dürfte, und er hatte ihr die Adresse seiner Kanzlei gegeben.

Gleich am nächsten Tag hatte sie ihm das frisch gewaschene und gebügelte Taschentuch gebracht und ihm ohne Umschweife erklärt, dass sie ihn gern wiedersehen würde, dass sie ihn bewunderte und sich in ihn verliebt hätte. Er hatte gelacht und ihr gesagt, dass er verheiratet sei.

“Das ist für mich kein Hindernis”, hatte sie ihm ernsthaft erklärt.

So hatte ihre Affäre begonnen. Vor einem Monat. Mit Lothar lief jetzt natürlich überhaupt nichts mehr. Im Vergleich zu Friedrich schnitt er in jeder Hinsicht schlecht ab. Friedrich machte ihr Komplimente, schenkte ihr Blumen, führte sie aus, trug sie auf Händen. Selbst im Bett war es mit ihm wunderbar. Er erriet ihre geheimsten Wünsche. Gut, er war 20 Jahre älter als sie und verheiratet. Aber vielleicht würde er sich ja scheiden lassen? Seine Frau war sicher so ein langweiliges, biederes Hausmütterchen …

“Nathalie, was möchtest du trinken?” wiederholte Friedrich lächelnd seine Frage.

“Oh, entschuldige. Einen Martini, bitte.”

Friedrich orderte die Drinks und sonnte sich in der Bewunderung, die er in Nathalies Augen las. Endlich konnte er eine Frau mit seinen bescheidenen Französischkenntnissen beeindrucken. Gegen Doris’ perfektes Französisch hatte er nie eine Chance gehabt. Und je mehr sie übersetzte, dachte et bitter, desto weniger Zeit hat sie für mich. Für Doris kamen zuerst die Kinder, dann ihr Beruf und zuletzt er. Als er sich einmal beklagt hatte, hatte sie gleich gekontert, dass er selbst kaum einmal vor acht Uhr abends nach Hause käme. Aber da gab es einen gewaltigen Unterschied, fand er. Er musste arbeiten, um für seine Familie zu sorgen, seine Frau nicht. Was Doris jetzt wohl machte? Ob sie den Abend allein im Hotel verbrachte?

Der Barkeeper stellte die Drinks auf die Theke. Friedrich schüttelte die störenden Gedanken ab und wollte Nathalie gerade mit seinem Whisky zuprosten, als eine Frau neben ihm auf den Hocker glitt. Ihre Stimme, die etwas auf flüssigem Französisch sagte, liess Friedrich erstarren. Vorsichtig wandte er den Kopf.

“Oh, guten Abend, Friedrich”, strahlte Doris ihn mit gut gespielter Überraschung an. “So ein Zufall aber auch. Darf ich bekannt machen? Cédric Carrier - Friedrich Hilpert.”

Es war ein äusserst attraktiver Mann, wie Friedrich unangenehm berührt feststellte, aber auch Doris sah hinreissend aus, wirkte entspannt und selbstsicher. Sie trug ein elegantes Kleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Das dunkle Haar war modisch geföhnt, und ein raffiniertes Make-up liess ihre grünen Augen geheimnisvoll schimmern. Ihrer Figur war nicht anzusehen, dass sie zwei grosse Kinder hatte.
Ihr Begleiter liess sie zudem nicht aus den Augen. Wo hatte Doris ihn kennengelernt? Und wann? Friedrich fiel ein, dass Doris vor einiger Zeit beruflich in Paris gewesen war.

“Wie ich sehe, bist du ebenfalls in Begleitung”, fuhr Doris liebenswürdig fort. “Willst du uns nicht miteinander bekannt machen?”

“Äh …” Friedrich räusperte sich.

“Lass nur. Sie sind Nathalie, nicht wahr? Friedrich hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Doris, seine Frau. Ich hoffe, Sie amüsieren sich gut mit meinem Mann?”

“Doris, wir hatten abgemacht, die beiden Tage getrennt zu verbringen!” Er sah sie scharf an.

“Natürlich. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass ihr hier in diesem Hotel abgestiegen seid? Wir gehen sowieso gleich wieder, nicht wahr, Cédric? Wir wollten hier nur einen Apéritif trinken.”

Der Franzose orderte zwei Campari, Doris Lieblingsaperitif. Woher wusste er das? Seine gepflegte Hand lag beschützend auf der ihren. Die beiden unterhielten sich leise miteinander, während Doris genüsslich ihren Campari trank. Sie wirkten so vertraut. Bestimmt kannten sie sich schon länger! Friedrich fühlte sich elend und war erleichtert, als sie sich endlich verabschiedeten. Sie wollten bei einem Japaner zu Abend essen, vertraute Doris Friedrich und Nathalie an.

“Wieso ist denn deine Frau auch hier in Paris?” maulte Nathalie, als sie wieder allein waren.

“Es hat sich so ergeben”, wich Friedrich aus. Er konnte Nathalie doch schlecht sagen, dass ihre beiden Kinder ihnen diese verflixte Reise zu ihrem 20. Hochzeitstag geschenkt hatten.

“Du hast ihr also von mir erzählt?”

“Das schien mir ehrlicher zu sein.”

“Aber doch nicht, dass wir hier sind?”

“Natürlich nicht!” Um weiteren Fragen vorzubeugen, küsste er sie und sagte: “Jetzt denken wir aber nicht mehr an Doris, okay? Ich wusste nicht, dass sie einen anderen hat, aber letztlich bin ich froh darüber, das macht nämlich alles einfacher.”

“Dann hör auch auf, über sie zu reden”, verlangte Nathalie frostig.
_ _ _

Friedrich lag schon im Bett, als Nathalie endlich aus dem Bad kam. Sie hatte den Luxus dort genossen. Zärtlich betrachtete er ihren jungen, makellosen Körper, der ihn so erregte. Mit Nathalie war die Liebe berauschend. Wie am Anfang mit Doris … Wie schön Doris ausgesehen hatte, wie verliebt. Ob dieser Cédric Soundso jetzt ihren warmen Körper in den Armen hielt? Ob er ihr kleines Muttermal auf ihrer linken Brust küsste? Er spürte, wie ihm heiss wurde. Hatte sie überhaupt bedacht, dass dieser Schnösel viel zu jung für sie war? Dass sie vielleicht eine Enttäuschung mit ihm erleben würde? Oder wollte sie nur ein Abenteuer für eine Nacht? Aber das passte nicht zu Doris. Oder irrte er sich? Er hatte plötzlich das Gefühl, seine Ehefrau gar nicht richtig zu kennen. Früher hatte er, Friedrich, dieses glückliche Lächeln auf ihre Lippen gezaubert. Es tat auf einmal sehr weh, dass sie es einem anderen schenkte …

Nathalie kam sich allmählich blöde vor, nackt im Bett zu liegen, mit einem Mann, der mit seinen Gedanken woanders war. Bei seiner Frau, könnte sie wetten. Sie musste zugeben, dass Doris viel attraktiver war, als sie angenommen hatte, und dass sie Format hatte. Nathalie war überzeugt davon, dass Doris ihnen eine Kommödie vorgespielt hatte, dass sie Friedrich immer noch liebte. Und Friedrich liebte sie auch noch. Sie, Nathalie, war ja schliesslich nicht blind und taub. Die Liebe war doch komplizierter, als sie je gedacht hatte. Es genügte nicht, nur zu nehmen. Man musste auch geben - und manchmal um die Liebe kämpfen. Nathalie gestand sich insgeheim ein, dass sie Doris bewunderte.

Sie zog das Laken über ihre Brust und verdrehte seufzend die Augen: “Na toll, es ist ihr also gelungen, dich eifersüchtig zu machen.”

Ja, er war eifersüchtig. Gleichzeitig aber auch traurig, beschämt und verwirrt. Ihm war jetzt klar, dass er Doris immer noch liebte - und dass er sich feige in dieses Abenteuer mit Nathalie gestürzt hatte, anstatt sich ehrlich mit seiner Frau auseinanderzusetzen.

“Weisst du, in welchem Hotel sie abgestiegen ist?” fragte Nathalie etwas weicher.

Als er nickte, sagte sie: “Dann geh zu ihr. Aber vergiss nicht, unten die Rechnung zu bezahlen, okay? Ich möchte nämlich den Aufenthalt hier noch richtig auskosten.”

Wenigstens verlor sie nicht ihren Sinn für’s Praktische. Darüber musste Friedrich nun doch lachen. “Keine Bange, ich denke daran”, beruhigte er sie und beschloss, ihr zusätzlich ein Geldgeschenk zu hinterlassen, für ihre sonstigen Ausgaben.

Bevor er ging, umarmte er sie noch einmal: “Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Du bist wunderbar, Nathalie.”

Sie lächelte ihm zu und meinte nachdenklich: “Tja, ich glaube, ich werde jetzt mal bei Lothar anrufen.”
_ _ _

“Danke, Cédric”, lächelte Doris dem Mann zu, der sie nach dem Essen zum Hotel zurückgebracht hatte. “Es war ein wunderschöner Abend.” Sie reichte ihm einige Geldscheine. “Hier ist Ihr Honorar, ist das genug?”

“Das ist viel zu viel, Doris. Sie bekommen etwas zurück.”

“Behalten Sie es bitte, Sie waren wirklich fabelhaft!” Sie empfand ein Gefühl des Bedauerns. Cédric, ein arbeitsloser Schauspieler, der sich “ein Vergnügen daraus machen würde, Damen jeden Alters, die nicht allein ausgehen möchten, in allen Ehren und in der gewünschten Garderobe zu begleiten”, wie in der Anzeige stand, sah wirklich umwerfend gut aus. Und Charme hatte er auch.

Er hatte sie verabredungsgemäss um sieben Uhr im Hotel abgeholt, und sie hatte ihm erklärt, was sie von ihm erwartete. Vorher hatte sie noch genügend Zeit gehabt, ein neues Kleid zu kaufen, ein entspannendes Bad zu nehmen und sich sorgfältig zurechtzumachen. So wie früher, wenn sie mit Friedrich ausgegangen war. Dabei war ihr klar geworden, dass sie sich schon lange nicht mehr für ihren Mann hübsch gemacht hatte. Und wann hatte sie ihm zuletzt gesagt, dass sie ihn liebte - und bewunderte? Die junge Nathalie bewunderte ihn so offensichtlich. Vielleicht unterschätzte sie die junge Frau als Gegnerin? Aber was jetzt auch geschehen mochte, wenigstens fühlte sie sich nicht mehr als Opfer. Sie waren quitt.

Cédric wünschte, er könnte auf das Geld verzichten, aber er brauchte es dringend.

“Danke, Doris”, sagte er, “auch für mich war der Abend wunderschön.” Und dann setzte er charmant hinzu: “Darf ich Sie küssen? Aber das ganz privat. Sie haben mich bezaubert. Und beeindruckt.”

Er nahm sie in die Arme. Als sich ihre Lippen berührten, bekam Doris weiche Knie. So einen Kuss hatte sie schon lange nicht mehr bekommen … Als sie die Augen wieder öffnete, nachdem er sie vorsichtig losgelassen hatte, stand plötzlich Friedrich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr. Ein Taxi fuhr hinter ihm fort.

“Was machst du hier?” fragte Doris mit klopfendem Herzen. Sie registrierte, dass Cédric gegangen war. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt.

“Ich habe mit Nathalie Schluss gemacht”, erklärte er dumpf, “oder vielmehr sie mit mir. Doris, ich liebe dich immer noch … aber vielleicht ist es zu spät? Liebst du diesen Cédric? Ihr habt euch geküsst …”

Er sah unglücklich aus. Und eifersüchtig schien er auch zu sein. Herrlich eifersüchtig. Vielleicht würde sie ihm später einmal gestehen, was es mit Cédric auf sich hatte. Vielleicht würde sie es aber auch für sich behalten. “Komm”, sagte sie weich, “es wird höchste Zeit, dass wir uns mal aussprechen.”

Zwei Stunden lang redeten sie sich alles von der Seele und tranken dabei eine Flasche Sekt aus der Minibar. Die Luft war danach bereinigt, aber die grosse Versöhnung im Bett fand nicht statt. Jeder lag an der äussersten Kante, sorgfältig bedacht, den anderen nicht zu berühren. Sie waren halt älter geworden, dachte Doris traurig. Die Wunden waren zu frisch und zu tief. Sie würden Zeit brauchen, um zu verheilen …

Als Doris irgendwann in der Nacht aufwachte, lagen sie beide in der Mitte des Bettes, und Friedrich hatte die Arme um sie geschlungen. Das schwache Licht einer Strassenlaterne fiel ins Zimmer. Friedrich sah glücklich aus im Schlaf, und auch sie lächelte unwillkürlich. Mit einem wohligen Seufzer kuschelte sie sich wieder in seinen Armen zurecht.

Nun wachte er ebenfalls auf. Der Druck seiner Arme verstärkte sich. Wie von allein fanden sich ihre Lippen, ihre Körper. Die Kuhle, schoss es ihr durch den Kopf, die Kuhle wie auf unserer Hochzeitsreise, in der wir uns immer wiederfanden! Und dann dachte sie nur noch an den geliebten Mann. Es war wie vor zwanzig Jahren - nur viel schöner …

ENDE

... link (0 Kommentare)   ... comment