Dienstag, 5. Februar 2013
Verliebt in einen Taugenichts
Wieder einmal ist Heiko versackt. Wieder einmal braucht er Geld - das seine Freundin Marion, eine erfolgreiche Rechtsanwältin, ihm wieder einmal „vorstreckt“. Ihr Kollege Mathias fragt sich, wie lange sie sich noch derart schamlos ausnutzen lassen wird …
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Marion Kamden hängte ihre Schultertasche um und griff nach den Wagenschlüsseln. Sie wollte gerade die Wohnung verlassen, als zwei Arme sie umfingen und sich eine stoppelige Wange an der ihren rieb: “Du willst doch nicht etwa ohne einen Kuss gehen?”

Einen Augenblick war sie versucht, zu verzeihen. Wieder einmal. Nach einer durchbummelten Nacht, verkatert, unrasiert und mit zerknitterter Schlafanzughose, sah Heiko immer noch umwerfend gut aus.

Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, wie ihre Versöhnungen gewöhnlich endeten.

“Wieviel?” fragte sie.

Er seufzte: “Wie du das sagst, Schatz! Also gut, könntest du mir 400 € vorstrecken? Ich habe leider ein paar Schulden gemacht.”

Sie schrieb rasch einen Scheck aus und legte ihn auf das Dielenschränkchen.

“Du bekommst sie zurück. Ehrenwort. Sobald ich Arbeit gefunden habe …”

“Apropos Arbeit”, unterbrach sie ihn nach einem raschen Blick auf die Armbanduhr: “Vergiss bitte nicht, dass Frank Wetzloh heute Abend zum Essen zu uns kommt.”

Heiko war ein ausgezeichneter Koch - wenn er wollte.

“Natürlich denke ich daran. Wie wär’s mit Lammkoteletts? Um den Rest kümmere ich mich natürlich auch.”

Marion war angenehm überrascht. Nun gab sie ihm doch einen Kuss und fuhr dann mit einem etwas leichteren Herzen in die Kanzlei. Es wurde höchste Zeit.

Im Vorübergehen steckte sie ihren Kopf in Mathias’ Büro. “Guten Morgen, Math. Tut mir leid, ich habe mich verspätet.”

Mathias Bendrat und sie kannten sich vom Rechtsstudium her. Vor zwei Jahren hatten sie eine Sozietät gegründet, die inzwischen gut lief.

Er sah sie prüfend an: “Hattest du wieder Ärger mit deinem Schützling?”

“Nun ja”, gab sie ungern zu. “Er war mal wieder die halbe Nacht draussen, und ich habe mir Sorgen gemacht.”

“Wann wirfst du ihn endlich ‘raus?”

“Es wird sicher alles besser, wenn er endlich Arbeit findet. Heute Abend kommt Frank Wetzloh. Er sucht einen Grafiker für seine Werbeagentur. Ich habe ihm ein paar Zeichnungen von Heiko gezeigt.”

“Seit Heiko bei dir wohnt, habe ich ihn nie zeichnen sehen.”

“Das stimmt. Er war nicht sehr motiviert in letzter Zeit, aber er hatte auch so viel Pech in seinem Leben.”

“Er ist ganz einfach faul”, unterbrach Mathias sie. “Warum fällt eine patente, erfolgreiche und attraktive Frau wie du auf eine solche Niete herein?”

“Mathias, bitte!” Ihre Stimme hatte etwas Flehendes.

Er besann sich sofort: “Verzeih, Marion. Ich kann’s nur nicht mit ansehen, wie du dich von diesem Kerl ausnutzen lässt.”

“So schlimm ist es doch gar nicht. Heiko hat auch gute Seiten”, verteidigte sie den Mann, den sie liebte.

Mathias verzog skeptisch das Gesicht, aber er brummte gutmütig: “Du weisst, ich bin da, wenn du mich brauchst.”

“Ja, ich weiss es. Danke, Mathias.”

Es fiel ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie dachte, dass Mathias nichts von ihren wahren Problemen wusste. Als Jugendliche hatte sie ihre unkleidsame Brille und die Pfunde, die sie zuviel auf die Waage brachte, gehasst. Sie hatte nie einen Freund gehabt.

Und dann, in der Oberstufe, war Heiko Larcher neu in die Klasse gekommen. Alle Mädchen hatten ihn umschwärmt. Auch sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt. Mit allen anderen war er ausgegangen, nur nicht mit ihr. Dabei hatte er neben ihr gesessen. Aber als sie Heiko vor einem Jahr zufällig auf einer Vernissage wiederbegegnete, hatte ihr seine unverholene Bewunderung gut getan. Sie trug jetzt Kontaktlinken, die überflüssigen Pfunde waren weg, und sie hatte es gelernt, sich gut zu kleiden und selbstsicher aufzutreten. Aber tief in ihr schlummerte immer noch das komplexbeladene junge Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Heiko war den ganzen Abend nicht von ihrer Seite gewichen. Er erzählte ihr, dass er sein Kunststudium abgebrochen hatte, weil er ein verlockendes Angebot einer Londoner Werbeagentur erhalten hatte. Nebenbei malte er, und ein Galeriebesitzer war so beeindruckt, dass er ihm eine Ausstellung in Aussicht gestellt hatte. Heiko kündigte in der Werbeagentur, um sich in Ruhe auf die Ausstellung vorzubereiten, und promt machte die Galerie pleite.

Sie hatten den Abend in einem kleinen, gemütlichen Restaurant fortgesetzt. Von da an hatten sie sich jeden Tag gesehen, und einen Monat später war er zu ihr gezogen. Seitdem tat sie alles, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen.

Obwohl Heiko versprochen hatte, sich um das Abendessen zu kümmern, ging sie etwas früher nach Hause.

In der Küche stand noch das schmutzige Frühstücksgeschirr. Keine Spur von Vorbereitungen. Nichts war getan, und Heiko war verschwunden! Zum Glück gab es ein japanisches Restaurant ganz in der Nähe, das weit und breit für seine Sushis bekannt war.

Frank Wetzloh ging kurz nach elf. Er bedankte sich für den reizenden Abend und bedauerte höflich, Heiko nicht angetroffen zu haben.

Wieder war ein Versuch gescheitert, und diesmal, fand Marion, war das Mass voll.
Schlafen konnte sie nicht. Sie war zu enttäuscht, zu wütend. Endlich hörte sie Heikos Schlüssel.

Schwankend stand er in der Tür und blinzelte ins Licht. Sie ging an ihm vorüber ins Wohnzimmer, warf eine Decke auf’s Sofa und erklärte: “So, du schläfst hier!”

Er warf sich der Länge nach auf’s Sofa, wobei er fast daneben fiel, und versuchte mit unsicheren Bewegungen, die Decke über sich zu ziehen: “Wie du willst”, murmelte er im Tonfall eines Mannes, dem bitteres Unrecht geschah.

“Heiko”, begann sie am nächsten Morgen. “In vier Stunden fliege ich nach Berlin. Wenn ich am Freitag Abend zurück bin, will ich dich nicht mehr hier sehen!”

Sie war selbst erstaunt, wie leicht sie sich während des Flugs fühlte. Richtig befreit von einer Last.
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Drei Tage später stand sie unten im Haus und schloss den Briefkasten auf. Unter der Post lag der Wohnungsschlüssel. Heiko war also tatsächlich fort.

Etwas beunruhigt betrat sie die Wohnung. Aber alles war blitzsauber und tadellos aufgeräumt. Auf dem Küchentisch prangte eine wundervolle Azalee. Zwischen den lachsfarbenen Blüten steckte eine Karte: “Verzeih mir, Marion. Ich fürchte, ich war eine Zumutung für dich. In Liebe, Heiko.” Darunter ein P.S. : “Sobald es mir möglich ist, bekommst du dein Geld zurück.”

Sie sank auf einen Stuhl. Das war der nette Heiko, der da zum Vorschein kam. Tat sie ihm womöglich Unrecht? Was würde jetzt aus ihm werden? Die Tränen kamen von ganz allein.

Es klingelte. Vielleicht kam er schon zurück? Aber es war Mathias. “Guten Abend, Marion. Ich kam vorbei und sah Licht …”. Erschrocken sah er sie an: “Ist alles in Ordnung?”

“Ach, Math”, seufzte sie. “Heiko ist fort.”

“Das ist ja eine erfreuliche Nachricht”, meinte er ungerührt. “Aber er ist doch wohl nicht von selbst gegangen?”

“Ich hab ihn herausgesetzt.” Sie zog ihn in die Küche und zeigte auf den Tisch: “Statt böse zu sein, hat er mir diese Azalee geschenkt.”

“Von deinem Geld, nehme ich an. Marion, ich wollte dir schon längst etwas sagen …” Er stockte. Sie sah so traurig aus. Nein, er konnte ihr unmöglich sagen, dass er Nachforschungen angestellt hatte über die Zeit, in der Heiko, in London war. Er hatte zwar tatsächlich ein kurzes Praktikum in einer Werbeagetur absolviert, aber von einer festen Anstellung war nie die Rede gewesen. Und die Galerie, die angeblich seine Bilder ausstellen wollte, hatte nie existiert.

“Du hast das einzig Richtige getan”, tröstete er sie. “Hast du überhaupt schon zu Abend gegessen?”

“Kein Hunger.”

“Du musst etwas in den Magen bekommen!” Mathias zauberte mit dem, was er vorfand, eine leichte, schmackhafte Mahlzeit. Er sorgte dafür, dass Marion ass, dann räumte er die Küche auf und verabschiedete sich: “Schlaf gut, Marion. Wenn irgend etwas ist, ruf mich an. Auch nachts, hörst du?” Liebevoll besorgt sah er sie an.

Am nächsten Nachmittag holte er sie zu einem Spaziergang ab und lud sie zum Abendessen ein, und am Sonntag bestand er darauf, dass sie zusammen ins Grüne fuhren. Auch in der folgenden Zeit war er immer für sie da.

Eines Morgens kam er auf der Suche nach einer Akte in ihr Büro. Sinnend sah Marion ihn an. Mathias war nicht sehr gross, aber alles an ihm war solide. Er hatte ein angenehmes Gesicht, er war absolut zuverlässig, loyal, charakterfest. Ja, sie konnte sich vorstellen, dass er eine Frau sehr glücklich machen konnte.

“Also, ich selbst habe ja nur Pech in der Liebe. Aber du, warum bist du eigentlich immer noch nicht verheiratet?” rutschte es ihr heraus.

Er liess sich Zeit für die Antwort. Endlich meinte er: “Kannst du dir das wirklich nicht denken?”

Sie schüttelte verwundert den Kopf.

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. Er räusperte sich und sagte umständlich: “Ich empfinde für dich mehr als ich je für eine andere Frau empfunden habe, aber als ich es dir sagen wollte, war es zu spät. Du warst da schon Heiko wiederbegegnet.”

“Oh, verzeih, Mathias.” Sie küsste ihn zart auf die Wange, wusste nicht, was sie antworten sollte. “Ich bin … ach, Math, du bist der beste Freund, den ich je gehabt habe.”

Einen Augenblick schlossen sich seine Arme fest um sie, dann liess er sie los und brummte: “Genug Zeit verbummelt. Dabei stecken wir bis zum Hals in Arbeit.”
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Es war ein Samstag Abend. Marion sah sich einen alten Spielfilm im Fernsehen an, als es klingelte. Sie öffnete - und erstarrte.

“Hallo, Marion”, lächelte Heiko.

“Wie geht es dir? Hast du Arbeit gefunden?” fragte sie, während sie mühsam versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

“Ich habe mein Auskommen.” Er reichte ihr einen Umschlag: “Ich möchte endlich meine Schulden begleichen.”

“Heiko, das ist wirklich nicht nötig. Du brauchst das Geld für einen neuen Anfang.”

“Bitte”, drängte er. “Du musst das Geld annehmen.” Er drückte ihr einfach den Umschlag in die Hand.

Von der Strasse kam ein kurzes Hupen.

“Ich muss los. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich oft so unmöglich aufgeführt habe. Ehrlich. Ich könnte versuchen, mich zu bessern, wenn du …” Es hupte ungeduldig ein zweites Mal. “Ist ja gut”, ärgerte er sich, “ich komm’ ja schon!”
Vom Fenster beobachtete sie, wie er in einen wartenden Luxuswagen stieg. Am Steuer sass eine Frau.

Marion öffnete den Umschlag und betrachtete nachdenklich den Scheck. Ausgestellt war er von einer Regina Wittelbach. Heiko arbeitete also gar nicht, er hatte nur eine neue Gönnerin gefunden.

Sie zerriss den Scheck in winzige Stücke und liess sie wie Konfetti in den Papierkorb rieseln. Sie wollte kein Geld von ihrer Nachfolgerin. Um nichts in der Welt. Sie stellte plötzlich fest, dass es nicht mehr schmerzte, dass es ihr sogar egal war, mit wem Heiko jetzt zusammen war. Sie erinnerte sich an die ungeduldigen Huptöne. Diese Regina Wittelbach war sicher viel reicher als sie, aber ebenso sicher auch sehr viel anspruchsvoller. Für Heiko schienen schwierige Zeiten angebrochen zu sein.

Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie war blind gewesen. Blind dem wahren Glück gegenüber. Es war die ganzen Jahre so greifbar nahe gewesen, aber sie hatte es nicht wahrgenommen. Sie sah jetzt Mathias so deutlich vor sich, dass sie das Telefon zu sich heranzog.

Nach dem ersten Klingelzeichen wurde abgenommen: “Hier Mathias Bendrat”, meldete er sich.

“Ich bin’s, Marion. Ich wollte dir nur sagen … Heiko war vorhin hier. Ich werde dir alles noch ausführlicher erzählen, aber ich habe gemerkt, dass ich nichts mehr für ihn empfinde. Jetzt fühle ich mich wirklich frei, und wenn du … ich meine … aber vielleicht hast du das ja gar nicht so ernst gemeint …?”

“Stop. Sprichst du von uns, Marion? Da kann ich dich beruhigen. Ich träume jeden Tag von dir, von uns. Wie es sein wird, wenn wir unsere Sozietät erweitern, wenn kleine Soziusse dazukommen, und wenn …” Er hielt ein und fuhr ernst fort: “Ich liebe dich, Marion. Damit hätte ich überhaupt anfangen sollen. Immer meine verdammten Schwierigkeiten, meine Gefühle zu äussern.”

“Bitte, sag es noch einmal. Zur Übung.”

“Ich liebe dich, Marion.”

So schön wie er hatte ihr das noch kein Mann gesagt. “Und ich liebe dich auch, Mathias”, antwortete sie innig. “Sehen wir uns morgen?”

“Ich komme zum Frühstück und bringe Brötchen mit!”

“Und ich koche Kaffee. Ist dir zehn Uhr recht?”

“Ich halte es nicht eine Minute länger als neun Uhr aus.”

Sie lachte. “Neun Uhr. Abgemacht!”

Auf einmal hatten sie sich so viel zu erzählen. Als sie eine Stunde später auflegten, trat Marion ans Fenster und betrachtete die Sterne. Tiefes Glück erfüllte sie. Morgen würde er bei ihr sein. Für immer. Mathias. Der Mann ihres Lebens …

ENDE

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