Freitag, 1. Februar 2013
Wanted: richtige Grosseltern für süsse Zwillinge
Tina und Lothar sind zwar schon Oma und Opa, aber kein bisschen weise: Seit über einem Jahr sind sie zerstritten und leben getrennt. In den Augen ihrer Tochter Anette geben sie aus diesem Grund beklagenswert schlechte Grosseltern ab …
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Tina wollte gerade aus dem Haus gehen, als ihr Telefon trillerte. Sie kehrte noch einmal um: “Kochservice Tina Brede, ja bitte?” meldete sie sich.

“Da hab ich aber Glück, dich anzutreffen.”

Tina lachte: “Anette! Wie geht es euch vieren?”

“Aha, du denkst also ab und zu daran, dass du jetzt Oma bist? Noch dazu von Zwillingen? Ihnen geht’s prächtig, aber Lutz und ich sind dem Zusammenbruch nahe. Wir stecken bis über den Hals in Fläschchen und Windeln und kommen kaum noch zum Schlafen, von anderem rede ich erst gar nicht, aber die Zwillinge sind so süss, selbst wenn man manchmal Lust hat, sie aus dem Fenster zu werfen, nur um mal wieder eine ganze Nacht durchschlafen zu können.” Anette lachte ebenfalls, aber es klang leicht hysterisch.

Tina war noch dabei, das eben gehörte zu ordnen, als ihre Tochter vorwurfsvoll fortfuhr: “Alles ist anders geworden, seit Papa und du euch getrennt habt. War das denn nötig?”

“Herzchen, dein Vater hat mich betrogen!”

“Wie auch immer, ich find’s ja toll, dass du so erfolgreich bist mit deinem Kochservice, aber ich bekomme dich kaum noch an die Strippe, geschweige denn, zu Gesicht. Ich komme mir vor wie ein Waisenkind. Und überhaupt, ich möchte nicht, dass die Zwillinge ohne ihre Oma aufwachsen.”

“Ihr wohnt so weit fort, in Berlin”, zögerte Tina. “Ausserdem war ich doch bei ihrer Geburt da, und es sind erst zwei Monate seitdem vergangen.”

“SCHON zwei Monate”, betonte Anette. “Du wirst sie nicht wiedererkennen. Mami, mit dem Flugzeug bist du doch im Nu hier!”

“Ich komme bald”, versprach Tina hastig, “aber jetzt muss ich los. Muss für eine Familienfeier kochen.”

“Bald ist wann?” hakte ihre Tochter nach. “Bitte, komm nächste Woche, das kannst doch einrichten?”

Tina nahm sich rasch den Terminkalender vor. Es musste einen Schutzengel für unzufriedene Kinder geben, denn bis jetzt war für die nächste Woche nur ein Abendessen vorgesehen. Am Freitag. Es handelte sich um ein reizendes altes Ehepaar, das nicht mehr auswärts essen ging und sich ab und zu von ihr ein Feinschmeckermenü zubereiten und servieren liess.

“Es ginge von Montag bis Donnerstag”, sagte Tina. Sie freute sich nun ebenfalls auf den Besuch bei ihrer Tochter.

“Mami, ich freu’ mich ja so”, jubelte Anette “Es holt dich auch jemand vom Flughafen ab!”
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Lothar Brede stand in der Wartehalle hinter der Absperrung und sah Tina inmitten der anderen Fluggäste die Treppe herunterkommen. Er hob den Arm.

Auch Tina hatte ihn entdeckt und blieb wie angewurzelt stehen. Wie kam Lothar hierher? Er war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte, aber die nachdrängende Menge schob sie schon weiter.

Als sie vor ihm stand, räusperte er sich: “Guten Tag, Tina. Du siehst wunderbar aus.”

“Sag mir nicht, dass unsere Tochter dich auch eingeladen hat?” Tina konnte es nicht fassen.

“Hinbestellt wäre das bessere Wort. Mehr noch, ich sollte mit meinem eigenen Wagen kommen. Sie hat mir erst vorhin gesagt, warum, nämlich weil ich dich vom Flughafen abholen sollte, was ich mit dem grössten Vergnügen tue.” Er verbeugte sich leicht.

Wenn, ist das Vergnügen nur auf deiner Seite, dachte sie grimmig. Sie fühlte sich überrumpelt, in ihr herrschte ein unglaubliches Durcheinander von Gefühlen: Wut, Schmerz, Enttäuschung, als wäre alles erst gestern geschehen und läge nicht schon über ein Jahr zurück. Am liebsten hätte sie ihm den Hals umgedreht und wäre in die nächste Machine zurück nach Hamburg gestiegen, aber als sie ihn jetzt wieder ansah, mischte sich zu ihrer grossen Verwunderung ein Gefühl hinein, dass auf verdächtige Weise Wiedersehensfreude glich. Sein Haar war ein wenig grauer geworden, aber es stand ihm gut. Und er hatte abgespeckt, sein Bauch war fast weg. Und dann war sie doch der Zwillinge wegen gekommen, da konnte es ihr doch wohl egal sein, dass ihr flatterhafter Noch-Gatte ebenfalls da war?

Sie sassen in seinem komfortablen Auto und fuhren schon eine Weile, als Tina spitz fragte: “Und wie geht es Agnes?”

“Gut, nehme ich an”, erwiderte er und fügte leise hinzu: “Wir haben uns getrennt.”

Sie fühlte sich wie jemand, dem plötzlich der Wind aus den Segeln genommen wurde, entschied dann aber, dass sie Tatsache, dass er sie betrogen hatte, weiterbestand, ob er sich nun von dieser Schnepfe getrennt hatte oder nicht.”

“Ich war die letzten beiden Monate oft geschäftlich in den Staaten und konnte zur Geburt der Zwillinge nur einen Glückwunsch schicken”, fuhr er fort. “Es wurde höchste Zeit, dass ich sie besuche.” Er grinste ein bisschen: “Ich bin seit gestern da und hab schon eine schlaflose Nacht hinter mir. Die beiden Burschen haben ausgesprochen kräftige Lungen.”

“Ich hoffe, wir schlafen nicht im selben Zimmer?” fragte sie argwöhnisch.

“Nein, du bekommst das Gastzimmer. Ich muss mit dem Sofa im Wohnzimmer vorlieb nehmen.”

Schadenfroh erinnerte Tina sich daran, dass es ein höchst unbequemes Sofa war.
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“Psst”, flüsterte Anette, als sie ankamen, “die Zwillinge schlafen gerade.” Sie bot den Anblick eines Menschen, der selbst Schlaf dringend nötig hatte. Ihr schönes blondes Haar war achtlos hochgebunden, die blauen Augen vor Müdigkeit rosa gerändert. Sie trug eine zerknitterte Schürze, die aussah, als würde sie nie abgelegt. Jetzt umarmte sie ihre Mutter: “Ich bin ja so froh, dass du da bist!” Dann raunte sie: “Du bist doch nicht böse, wegen Papa?”

“Ich bin auch glücklich, hier zu sein, Liebes.” Leise zischte sie zurück: “Du hättest mir Bescheid sagen können!”

“Vati, gehst du schon mal ins Wohnzimmer? Ich koche Tee. Und du, Mami, kommst du mit in die Küche?”

Dort angekommen, schüttelte sie nachsichtig den Kopf: “Bescheid sagen? Damit du weggeblieben wärst? Hat er dir erzählt, dass er sich von dieser Agnes getrennt hat?”

“Hat er. Na und?”

“Ich glaube, es tut ihm leid.”

“Und ich glaube, es ist zu spät.”

“Er ist doch nicht schlecht”, brach Anette eine Lanze für ihren Vater.

“Was würdest du denn machen, wenn dein Lutz plötzlich eine Freundin hätte?”

“Ihm den Kopf abreissen”, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. “Besonders jetzt, wo er mich mit Zwillingen beglückt hat. Nimmst du das Tablett? Ich komme mit dem Kuchen nach.”
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Lutz kam gegen sechs. “Tut mir leid, ich konnte mich nicht früher freimachen. Guten Tag, Tina, guten Tag, Lothar. Ich freue mich, dass ihr beide den Weg zu uns gefunden habt!”

Tina wollte etwas richtigstellen, aber ein Zwilling fing an zu weinen, dicht gefolgt von seinem Bruder. Aus dem zarten Laut wurde rasch Gebrüll. Anette und Lutz flitzten ins Kinderzimmer.

“Das ist Timmy”, stellte Lutz einen Augenblick später sein zeterndes und strampelndes Bündel vor, nachdem er einen verstohlenen Blick auf das Armband geworfen hatte.

“Und das ist Mathias”, folgerte Anette. Sie wandte sich ihren Eltern zu: “Könnt ihr sie mal halten, während Lutz und ich alles vorbereiten? Keine Bange, es kommt nichts durch.”

Ehe sie es sich versahen, sassen Tina und Lothar jeder mit einem Zwilling auf dem Schoss da. Timmy und Mathias verliehen immer noch kreischend und mit hochrotem Kopf ihrem Missfallen Ausdruck. Tina gelang es jedoch, ihrem Exemplar mit zwitschernden Lauten und sanftem Kitzeln ein Lächeln zu entlocken.

“Sieh mal, meiner ist auch auf einmal ganz still”, verkündete Lothar stolz, setzte sich aber einen Augenblick später bolzengerade auf: “Er stinkt!

Es war das erste Mal, dass Tina herzhaft lachte.

Am nächsten Tag zogen sich Tina und Lothar zu einer kurzen Pause ins Gastzimmer zurück. Lothar sass im Sessel, Tina hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht. Jetzt meinte sie: “Die beiden müssten unbedingt einmal ausspannen. Sollten wir ihnen nicht eine Nacht im Hotel schenken?”

“Prima Idee!” Lothar zückte sein Handy und rief das Hotel an, in dem er sich gewöhnlich aufhielt, wenn er geschäftlich in Berlin war. Er reservierte ein Doppelzimmer für das junge Ehepaar, und sie malten zusammen den Gutschein, den sie Anette und Lutz überreichten, sobald Lutz von der Arbeit nach Hause gekommen war: “Das Abendessen ist mit einbegriffen, sie setzen es auf die Rechnung”, informierte Lothar die beiden.

“Vielen Dank, das ist so nett von euch. Aber ihr? Was werdet ihr essen?” fragte Anette.

“Wir lassen eine Pizza kommen”, schmunzelte ihr Vater.

“Und ihr kommt wirklich allein mit den Zwillingen klar?”

“Morgen früh werdet ihr ja sehen, wer von uns vieren überlebt hat”, flachste Lothar.

“Natürlich kommen wir zurecht, wir haben doch nicht alles vergessen”, beruhigte Tina ihrerseits ihre Tochter.

Anette fiel stürmisch zuerst ihrer Mutter, dann ihrem Vater um den Hals. Auch Lutz strahlte: “Danke. Mit nichts anderem hättet ihr uns eine grössere Freude machen können!”

Nach den letzten Instruktionen an ihre Eltern packte Anette erstaunlich schnell einen kleinen Übernachtungskoffer für sich und Lutz. Ein letztes Winken, dann waren sie fort.

Als Tina und Lothar wenig später den zufriedenen Sauggeräuschen der Zwillinge lauschten, meinte Tina leise: “Das erinnert mich an Anette, als sie noch ein Baby war. Du warst ein guter Vater, weisst du das? Damals war es gar nicht so selbstverständlich, dass Väter Babys wickeln und füttern.” Warum machte sie ihm plötzlich Komplimente? Lag es daran, dass sie hier so einträchtig nebeneinander sassen, jeder mit seinem Baby im Arm? Sie gab sich einen Ruck und fragte: “Warum ist das mit Agnes passiert?”

Lothar hatte selbst lange darüber nachgedacht. Er hoffte, dass Tina ihm zuhören würde, ohne gleich zu explodieren. Aber gerade spuckte Timmy mit Hilfe seiner kleinen rosigen Zunge den Sauger aus, und Lothar musste das Fläschchen abstellen und Timmy vorsichtig an seine Schulter legen. Tina konnte gerade noch ein Tuch darunterschieben, als sich zusammen mit einem kräftigen Bäuerchen ein kleiner Schwall Milch über besagte Schulter ergoss.

“Danke für das Tuch”, grinste Lothar.

“Gern geschehen”, grinste Tina zurück.

Timmy lag wieder friedlich in Lothars Armbeuge, und dieser sprach auf seinen Enkel hinunter: “Es ging mir damals nicht gut.”

Tina klopfte sanft auf Mathias Rücken, der ohne Milchrückstoss einen satten Rülpser von sich gab. “Du meinst, weil ich gerade anfing, richtig Erfolg zu haben mit meinem Koch-Service?” Mathias wegen kam es weniger scharf heraus, als sie wollte. Sie hatte mit dem Koch-Service angefangen, weil das Haus ohne Anette ihr so leer vorkam. Nach der ersten, schwierigen Zeit tat die Mundpropaganda ihr Werk, und plötzlich konnte sie sich vor Aufträgen kaum noch retten. Sie war stolz auf sich und restlos begeistert. Es hatte sie geärgert, dass Lothar sich mehr und mehr innerlich zurückzog, dass er immer schweigsamer wurde. Wenn sie bei anderen Leuten kochte, stellte sie ihm seine Mahlzeit in die Mikrowelle, aber Lothar hatte angefangen, auswärts zu essen. Inzwischen hatte er nämlich Agnes kennengelernt. Seine Desertion tat auch heute noch weh.

“Du hättest ein klein wenig Verständnis für mich haben können. Die ganzen Jahre habe ich dich mit Liebe bekocht, und wir haben gemeinsam gegessen, aber das zählte plötzlich nicht mehr?”

“Das war es ja gar nicht”, erwiderte er schwerfällig. “Weisst du, in der Zeit hatte ich gerade meinen wichtigsten Kunden verloren. Ich wusste nicht, wie es beruflich weitergehen sollte.”

“Lothar, davon hast du mir überhaupt nichts erzählt”, sagte Tina erschrocken.

Die Zwillinge waren eingeschlafen, und sie brachten sie vorsichtig zu Bett. Bei Tisch setzten sie ihre Unterhaltung fort. Die Pizza, die Lothar bestellt hatte, war er Gedicht, der Roséwein ebenfalls.

“Ich habe dir nichts von meinen Sorgen erzählt, weil ich dir die Freude an deinem eigenen Erfolg nicht verderben wollte”, rechtfertigte sich Lothar.

“So etwas Hirnverbranntes habe ich noch nie gehört. Lieber hast du also alles zwischen uns kaputt gemacht?”

“Es war nicht absichtlich. Ach, verdammt, wenn es da plötzlich eine Frau gibt, die dich versteht, die dich tröstet und verwöhnt und dir sagt, was du für ein toller Kerl bist, dann… dann bist du einfach anfällig!” Nach einem raschen Seitenblick auf sie fügte er nun doch hinzu: “Besonders, wenn die eigene Frau ständig für andere Leute kocht und keine Zeit mehr hat für ihren Mann …”

“Und die andere jung und hübsch ist, leugne es nicht, ich habe sie einmal gesehen, deine Agnes. Sag, warum habt ihr euch getrennt?”

“Sie wollte, dass ich mich scheiden liess.”

“Und du wolltest das nicht?” Sie hielt den Atem an.

“Nein”, sagte er einfach.

“Vor vier Monaten hatte ich einen Freund”, erwiderte sie leise, “weil ich glaubte, das ich das in meiner Situation brauchte. Ich habe rasch festgestellt, dass es ein Irrtum war.”

Lothar spürte einen scharfen Stich. Denselben Schmerz, sogar einen grösseren Schmerz, wurde ihm klar, hatte er Tina zugefügt. In dem Augenblick wusste er, dass so etwas nie wieder geschehen durfte.

Ein schwaches Weinen war zu hören.

“Vielleicht beruhigt er sich wieder?” hoffte Lothar, aber schon fiel die zweite Stimme ein. Beide Stimmen steigerten sich zu einem zornigen Furioso.

Windelnwechseln, Fläschchengeben. In die wieder hergestellte Stille hinein fragte Tina: “Warum ist man manchmal bloss so egoistisch? Ich hätte merken müssen, dass es dir nicht gut ging.”

“Und ich hätte nicht auf Agnes Sirenenklänge hören dürfen. Zumal ich dich doch liebe. Und dir deinen Erfolg gönnte.” Dann brach es aus ihm heraus: “Ja Tina, ich liebe dich! Natürlich ist es dein volles Recht, berufstätig zu sein. Du bist auch so die Frau meines Lebens und wirst es immer sein. Ich war ein blöder Trottel. Du würdest mich zum glücklichsten Mann der Welt machen, wenn du es noch einmal mit mir versuchen würdest!”

Als nur ein schwaches Maunzen zu hören war, sah er kurz zur Seite. Und schmunzelte: “Liebling, wach auf. Mathias hat den Sauger verloren.”

Tina schreckte hoch und schob Mathias, der das Köpfchen auf der Suche nach der verlorengegangenen Nahrungsquelle hin- und herbewegte und Kätzchentöne von sich gab, den Sauger wieder in den Mund.

“Was hast du gesagt? Ich meine, vorher?” erkundigte sie sich schläfrig.
“Später, Liebste”, antwortete Lothar.
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Am nächsten Morgen klopfte es: “Hallo, Mami, darf ich ‘reinkommen?”

Anette stellte das Frühstückstablett auf den Tisch, öffnete die Vorhänge und dann gross die Augen: “Oh, Papa, du bist auch hier?”

Lothar richtete sich ächzend auf: “Auf dem Sofa im Wohnzimmer schläft man so verteufelt schlecht, also hat sich deine Mutter erbarmt und mir einen Platz in ihrem Bett angeboten.”

Tina streckte sich nun auch: “Die Versöhnung ist leider nicht vollständig ausgefallen, Papa ist sofort eingeschlafen. Und geschnarcht hat er auch.” Sie kicherte.

“Und du bist gestern während meiner Liebeserklärung eingeschlafen”, tat er gekränkt.

Anette lachte und sagte dann leise: “Ich bin so froh, dass ihr wieder zusammen seid! Und danke für das Hotel. Lutz und ich haben einen zauberhaften Abend und eine himmlische Nacht verbracht, aber ihr werdet es nicht glauben, heute morgen fehlten mir die Zwillinge schon!”

“Na, wunderbar “, feixte Lothar, “dann werde ich gleich mal im Hotel anfragen, ob sie heute Abend ein Zimmer für deine Mutter und mich haben!”

“Was? Ihr wollt uns schon im Stich lassen?” protestierte Anette zum Schein.

Tina lächelte Lothar zärtlich an und tätschelte dann die Hand ihrer Tochter: “Das kommt davon, dass du uns zusammen eingeladen hast. Zufrieden?”

Liebevoll zwinkerte Anette ihr zu: “Was sonst? Kommt ihr bald wieder, um euch wirklich nützlich zu machen?”

“Natürlich, aber erst nach unseren zweiten Flitterwochen, mein Schatz”, lachte Lothar.

ENDE

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Mittwoch, 30. Januar 2013
Wundervolle Aussichten
Clara hat ein Haus in Südfrankreich geerbt. Sie fährt hin, um es zu verkaufen, denn ihr Verlobter Torsten und sie brauchen das Geld für ihren eigenen Hausbau. Aber plötzlich läuft nichts mehr wie geplant …
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Am Flughafen von Marseille-Marignane hatte Clara sich einen Wagen gemietet. Nun befand sie sich, nach einer kurzen Zwischenstation in Arles, in den Bergen der Alpilles, der “kleinen Alpen” der Provence. Die kurvenreiche Strasse stieg immer höher an, und plötzlich tauchte hinter der letzten Biegung ihr Reiseziel auf - ein mittelalterliches Dorf. Die ockerfarbenen Häuser leuchteten im Sonnenlicht. Clara war hierhergekommen, um ein Geschäft abzuwickeln, und sie wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Sie liess den Wagen auf dem kleinen Parkplatz am Eingang des Dorfes stehen und ging nun neugierig durch die schmalen Strassen. Sehr schnell gelangte sie auf den Dorfplatz, dessen Mitte ein alter Steinbrunnen schmückte. Auf einer Bank sassen drei alte Frauen, die sie ebenfalls neugierig, aber durchaus freundlich musterten.

Clara grüsste höflich auf Französisch und fragte, wo sich das Haus von Dr. Frank Olter befände.

Le bon docteur - der gute Doktor sei vor kurzem gestorben, teilte man ihr bekümmert mit.

Das wüsste sie, erwiderte Clara, sie sei seine Tochter.

Die Frauen sprachen ihr mitfühlend ihr Beileid aus, dann bestand eine der Frauen darauf, Clara zu begleiten: “Allein werden Sie das Haus nicht finden”, meinte sie. Langsam führte sie Clara durch gewundene Gassen und über aufsteigende Treppen bis zu einem einstöckigen Steinhaus. Im Vorübergehen hatte die junge Frau viele halb zerfallene Häuser gesehen. Ein aussterbendes Dorf, hatte der Notar in Arles skeptisch gemeint.

“Hier ist es”, sagte die alte Frau und fügte hinzu: “Ihr Vater war ein guter Mensch. Er fehlt uns allen sehr.”

Clara nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Sie hatte ihn ja kaum gekannt.

“Ich denke, es wird auch keinen Nachfolger für ihn geben, wer wird sich schon hier in unserem kleinen Dorf niederlassen wollen? Die jungen Leute ziehen ja alle fort,” seufzte die alte Frau.

Nachdem sich Clara bei ihr bedankt und ihre Begleiterin gegangen war, schloss sie auf und betrat das Haus ihres Vaters. Als erstes öffnete sie die blau gestrichenen Fensterläden, durch die nun das Licht strömte. Unten befand sich ein kleines Wartezimmer, die Praxis und eine rustikale Wohnküche mit Kamin und einem grossen Holztisch. Eine Tür am Ende des Flurs führte in einen kleinen Innengarten, in dem unter einem Feigenbaum ein runder Steintisch und zwei Eisenstühle standen. Oben im Haus entdeckte sie einen Bodenraum, ein Bad und ein hübsches, mit provenzalischen Möbeln eingerichtetes Schlafzimmer.

Aber das Schönste war der Ausblick. Man konnte von hier weit über die grünen Hügel der Provence sehen.

Am nächsten Tag klingelte Claras Handy. Es war ihr Verlobter Torsten: “Was ist los, Clara? Warum ruft du nicht an? Ich mache mir Sorgen.”

“Das brauchst du nicht, es ist alles in Ordnung. Ich bin gut angekommen.”

“Gibt es irgendwelche Probleme?”

“Nein, eigentlich nicht.”

“Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie ist das Haus? Hoffentlich ist es keine Bruchbude?”

“Es ist ein einfaches Haus, aber keine Bruchbude.”

Sie hörte, wie er erleichtert aufatmete: “Dann müsste es sich also ohne grössere Schwierigkeiten verkaufen lassen. Es wäre natürlich günstiger, wenn es am Mittelmeer läge als in diesem gottverlassenen Bergdorf. Hast du schon eine Immobilienagentur ausfindig gemacht? Komm bald zurück, Schatz. Und ruf mich an, sobald es etwas Neues gibt, okay?”
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Clara rechnete nach. Jetzt war sie schon seit einer Woche hier. Torsten hatte Recht. Sie musste die ganze Angelegenheit endlich in die Hände einer Immobilienagentur geben. Sie brauchten das Geld für den geplanten eigenen Hausbau. Aber jeder Tag in diesem Haus und im Dorf brachte ihr den Vater näher …

Bei der Durchsicht seiner Sachen hatte sie im Schreibtisch einen dicken Umschlag gefunden, auf dem ihr Name stand. Er enthielt nie abgeschickte Briefe an sie. Sie hatte sich vom Vater vergessen geglaubt, und jetzt stellte sie fest, dass er jeden Tag an sie gedacht hatte. Aus diesen Briefen und den Erzählungen der Dorfbewohner hatte sie sein Leben rekonstruieren können.

Frank Olter lernte Claras schöne Mutter Franziska als junger Mediziner kennen. Ihr zuliebe trat er in die Privatklinik ihres Vaters, eines bekannten Schönheitschirurgen, ein.

Claras Geburt hatte ihn überglücklich gemacht, aber seine Arbeit liess ihm kaum Zeit für das Kind. Darüber hinaus gab es zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen, auf die Franziska grossen Wert legte. Clara wurde von einem Kindermädchen versorgt. Als sie drei war, unterlief ihm aus Übermüdung ein gravierender Fehler bei einer Schönheitsoperation. Die Versicherung zahlte, aber Frank versank in tiefe Depression. Ein halbes Jahr später bat Franziska ihn um die Scheidung. In der Klinik war er nach der Scheidung und seinem Kunstfehler unerwünscht. Ebenso als Vater für Clara, wie Franziska ihm unmissverständlich zu verstehen gab. Weil er seine Tochter nicht in hässliche Rechtsstreitigkeiten hineinziehen wollte, brach er alle Brücken hinter sich ab und ging nach Südfrankreich. In einem Zusatzstudium erwarb er die Berechtigung, in Frankreich zu praktizieren. Dann liess er sich hier in diesem kleinen Ort nieder, in dem es seit Jahren keinen praktischen Arzt mehr gegeben hatte. Reichtümer hatte er nicht verdient, aber es hatte ihn glücklich gemacht, hier seinen Beruf ausüben zu können. In seiner Freizeit machte er lange Wanderungen in den Bergen. Die letzte war ihm zum Verhängnis geworden, er war abgerutscht. Man hatte ihn nur noch tot bergen können.

Als hätte er eine Vorahnung gehabt, bat er Clara in seinem letzten Brief, seine Asche im Bergmassiv zu zerstreuen. Das hatte sie gestern getan.

Sie dachte an ihre Mutter, die heute mit ihrem zweiten Mann, einem Manager, in Amerika lebte. Und an Torsten, ihren gutaussehenden Verlobten. Sie hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt, als sie auf einem internationalen Kongress in Nizza dolmetschte. Er hatte sofort um die schöne junge Frau mit den veilchenblauen Augen geworben. Und liebte sie, Clara, ihn nicht auch? Ja, gleich morgen würde sie eine Immobilienagentur in Arles mit dem Verkauf des Hauses beauftragen. So teuer wie möglich, hatte Torsten gemahnt.
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Clara war wieder zu Hause und arbeitete gerade an einer Übersetzung, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Es war Martin, der wie sie als Dolmetscher und Übersetzer tätig war und ganz in der Nähe wohnte. Sie kannten sich vom Studium her. Clara liebte ihn wie einen Bruder, und sie hatte ihn umsichtig gepflegt, als er kürzlich an einer schweren Bronchitis erkrankt war. Er sah noch immer ziemlich mitgenommen aus.

“Martin, wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?” fragte sie, nachdem sie ihm geöffnet hatte.

“Schon viel besser, Dank dir. Hoffentlich störe ich dich nicht bei der Arbeit?”

“Überhaupt nicht. Ich konnte mich sowieso nicht mehr konzentrieren.”

Sie führte ihn in das kleine, hübsch eingerichtetes Wohnzimmer: “Warte, ich koche uns Tee.”

Er folgte ihr in die Küche und fragte: “Und? Bist du das Haus schon los?”

“Nein”, seufzte sie, “dabei steht es schon seit drei Monaten zum Verkauf.”

Nachdenklich meinte er: “Eigentlich ist es ja jammerschade, es zu verkaufen. Ich kenne die Gegend, sie ist wunderschön. Warum behaltet ihr es nicht einfach als Ferienhaus?”

“Wir brauchen das Geld für den Hausbau, Martin.”

“Weil Torsten natürlich eine Luxusresidenz vorschwebt.”

Das stimmte. Clara wäre mit einem einfacheren Haus zufrieden gewesen, aber Torsten hatte den ganzen Winter über so begeistert über den Plänen gesessen, die ein befreundeter Architekt für sie angefertigt hatte, dass sie ihm die Freude nicht hatte nehmen wollen.

Plötzlich kam ihr eine Idee: “Reden wir mal von dir, Martin”, sagte sie, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. “Dein Arzt hat doch gesagt, dass du Sonne brauchst, um deine Krankheit auszukurieren? Warum fährst du nicht für eine Weile in mein Haus? Deine Übersetzungen kannst du auch da machen, und wenn du irgendwo in der Welt dolmetschen musst: Der Flughafen von Marseille-Marignane ist nicht sehr weit weg.”

Martin dachte eine Weile nach, dann fing er an zu strahlen: “Also, das scheint mir wirklich eine gute Idee zu sein, ich nehme sie mit vielem Dank an. Und wenn Leute sich das Haus ansehen möchten, kann ich sie herumführen und ihnen das Dorf zeigen. Und selbstverständlich räume ich das Feld, sobald der Verkauf perfekt ist.”

Als Torsten davon erfuhr, regte er sich masslos auf.

“Aber Torsten, bis jetzt hat sich sowieso noch kein Käufer gefunden”, verteidigte Clara sich und den Freund. “Martin wird die Ruhe und die Sonne gut tun. Ich werde wohl auch mit dem Preis heruntergehen müssen.”

“Kommt nicht in Frage! Die Nordländer sind doch verrückt nach einem Haus im Süden. Die zahlen alles dafür. Wir haben noch ein bisschen Zeit, um einen Käufer zu finden.”

“Wäre es nicht schön, es einfach zu behalten? Für die Ferien? Und als Andenken an meinen Vater?”

Ungläubig sah er sie an: “An einen Vater, der dich verlassen hat, als du drei warst und der sich ohnehin nie um dich gekümmert hat?” Dann lächelte er nachsichtig: “Claraschatz, es ist wohl normal, dass du jetzt deinen Vater verklärst, aber verdient hat er das absolut nicht. Ausserdem willst du doch nicht, dass wir unsere Ferien in einem Ort verbringen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen?”

Clara nickte zwar, aber etwas in ihr begehrte jetzt auf …
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Während die Grillen ihr durchdringendes Sommerkonzert veranstalteten, lauschte Martin auf dem Platz den drei alten Frauen, die ihm wieder einmal Geschichten von früher erzählten. Früher, als das Dorf noch bewohnt war, als die Männer ihre Felder unten bestellten, als es noch Esel und stämmige Pferde in den Ställen neben den Häusern gab, als sich die Frauen um die Kinder und das Geflügel kümmerten, Marmelade kochten und Obst und Gemüse für den Winter einmachten. Ein bisschen Sehnsucht schwang in ihren Stimmen mit, selbst wenn sie sich einig waren, dass das Leben damals hart war. Oft gingen die Kinder nicht zur Schule, weil sie auf den Feldern helfen mussten, der Lehrer drückte seufzend ein Auge zu. Martin nahm ihr fröhliches Lachen auf den Rückweg mit. Es ging ihm schon viel besser, der Husten war weg, bei seinen Spaziergängen in der wunderschönen Umgebung war er braun geworden, und er ermüdete auch nicht mehr so schnell, wenn er an einer Übersetzung arbeitete. Er lebte jetzt seit zwei Monaten hier, ein englisches und ein holländisches Paar und ein Pariser Junggeselle hatten das Haus besichtigt. Er hatte alles getan, um es in seinem besten Licht erscheinen zu lassen, aber ihr Urteil lautete einstimmig: der Ort war zu arm, zu abgelegen. Obwohl Clara die Agentur ermächtigt hatte, den Preis zu senken, fanden sie es dennoch zu teuer.

Er war fast am Haus angekommen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und meldete sich.

Als er das Gespräch beendet hatte, blieb er nachdenklich stehen. Es war Clara gewesen. Sie hatte ihre Verlobung mit Torsten gelöst und brauchte jetzt auch das Haus. Gleich morgen würde sie kommen. Ob er sie nachmittags am Flughafen abholen könne? Sie nannte ihm die genaue Uhrzeit.

“Aber selbstverständlich hole ich dich ab”, hatte er ihr versichert. Er hatte vorgeschlagen, ihr das Haus zu überlassen und nach Deutschland zurückzugehen, aber sie hatte leise gesagt: “Bitte bleib, ich brauche dich.”

Am nächsten Morgen bezog er das Bett für Clara neu. Er würde unten in der Praxis schlafen. Dann fuhr er in den grösseren Nachbarort, um einzukaufen: Lammfleisch, Obst, Salat, frischen Ziegenkäse … Nachmittags fuhr er zum Flughafen.

“Es ist, als käme ich nach Hause”, sagte sie, als das Dorf in der glutrot untergehenden Sonne vor ihnen lag.

Sie bestand darauf, zusammen mit Martin das Abendessen zuzubereiten. Das Lammfleisch grillten sie im Innenhof, dort hatte Martin auch den Tisch gedeckt.

“Und nun erzähl”, forderte Martin sie nach einem forschenden Blick auf ihr blasses Gesicht auf. Rasch schenkte er ihnen noch Wein ein und prostete ihr zu.

Clara ass ein paar Bissen und trank einen Schluck Wein. Dann erzählte sie Martin, was vorgefallen war. “Weisst du, ich habe mich irgendwie verändert, seit ich zum ersten Mal hier war. Ich verstand immer weniger, wie man derart hinter Geld und Besitz herjagen kann, wie Torsten es tut. Wir fingen an, uns zu streiten. Immer öfter kam er abends spät nach Hause, und schliesslich überhaupt nicht mehr. Er behauptete, bei seinen Eltern zu schlafen, dort hatte er immer noch sein Zimmer, und von dort sei es näher zu seiner Arbeit, aber vor einigen Tagen entdeckte ich, dass er mich betrog. Torsten griff mich daraufhin an, dass er mich nicht wiedererkennen würde, seit ich aus diesem gottverdammten Nest - das waren seine Worte - zurückgekommen wäre. Nach einer Aussprache haben wir beschlossen, uns zu trennen. Die Wohnung war ohnehin auf seinen Namen gemietet, selbst wenn wir uns die Miete teilten. Ich habe die nötigsten Sachen hierher mitgebracht - den schweren Koffer, den du getragen hast - und den Rest bei Freunden gelassen. Später werde ich weitersehen, aber erst möchte ich wirklich zu mir finden.”

“Das tut mir alles so leid”, sagte Martin mitfühlend, und dann grinste er ein bisschen: “Nein, das stimmt nicht. Es tut mir leid, dass du so blass bist und so erschöpft aussiehst, aber, wie du es jetzt ja auch an mir siehst, tut es einem ausserordentlich gut, hier zu leben!”

Nun lächelte sie auch: “Ja, du bist wirklich das beste Beispiel dafür. So schön braungebrannt und fit. Übrigens hatte ich schon beschlossen, das Haus hier zu behalten, ich habe bereits mit der Immobilienagentur telefoniert. Das Leben hier gibt mir so viel.”

“Sogar das Lachen kann man hier wieder lernen.”, sagte er und erzählte von den drei alten Frauen auf dem Dorfplatz.

“Die kenne ich auch”, erwiderte sie warm. “Sie sind wunderbar und so hilfsbereit.”

Als es dunkel wurde, holte Martin ein Windlicht. Als er es auf den Tisch stellte, war Clara, als sähe sie ihn zum ersten Mal: sein markantes Gesicht, die ausdrucksstarken Augen. Er wirkte so männlich mit seinen ruhigen, besonnenen Bewegungen. Und er liebte dieses Haus genau wie sie. Eine warme Woge von Zuneigung überflutete sie. Nur Zuneigung? Nein, es war mehr, denn plötzlich konnte sie sich eine Zukunft mit ihm vorstellen. Ja, es war Liebe. Und auf einmal träumte sie. Wahrscheinlich würden sie in Deutschland leben, aber hier würden sie Ferien machen. Sie sah schon zwei süsse Kinder hier im Haus und im Dorf herumlaufen. Zwischen Torsten und ihr waren Kinder seltsamerweise nie ein Gesprächsthema gewesen. Versonnen lächelte Clara vor sich hin.

Martin seinerseits dachte daran, dass er Clara schon an der Uni geliebt hatte. Aber er hatte ihr seine Liebe nie gestehen können, weil sie ihm von Anfang an klargemacht hatte, dass sie in ihm nur einen Bruder sah, den Bruder, den sie nie gehabt hatte. Aber jetzt … jetzt sah sie ihm in die Augen, und ihr Blick wühlte ihn auf.

“Clara”, sagte er leise.

“Oh, Martin”, sie schob ihm ihre Hand über den Tisch hinweg zu. Als er sie warm und beschützend in die seine nahm, wusste sie, dass sie bei diesem Mann die wahre Liebe finden würde, nach der sie sich so sehnte …

ENDE

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Montag, 28. Januar 2013
Ein Ekel mit Herz
Nachdem Wolf, den sie leidenschaftlich liebte, eine andere heiratete, gründete Nicola ihre eigene PR-Agentur, in die sie ihre ganze Zeit und Kraft investierte. Eines Abends taucht überraschend …
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“Nicola, Gott sei Dank, du bist da. Hier ist Mathias, Mathias Häger. Ich weiss, wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, aber alle Hotels in der Stadt sind ausgebucht, wegen der beiden internationalen Kongresse. Hättest du eine Schlafgelegenheit für mich? Im Namen unserer alten Bekanntschaft?”

Mathias Häger! Und ob sie sich an den besten Freund ihres älteren Bruders erinnerte! Nie wollten die beiden sie mitspielen lassen, obwohl - oder gerade weil?- sie in allen Sportarten ebenso gut war wie sie, im Laufen und Klettern schlug sie die beiden sogar um Längen. Sie fand es ziemlich unverfroren, dass er sich an sie wandte.

“Bitte”, stöhnte er mitleiderregend, “sonst muss ich auf einer Bank im Stadtpark übernachten, und morgen habe ich eine wichtige geschäftliche Besprechung.”

“Woher hast du denn meine private Telefonnummer? Sie steht nicht im Telefonbuch.”

“Hat dein Bruder mir freundlicherweise mitgeteilt.”

“Ihr komplottiert also immer noch gegen mich?” Aber sie war plötzlich neugierig, was aus dem Ekel geworden war: “Na gut, aber beeil dich, ich muss gleich weg. Bin zu einer Party eingeladen. Weisst du, wo ich wohne?”

“Klaro, ich steh’ schon vor der Tür.” Er hatte gerade noch Zeit, seinen Handy wegzustecken, als der Summton ertönte.

Sie wartete in der offenen Tür auf ihn, und er sah sie bewundernd an: “Donnerwetter, du hast dich aber gemausert.” Er hatte sie als mageren Teenager in Erinnerung, jetzt hatte sie eine Traumfigur und sah bezaubernd aus mit ihren grossen dunklen Augen und dem weichen Mund.

“Kann man auch von dir sagen”, räumte sie ein.

Er setzte seine Reisetasche in der Diele ab: “Du gehst also auf eine Party?”

“Ja, einer meiner Klienten gibt sie in seiner Prachtvilla.” Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: “Ich werde dort zum ersten Mal Wolf Bölling wiedersehen, meinen Ex-Verlobten.”

“Ach, das war dieser Idiot, der dich hat fallen lassen, um die Tochter des Chefs zu heiraten. Hm, weiss ich auch von deinem Bruder. Du hast doch sicher einen Begleiter?”

“Bin ich etwa nicht Frau genug, um allein hinzugehen?”

Er fand, dass sie das sehr treffend ausdrückte, schlug ihr aber mit einem netten Grinsen vor: “Lass mich dein Kavalier sein, schöne Nicola.”

Sie wollte ablehnen, aber gleichzeitig stellte sie fest, dass sie es müde war, in Gesellschaft immer so tun zu müssen, als ginge es ihr wunderbar. Und es würde ihr darüber hinaus sehr weh tun, Wolf wiederzusehen, denn sie liebte ihn immer noch. Mit Mathias an ihrer Seite würde dieser Abend tatsächlich leichter zu überstehen sein: “Einverstanden”, gab sie nach.

Alle Köpfe drehten sich zu ihnen um, als sie den festlich geschmückten Raum betraten. Nicola trug ein langes Kleid mit besticktem Oberteil, und auch Mathias sah fantastisch aus in seinem Abendanzug. Wolf Bölling kam sofort mit seiner blonden Frau auf sie zu, und Nicola stellte fest, dass es ihr ein gewisses Vergnügen bereitete, ihm den gutaussehenden Mathias vorzustellen. Wolf machte sie ihrerseits mit seiner Frau bekannt und wandte sich dann an Nicola: “Herzlichen Glückwunsch zu deinem beruflichen Erfolg. Deine PR-Agentur ist in aller Munde.”

Ob ihm klar war, dass sie ihren Erfolg ihm zu verdanken hatte? Ohne seinen Verrat hätte sie kaum die Firma verlassen, in der sie beide arbeiteten, um sich selbstständig zu machen. Er dagegen hatte einen bitteren Zug um den Mund. Kein Wunder, dachte Nicola. Sie hatte gehört, dass sein Schwiegervater ihn an der kurzen Leine hielt. Nachdem sie gefürchtet hatte, dass die Begegnung sie innerlich aufwühlen würde, empfand sie nun eher Mitleid mit ihm.

Mathias war ein wunderbarer Tänzer, und Nicola gab sich ganz dem Vergnügen hin, an seinem Arm durch den Raum zu schweben. War es die Nähe? Plötzlich spürte sie eine süsse, ziehende Wärme, die von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff. Abrupt blieb sie stehen. Das fehlte noch, dass sie sich in den schlimmsten Feind ihrer Kindheit verliebte! “Bring mich nach Hause”, bat sie, “ich fühle mich nicht gut.”
_ _ _

Mathias fand eine Parklücke in einer Seitenstrasse. “Geht es dir besser?” fragte er besorgt, als er Nicola beim Aussteigen half.

Es gelang ihr, ihn anzulachen: “Der Beweis: Komm, wir laufen um die Wette, wie früher!”

Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, und beim Laufen raffte sie ihr langes Kleid. Sie lief, als ginge es um ihr Leben, oder vielmehr, als gälte es, ihr Herz in Sicherheit zu bringen. Im Laufen sah sie den Bordstein nicht. Der Schmerz, als ihr Knöchel umknickte, durchfuhr sie wie ein Messerstich.

Mathias trug sie bis ins Schlazimmer, legte sie auf’s Bett nieder und untersuchte vorsichtig ihren Fuss: “Es ist nichts gebrochen, ich werde dir einen kalten Umschlag machen.”

“Jetzt kann ich nicht mal das Sofa für dich zurechtmachen”, meinte sie kleinlaut.

“Keine Sorge, das kann ich selbst.”
_ _ _

Am nächsten Morgen ging es ihrem Fuss schon viel besser, aber auftreten konnte sie immer noch nicht. Mathias kam mit einem Blumenstrauss und einer grossen Tüte im Arm von seinem Geschäftstermin zurück. Nun werkelte er umsichtig in der Küche.

Als es klingelte, machte er auf. Es war Wolf, der sogleich auf Nicola zueilte: “Ich hörte gestern, dass es dir nicht gut ging und möchte mich nach deinem Befinden erkundigen.”

Nicola zeigte auf ihren bandagierten Fuss: “Wie du siehst, habe ich mir auch noch den Knöchel verknackst.”

Wolf warf Mathias, der nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren, einen irritierten Blick zu, dann platzte er heraus: “Ich möchte dir sagen, dass ich den grössten Fehler meines Lebens begangen habe, als ich Bettina heiratete. Ich liebe dich noch immer, Nicola. Bettinas und meine Ehe ist längst zerrüttet. Gestern haben wir beschlossen, uns scheiden zu lassen.”

“Es stimmt also, dass dein Schwiegervater dir keinen Posten im Vorstand geben will?”

“Das hat nichts damit zu tun”, fuhr er auf.

Welch ein Lügner! Nicola war endgültig ernüchtert. “Findest du allein hinaus, oder soll Mathias dich begleiten?”

Mathias reagierte sofort: “Es wird mir ein Vergnügen sein, Herr Bölling!”

Wolf sah einen Augenblick aus, als wolle er handgreiflich werden, aber Mathias war einen halben Kopf grösser und auch breitschultriger als er. So knirschte er nur: “Nicht nötig, ich finde den Weg allein. Schliesslich kenne ich die Wohnung von früher her!”

Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, ging Mathias wieder in die Küche. Er kam mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Flasche edlen Weissweins, zwei Gläser, zwei Teller mit geräuchertem Lachs und ein Schälchen mit eingelegten Kapern befanden. Dazu gab es ein knuspriges Baguette. Während er einschenkte, meinte Nicola nachdenklich: “Liebe macht bekanntlich blind, aber wie konnte ich nur so lange die Augen vor der Tatsache verschliessen, dass Wolf schon immer bereit war, über Leichen zu gehen, um Erfolg zu haben, und zwar schnellen Erfolg? Mut und Ausdauer waren nie seine Stärke. Mit Bettina glaubte er, dass alles ihm in den Schoss fallen würde, aber sein Schwiegervater durchschaute ihn schneller als ich.”

Mathias hatte eingeschenkt und hob sein Glas, um ihr zuzuprosten: “Er war ja auch nicht blind vor Liebe. Auf ein Ende, also, das Ende einer Illusion.”

Während des zweiten Glases erzählte Mathias ihr von seinen beruflichen Plänen. Er wollte sich als Wirtschaftsexperte selbstständig machen. “Warum nicht hier in dieser Stadt?” meinte er.

“Ja, warum nicht?” sinnierte Nicola.

Der Lachs schmeckte köstlich, und schliesslich schenkte Mathias ihnen das letzte Glas Wein ein: “Das möchte ich auf einen Anfang trinken”, lächelte er und zeigte, was er damit meinte, indem er ihr den schönsten Kuss ihres Lebens gab …

ENDE

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Samstag, 26. Januar 2013
Manchmal ist es etwas länger bis zum Glück
Drei Jahre lang hat Anke um ihren Mann Cord getrauert und darum gekämpft, dass seine Firma weiter besteht. Jetzt macht sie Urlaub in der Türkei - und lernt dabei Harun kennen, der in Fethiye ein einfaches Leben als Fischer führt …
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Anke hatte sich am Flughafen von Antalya einen Wagen gemietet und fuhr jetzt mit geöffnetem Verdeck die Küstenstrasse entlang. Rechts erstreckten sich Pinienwälder und Olivenhaine bis hin zu den violetten Bergen, links lag funkelnd und tiefblau die Ägäis mit ihren vielen kleinen Inseln.

Endlich kam sie in Fethiye an, ihrem Ferienziel im Süden der Türkei. Nachdem sie in ihrer Pension geduscht hatte, öffnete sie das Fenster. Auch von hier war das Meer zu sehen. Sie dachte an Cord, der das Meer derart geliebt hatte, dass es ihm schliesslich zum Verhängnis geworden war. Er war von seiner letzten Segeltörn auf der Nordsee nicht zurückgekommen. Drei Jahre war das nun her. Drei Jahre, in denen sie sich von einer sorglosen jungen Frau in eine verantwortungsbewusste und versierte Geschäftsfrau verwandelt hatte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben. Nach Cords Tod hatten seine Anwälte ihr eröffnet, dass die Spielzeugfabrik, die er ihr hinterlassen hatte, tief in den roten Zahlen steckte. Sie hatten ihr geraten, das Erbe auszuschlagen. Sie hatte sich im Gegenteil der Herausforderung gestellt, hatte sich durch Berge von Akten gearbeitet, mit Banken und Gläubigern verhandelt. Von Anfang an hatte sie verlangt, dass man sie über alles, was in der Firma vor sich ging, unterrichtete. Was sie nicht verstand, hatte sie sich erklären lassen oder es sich erarbeitet.

Das anfängliche Misstrauen, das ihr entgegengebracht wurde, war längst Anerkennung, mehr noch, Bewunderung, gewichen. Niemand wusste von den vielen Nächten, in denen sie verzweifelt geweint hatte. Aus Trauer um den geliebten Mann, aus Ratlosigkeit, auch. Der fünfzehn Jahre ältere, blendend aussehende Cord hatte sie auf Händen getragen, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Er hatte ihr sein Herz und die Welt zu Füssen gelegt. Sie wusste jetzt, dass sie sich die kostspieligen Reisen, die sie gemacht hatten, eigentlich nicht hätten leisten können. Warum hatte er ihr nie von den finanziellen Schwierigkeiten erzählt? Es war sicher auch ihre Schuld gewesen. Nur ihre Liebe hatte für sie gezählt. Sie war so jung gewesen, als sie heirateten, erst zwanzig. Und doch: Sie bereute nichts. Es waren zehn wundervolle Jahre gewesen. Jahre, die ihr die Kraft gegeben hatten, sich den Schwierigkeiten zu stellen. Dies war ihr erster wirklicher Urlaub nach Cords Tod, und selbst wenn er, verglichen mit ihren früheren Reisen, sehr bescheiden ausfiel, sie hatte ihn sich selbst und hart erarbeitet …

Abends im Restaurant empfahl der freundliche Wirt ihr wortreich in gebrochenem Deutsch sein Fischgericht. Der Fisch sei heute morgen frisch gefangen worden. Er schmeckte tatsächlich köstlich. Dazu trank sie einen weissen Yakut-Wein, der vollends dazu beitrug, dass sie sich entspannte und fröhlich und leicht fühlte.

Am nächsten Morgen, nach einer herrlich durchschlafenen Nacht und dem Frühstück, beschloss sie, zu Fuss die Umgebung zu erkunden. Sie stand versunken in den Anblick der zauberhaften Bucht mit seiner Insellandschaft da, als das Tuckern eines Bootes näher kam. Der Motor wurde abgestellt, und das Boot lief sanft auf den Strand auf. Ein mit ausgefransten, verblichenen Hosen bekleideter Mann sprang heraus und zog das Boot noch ein wenig höher hinauf. Als er sich aufrichtete, das Netz mit den noch zappelnden Fischen in der Hand, trafen sich ihre Blicke. Er sah ungewöhnlich gut aus mit seinem schwarzgelockten Haar, den dunklen Samtaugen und dem gebräunten, muskulösen Oberkörper, auf dem noch das Wasser glänzte.

Auch er starrte sie an wie eine Erscheinung. Anke stand von Licht umflossen da. Sie trug ein knöchellanges blaues Kleid, das ihre schlanke Gestalt, ihre kleinen festen Brüste und ihre biegsame Taille betonte. Ihre meergrünen Augen waren von dichten Wimpern beschattet. Der Strohhut war in den Nacken gerutscht, und der leichte Meerwind spielte in ihrem blonden Haar.

Wie magisch angezogen kam er auf sie zu. Beim Lächeln entblösste er blendend weisse Zähne: “Guten Morgen, ist heute nicht ein herrlicher Tag?”

“Guten Morgen”, lächelte sie zurück. “Woher wissen Sie, dass ich Deutsche bin, und woher sprechen Sie so gut die Sprache?”

“Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, und dass Sie Deutsche sind, habe ich erraten.”

“Sie sind in Deutschland aufgewachsen und sind jetzt Fischer in der Türkei?”

“Alle Männer aus meiner Familie haben hier in Fethiye vom Meer gelebt, bis mein Vater nach Deutschland ging. Er wollte, dass seine Kinder es einmal besser hätten. Mein Bruder und meine Schwester haben studiert, ich war nicht gemacht für ein solches Leben. Vor sechs Jahren bin ich hierher zurückgekommen, hier bin ich glücklicher. Sehen Sie, das Meer schenkt uns alles, dieser Fisch ist für Ünal, für sein Restaurant.”

“Für Ünal Gündüz? Ich wohne in seiner Pension. Dann habe ich also gestern Abend einen von Ihren Fischen gegessen, er hat wunderbar geschmeckt!”

Er sah sie immer noch unverwandt an. Und plötzlich durchfuhr sie ein heftiges Verlangen, wie sie es seit Cords Tod nicht mehr gespürt hatte. Sie war so wenig gefasst darauf, dass sie ihren Blick abwandte und hastig sagte: “Verzeihen Sie, ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich muss auch weiter.”

“Müssen? Das ist typisch Deutsch”, schüttelte er den Kopf. “Was muss man denn in den Ferien? Denn Sie machen doch sicher Ferien hier?”

Jetzt musste sie selbst lachen: “Sie haben Recht. Ich muss nicht, aber Sie müssen, nämlich so schnell wie möglich Ihre Fische bei Ünal Gündüz abliefern.”

Nun lachte er auch: “Aber danach habe ich Zeit, den ganzen Tag. Was würden Sie zu einer Rundfahrt in meinem Boot sagen? Ich möchte Ihnen die Schönheit unserer Bucht zeigen. Bitte, warten Sie doch hier auf mich, es geht schnell!”

Sie nickte wie betäubt und sah ihm nach, wie er sich entfernte. Einmal blickte er zurück, als wolle er sich vergewissern, dass sie immer noch da war. Er winkte, und sie winkte zurück. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie hier stehen blieb. Sie konnte doch nicht allein mit diesem unbekannten Mann auf’s Meer fahren. Das tat man nicht, das war verrückt, und das konnte gefährlich werden. In jeder Hinsicht. Geh weiter, befahl sie sich, aber ihre Füsse wollten nicht gehorchen. Und dann kam er schon zurück, und es war zu spät, um fortzulaufen. Sie wollte es ja auch gar nicht …
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Er hiess Harun. Harun Yücelay. Und die Liebe brach wie ein Sturmwind in ihrer beider Leben ein. Harun war der erste Mann nach Cord, der Ankes Körper wieder zum Leben erweckte. So sanft, so rücksichtsvoll und leidenschaftlich zugleich, dass ihr heiss die Tränen in die Augen stiegen. Die Tränen lösten ihren Schmerz, lösten die Trauer, die Anspannung und die Sorgen der letzten Jahre, bis nur noch Dankbarkeit für den erlebten Moment zurück blieb. Die Fähigkeit, den Augenblick zu geniessen.

Jeden Tag fuhren sie auf seinem Boot hinaus. Sie liebten sich im Meer, an verschwiegenen Stränden, auf einer einsamen Insel, die verwunschen im gleissenden Blau der Ägäis lag. Er sagte ihr, dass er sie liebte, dass sie sein Leben sei, seine Sonne. Und gleich darauf sah er unglücklich und zerrissen aus: “Ich kann dir nichts bieten. Niemals würdest du die Frau eines armen Fischers sein wollen. Ich hätte alles anders machen und in Deutschland bleiben sollen!”

“Dann wärst du jetzt unglücklich, und wir wären uns wahrscheinlich nie begegnet”, versuchte sie ihn und sich selbst zu trösten. Auch sie liebte ihn. Hingebungsvoll. Und auch sie war ratlos. Aber sie wollte nicht an die Zukunft denken, das tat zu weh.

Zwei Wochen lang erlebten sie die vollkommende Glückseligkeit. Sie kannte jeden Zentimeter seines Körpers, hätte seine Stimme aus Tausenden von anderen herausgehört. Sie wünschte, die Zeit möge stehen bleiben.

Sie tat es natürlich nicht. Sie waren wieder auf ihrer verwunschenen Insel, lagen einer in den Armen des anderen.

“Morgen fliege ich nach Deutschland zurück”, sagte sie leise.

Harun richtete sich auf dem Ellenbogen auf und sah sie an. Er war blass unter seiner Sonnenbräune, sein Kiefer malmte, so fest biss er die Zähne aufeinander.

Sanft streichelte sie sein Gesicht. Mit Tränen in den Augen sagte sie: “Ich muss zurück, Harun, es gibt keine andere Möglichkeit.”

“Ich weiss”, stöhnte er. “Wenn ich doch mit dir kommen könnte, aber ich bin nichts in Deutschland.”

“Du bist etwas, in Deutschland oder hier, aber du würdest unglücklich sein in Deutschland.”

“Ohne dich werde ich auch hier unglücklich sein.”

Einen Augenblick erfüllte sie Hoffnung: “Harun, ich habe genug Geld für uns beide.”

Er fuhr zurück, als hätte ihn eine Tarantel gestochen: “Nein, Anke, ein Schmarotzer werde ich nie in meinem Leben sein! Aber ich verspreche dir, eines Tages sehen wir uns wieder!”

Sie tat, als glaubte sie an sein Versprechen …
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Zurück in Deutschland hoffte sie, dass der Trennungsschmerz, dieses Gefühl, etwas ungeheuer Kostbares verloren zu haben, nachlassen würde. Sie stürzte sich in die Arbeit wie in der Zeit, als die Trauer um Cord sie fast um den Verstand gebracht hatte. Wenn sie nur ein Kind von ihm hätte, aber es war der einzige Wunsch, den Cord ihr nicht hatte erfüllen können. Er war zeugungsunfähig, hatte eine Untersuchung beim Arzt ergeben.

Die Firma florierte, aber das Geld machte sie nicht glücklich. Das nächste Jahr machte sie in Tunesien Urlaub. Sie wusste: Wenn sie nach Fethiye zurückkehrte, wenn sie Harun noch einmal sah, würde sie nicht mehr die Kraft haben, ihn zu verlassen …

Es war der zweite Herbst nach ihrer Trennung. Sie hatte einen langen Tag in der Firma hinter sich, hatte die von der Zugehfrau bereitete Mahlzeit gegessen und schenkte sich jetzt vor dem Kamin ein Glas Wein ein. Endlich hatte sie Zeit, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Sie schlug den Lokalteil auf - und starrte ungläubig auf ein Foto. Das konnte nur ein Irrtum sein, eine grausame Täuschung, aber über dem Artikel stand sein Name: Harun Yücelay. Der Autor, las sie, würde morgen in einer bekannten Hamburger Bücherei - der Name folgte - von 16 bis 18 Uhr eine Lesung seines Romans mit anschliessender Signierstunde veranstalten. Sein von der Kritik einstimmig begrüsstes Erstlingswerk sei dabei, in die Bestsellerliste aufzusteigen.

Sie sass in der letzten Reihe und konnte den Blick nicht von ihm lösen. Harun trug gutgeschnittene lange Hosen, dazu ein farblich abgestimmtes Hemd mit offenem Kragen und einen Kashmirpullover. Er wirkte ernster, als sie ihn in Erinnerung hatte, mehr noch, fremd in diesem Aufzug und dieser Umgebung. Voll Schrecken merkte sie, dass sie den Mann, dem seit fast zwei Jahren ihre ganze Liebe und Sehnsucht galt, nicht wiedererkannte. Fast greifbar nah sass er dort – und sie fühlte sich weiter von ihm entfernt als je zuvor.

Aber dann fing er an zu lesen. der Text, den er mit seiner schönen Barytonstimme vortrug, handelte von Deutschland und der Türkei, von zwei verschiedenen Kulturen, die trennend wirken oder sich ergänzen konnten. Von zwei Menschen, die sich liebten und wieder verloren. Auf der Suche nach dieser Frau, und nachdem er ein Buch geschrieben hatte, kam der Ich-Erzähler nach Deutschland. Würde er sie wiederfinden? Und vor allem: Würde sie ihn wiedersehen wollen?

Es war die Stimme, die ihr den geliebten Mann zurückbrachte. In ihr fand sie seine Ruhe, seine Innigkeit und seinen Humor wieder. Der gutgekleidete Schriftsteller in Deutschland und der naturverbundene Fischer in der Türkei verschmolzen zu einem Ganzen, dem Mann, dem ihr Herz gehörte.

Er klappte das Buch zu: “Es gibt einen Schluss in diesem Buch, den Schluss, den ich herbeisehne. Aber den wirklichen Schluss muss das Leben schreiben.”

Die Zuhörer hatten gebannt gelauscht, manche hatten Tränen in den Augen. Der Raum war gut besetzt, auch die Presse war anwesend. Harun, der bis jetzt nicht aufgesehen hatte, liess langsam den Blick über die Zuhörerreihen schweifen. Ein jähes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie entdeckte …

Sie mussten noch die Signierstunde über sich ergehen lassen, dann standen sie sich endlich gegenüber. Der Büchereibesitzer drängte, dass es Zeit wurde, zum offiziellen Essen aufzubrechen, aber Harun schüttelte freundlich lächelnd den Kopf: “Es tut mir leid, aber ich habe einen dringenden Termin, auf den ich siebzehn lange Monate habe warten müssen.” Ohne sich um das verdutzte Gesicht des Buchhändlers zu kümmern, zog er die geliebte Frau mit nach draussen.

“Was machen wir jetzt?” fragte er und lachte wie ein Junge, dem ein guter Streich gelungen war.

Sie wollte ihn fragen, ob er nicht besser doch am geplanten Essen teilnehmen sollte, in seinem eigenen Interesse, aber er kam ihr zuvor: “Nein, Liebling, ich muss es wirklich nicht. Und jetzt sag mir, was du dir wünscht.”

Ja, das war Harun, ihr geliebter Harun. Sie lachte ihn zärtlich an und antwortete: “Zuerst einen Kuss, und dann möchte ich mit dir in einem Fischrestaurant essen gehen. Du wirst sehen, dass es auch hier, so dicht an der Nordsee, wunderbar frischen Fisch gibt. Und dann …”

Ankes Stimme wurde undeutlich, weil Harun sie schon zur Erfüllung des ersten Punktes stürmisch in die Arme zog …

ENDE

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Dienstag, 22. Januar 2013
Das Herz der Ballerina
Judith Calder opferte einst alles dem Tanz, sogar ihre Liebe zu Gero Marten. Nach einer glanzvollen Karriere lebt sie jetzt zurückgezogen in Cannes, aber die Vergangenheit holt sie wieder ein ....
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Judith Calder bereute ihre Zusage, sobald sie den Hörer aufgelegt hatte. Sicher, Vera Lundberg, die Journalistin, hatte schon mehrmals angerufen, und ihre Stimme sowohl ihre Art waren sehr angenehm gewesen, trotzdem hätte sie nicht nachgeben dürfen. Sie gab prinzipiell keine Interviews mehr, denn sie spürte nicht die geringste Neigung, ihre Vergangenheit, so glanzvoll sie gewesen sein mochte, wieder auferstehen zu lassen, und schon gar nicht die schwierige Zeit, als sie sich vor zehn Jahren damit abfinden musste, dass ihre Karriere als Primaballerina beendet war. Seitdem hatte sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet. Sie hatte sich diese schöne Dreizimmerwohnung mit der grossen Terrasse und Meerblick in Cannes gekauft. Sie machte lange Spaziergänge, hatte das Meer zum Schwimmen. Sie las viel, hörte Musik, sah sich gern gute Filme an. Viel gesellschaftlichen Umgang hatte sie nicht mehr, ihre meisten Freunde lebten in New-York oder Paris, aber sie sehnte sich nicht danach. Sie war zufrieden. Dieses Interview würde nur wieder Unruhe in ihr Leben bringen. Sie fühlte sich jetzt schon nervös, und bis es in drei Tagen soweit war, würde sie sicher schlecht schlafen.

Judith seufzte und trat an die breite Schiebetür aus Glas, die ihr Wohnzimmer von der Terrasse trennte. Dahinter lag strahlend blau das Mittelmeer in der Wintersonne. Sie begriff nicht, warum die Journalistin derart auf diesem Interview bestanden hatte. Wer interessierte sich denn heute noch für Judith Calder?

Einen Augenblick war sie versucht, Vera Lundberg anzurufen und ihre Zusage zurückzunehmen, aber die Disziplin, die sie sich ihr ganzes Leben lang aufgelegt hatte, verbot es ihr. Ein Versprechen war ein Versprechen.

Sie schlief tatsächlich schlecht, nachts zog ihr Leben wieder an ihr vorüber, aber am Donnerstag Nachmittag, als Vera Lundberg sich über die Sprechanlage zu erkennen gab, war Judith bereit. Sie trug ein schwarzes Kleid von erlesener Schlichtheit und hatte sich leicht geschminkt. Auch heute noch, mit 50 Jahren, war sie eine aussergewöhnlich schöne Frau mit ausdrucksvollen dunklen Augen unter geschwungenen Brauen und dem kastanienbrauen Haar, das sie zu einem lockeren Knoten geschlungen hatte, und in das sich noch kein grauer Schimmer verirrt hatte. Ihr Körper war geschmeidig und mädchenhaft schlank, die Beine lang und muskulös. Auf der Strasse drehten sich die Männer nach ihr um, und wenn sie einen Raum betrat, zog sie alle Blicke auf sich.

“Wie schön Sie sind”, sagte dann auch Vera beeindruckt, nachdem sie sich begrüsst hatten. Auch der junge Fotograf, der Vera begleitete, blickte Judith bewundernd an.
Judith lächelte Vera zu: “Danke, aber Sie sind es auch.”

“Oh, ich bin höchstens apart”, wiegelte Vera ab. Sie war jünger als Judith, ihr blondes Haar war streichholzkurz geschnitten. Aus grünen Augen sah sie Judith aufmerksam an: “Sie sind bekannt dafür, dass Sie seit Jahren keine Journalisten mehr empfangen. Danke, dass Sie bei mir eine Ausnahme gemacht haben.”
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Nachdem der Fotograf die Aufnahmen gemacht und sich verabschiedet hatte, nahmen die beiden Frauen in der Sitzecke Platz, und Vera schaltete das Tonbandgerät ein.
Zwei Stunden später stellte sie es wieder aus: “Geschafft. Sie waren wunderbar, Frau Calder.”

“Ich möchte Ihnen das Kompliment zurückgeben, dieses Interview war wie ein Gespräch, das wir miteinander geführt haben. Sie haben das hervorragend gemacht. Einfühlsam und taktvoll. Woher wissen Sie so gut über mich Bescheid?”

Vera sah aus dem Fenster und lächelte etwas schmerzlich: “Ich habe zwanzig Jahre mit Ihnen verbracht, Frau Calder.”

“Wie meinen Sie das?”

“Ich war mit Gero verheiratet. Mit Gero Marten.”

Judith fühlte, wie sie blass wurde. Um ihre Verwirrung zu verbergen, stand sie auf: “Wie wär’s, wenn wir etwas anderes trinken würden als dieses Mineralwasser? Einen Whisky könnte ich jetzt schon vertragen.”

“Ich auch”, nickte Vera entschlossen.

Als die Gläser vor ihnen standen, wandte Judith sich wieder Vera zu: “Sie sagten, Sie waren es?”

“Unsere Ehe ist vor einem Jahr geschieden worden.”

“Das tut mir leid.” Nach kurzem Zögern fragte sie: “Warum? Oder ist die Frage zu indiskret?”

“Ich hätte es Ihnen sowieso gesagt: Weil es zu schwer ist, mit einem Mann verheiratet zu sein, der nie eine andere vergessen konnte.”

Judith nahm hastig einen Schluck aus dem Glas: “Das ist unmöglich, nach all der Zeit …”

“Bei einer solchen Liebe zählt die Zeit nicht. Sie ist wie ein Brandmal im Herzen.”

“Ja, haben Sie mich denn nicht gehasst?”

“Manchmal schon”, gab Vera zu, “aber ich habe Sie auch beneidet und bewundert. Beneidet, eine solche Liebe im Herzen eines Mannes wie Gero entfachen zu können, und bewundert für Ihre Kunst. Sie waren eine grosse, eine aussergewöhnliche Ballerina. Im übrigen war alles meine Schuld. Ich habe mich gleich beim ersten Mal, als ich Gero sah, unsterblich in ihn verliebt. Ich wusste einfach, dass er der Mann meines Lebens war. Obwohl er mir sofort ehrlich gesagt hatte, dass sein Herz Ihnen gehörte, Judith, wollte ich ihn. Auch um diesen Preis. Ich darf Sie doch Judith nennen? Ich habe so oft stumme Zwiegespräche mit Ihnen gehalten. Er hat Sie nachher mir gegenüber nie mehr erwähnt, sicher, um mir nicht weh zu tun, aber ich brauchte nur seinen Blick zu sehen, wenn jemand von Ihnen sprach oder er ein Foto von Ihnen in der Presse sah. Manchmal wünschte ich mir, er hätte mir nichts von seiner Liebe zu Ihnen erzählt, dann hätte ich mich begnügen können mit dem, war er mir geben konnte, denn es war viel, sehr viel. Mehr, als die meisten Männer einer Frau geben können.”

“Aber … ich verstehe nicht. Sie sind eine aussergewöhnliche Frau, und Gero und ich waren nur vier Wochen zusammen …”

“Diese vier Wochen haben für ihn mehr gezählt als all die Jahre mit mir.” Veras Stimme klang nun doch etwas traurig, aber gleich darauf lächelte sie: “Heute will ich mich nur noch an das Schöne erinnern, das ich mit ihm erlebt habe, denn es hat viel Schönes gegeben. Wir haben zwei wundervolle Kinder: Flora studiert Musik und Axel Betriebswissenschaften. Er interessiert sich schon für den Familienbetrieb und hat das gleiche unternehmerische Talent wie sein Grossvater. Gero ist sehr froh darüber. Sie müssen doch wissen, dass Gero eigentlich von einem ganz anderen Leben geträumt hat?”

“Ja, er spielte wunderbar Cello.”

“Er tut es heute noch …”

Judith setzte sich gerade hin: “Was erwarten Sie nun von mir?”

Temperamentvoll sagte Vera: “Dass Sie mit Gero glücklich werden. Deswegen wollte ich dieses Interview machen. Um mit Ihnen zu sprechen, um Sie kennenzulernen, um Ihnen zu sagen, dass Gero jetzt frei ist, und dass er nie aufgehört hat, Sie zu lieben. Ich liebe ihn noch genug, um sein Glück zu wollen!”

Judith schüttelte langsam den Kopf: “So einfach ist das nicht. Ich habe ihm damals sehr weh getan. Ich fühle mich nicht berechtigt, noch einmal in sein Leben einzugreifen und ihn vielleicht noch einmal zu enttäuschen. Wir haben uns nur vier Wochen lang gekannt, Vera! Vor sehr langer Zeit. Und wir waren so jung. Wer weiss, ob ein dauerhaftes Glück zwischen uns überhaupt möglich ist?”

“Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so feige sind”, sagte Vera, und ihre Augen wirkten auf einmal hart. Als Judith nicht anwortete, stand sie auf: “Das Interview wird in zwei Monaten erscheinen. Ich danke Ihnen noch einmal und … leben Sie wohl, Judith.”
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Leben Sie wohl, das war leicht gesagt, dachte Judith voll Groll. Ihr Leben war aus den Fugen geraten. Natürlich hatte auch sie Gero nicht vergessen, aber sie hatte sich daran gewöhnt, mit dieser Narbe zu leben, diesem Bedauern, dieser Trauer um etwas, was hätte sein können. Nun war die Wunde wieder aufgebrochen und schmerzte.

Gero. Sie hatten sich in Hamburg in einem Konzert kennengelernt. Beide waren mit Freunden dagewesen. Judith war zwanzig, hatte gerade ein Engagement an der Pariser Oper erhalten und fühlte sich, als wären ihr Flügel gewachsen. In einem Monat würde ihr neues Leben beginnen, das Leben überhaupt! Sie war mit ihren Gedanken derart woanders gewesen, dass sie in der Pause heftig mit einem Mann zusammenstiess, der spontan zugriff und sie festhielt, damit sie nicht stürzte. Als sie sich ansahen, war es wie ein Erdbeben gewesen, ein Wiedererkennen, so, als öffnete sich eine Tür zu einem Ort, an dem sie beide zu Hause waren. Er hatte sie zu einem Glas Sekt eingeladen, sie hatten ihre Freunde vergessen und waren nach der Pause nicht in den Konzertsaal zurückgekehrt. Einen Monat lang gab es nur sie beide und ihre Liebe. Gero sah aussergewöhnlich gut aus mit seinen dunklen Haaren und den strahlend blauen Augen. Er war 23 und studierte Volkswirtschaft. Aus Pflichtgefühl hatte er auf seinen Traum, Musiker zu werden, verzichtet, um in das väterliche Unternehmen einzutreten. Mit einer Frau wie sie an seiner Seite, hatte er gesagt, würde sein Leben trotzdem lebenswert sein. Aber Judith hatte sich für den Tanz entschieden. Ihre Berufung war stärker gewesen als ihre Liebe zu Gero. Sie erinnerte sich noch heute an seinen Blick, als er sie zum Nachtzug nach Paris bracht …

Gero wiedersehen, wie Vera es sich wünschte? Nein, es war völlig unvernünftig zu glauben, dass die Fäden wieder dort angeknüpft werden konnten, wo sie zerrissen waren. Wo sie sie damals zerrissen hatte! Sie hatte Gero nur Unglück gebracht. Sie hatte ihn verlassen, hatte ihm ungeheuer weh getan, und jetzt war auch noch seine Ehe ihretwegen gescheitert. Gero, sagte sie sich, wollte jetzt ganz bestimmt nichts anderes, als seine Ruhe haben. Wie sie.
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Das Interview war erschienen. Die Zeitschrift lag aufgeschlagen vor Judith. Eine Frage Veras lautete: “Bedauern Sie es nicht, keine Kinder zu haben?”

“Manchmal schon”, hatte sie geantwortet, “aber ich hatte keine Wahl. Der Tanz war mein Leben.”

“Sie sind eine der schönsten Frauen unserer Zeit. Sie hatten Liebhaber. Keinem von ihnen ist es gelungen, Sie zu halten …”

“Sie zählten nicht.”

“Gab es eine grosse Liebe in Ihrem Leben?”

“Ja, aber das geht nur mich und diesen Mann etwas an.”

Jetzt wusste sie, dass es auch Vera etwas anging …

Auf einmal geschah etwas Seltsames: Sie hatte das Gefühl, dass Gero über ihre Schulter mitlas. Der Eindruck war so stark, dass sie fast erwartete, das Telefon trillern zu hören, aber alles blieb still. Und plötzlich rannen Tränen über ihre Wangen, Tränen, die sie all die Jahre in sich verschlossen hatte …

In den folgenden beiden Wochen machte Judith lange Spaziergänge, schwamm weit ins Meer hinaus, das sich langsam erwärmte. Aber die wohlige Entspannung, die sie sonst immer nach einer intensiven kôrperlichen Betätigung empfand, blieb aus. Sie verwünschte Vera, das Interview, vor allem aber war sie zornig auf sich selbst, diesen Einbruch in ihr friedliches Leben zugelassen zu haben.

Dann erhielt sie einen Brief. Er war in Hamburg abgestempelt. Ihr Name und ihre Adresse waren mit Schreibmaschine geschrieben, einen Absender gab es nicht. Im Umschlag fand Judith eine Karte für ein Konzert, das in vier Tagen in Hamburg stattfinden sollte. Nur die Karte …
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Judith schob sich in der Sitzreihe an den vielen Knien vorbei. Ihr Herz klopfte, ihr war fast übel vor Aufregung. Sie war verrückt gewesen, dieser anonymen Einladung zu folgen! Verrückt, sofort einen Flug gebucht und ein Hotelzimmer reserviert zu haben. Was würde sie tun, was sagen, wenn sie Gero wiederbegegnete? Denn wer anderes als er konnte die Karte geschickt haben? Verzweifelt wünschte sie sich zurück nach Cannes, in ihre ruhige Wohnung …

Es gab nur noch einen einzigen freien Platz in der Reihe. Rechts und links sassen je ein älterer Herr. Wer von ihnen war Gero? Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen? Der Herr, der ihr am nächsten war, stand höflich auf, um sie vorbeizulassen. Sein Gesicht war ihr völlig fremd.

Der Herr an der anderen Seite hatte sich ebenfalls erhoben. “Judith”, sagte er leise.
Er war es! Mit grauen Haaren, aber immer noch strahlend blauen Augen. Selbst blind hätte sie Gero sofort an seiner Stimme wiedererkannt. “Guten Tag, Gero”, lächelte sie. Wie hatte sie nur fürchten können, ihn nicht wiederzuerkennen? Sich überhaupt vor der Begegnung fürchten können? Alle Unruhe, alle Angst fielen schlagartig von ihr ab.

Sie setzten sich. Der Dirigent hob den Taktstock. Stille trat ein. Und dann erklang Brahms. Das Doppelkonzert für Violine und Violoncello. Judith und Gero berührten sich nicht, aber ihre Herzen sprachen zueinander. Plötzlich wusste Judith, wie eng ihr Leben in den letzten Jahren geworden war. Jedes Leben war eng, in dem die Liebe fehlte.

In der Pause tranken sie ein Glas Sekt, wie damals.

“Danke, dass du die Karte geschickt hast”, sagte Judith.

“Aber … ich habe sie nicht geschickt. Ich dachte, du hättest die Idee gehabt. Ich habe hingegen das Interview gelesen, Vera hatte mir die Zeitschrift geschickt.”

Einen Augenblick schauten sie sich ratlos an, dann spürte Judith einen leichten Arm um ihre Schulter: “Es passierte ja nichts, also musste ich zu dieser List greifen, denn so einfach kommt ihr mir nicht davon. Und jetzt enttäuscht mich bitte, bitte nicht. Ich liebe Happyends! Übrigens: Morgen fliege ich in die Staaten, für eine grosse Reportage. In meinem Alter fange ich noch richtig an zu reisen! Jetzt bin ich an der Reihe, Judith.”

“Vera, trink ein Glas Sekt mit uns”, bat Gero.

“Ich werde mich hüten! Ich möchte auch Flora nicht allein lassen, sie ist mit mir hier. Ich habe ihr alles erzählt. Sie werden sie später kennenlernen, Judith, genau wie auch Axel. Alles zu seiner Zeit. Macht’s gut, ihr beide!” Sie winkte noch einmal, und fort war sie.

Das Schweigen war gebrochen. Sie hatten sich so viel zu erzählen und beschlossen wie damals, nicht in den Konzertsaal zurückzukehren, sondern zusammen zu Abend zu essen.

Im Restaurant orderte Gero als erstes Champagner. Als die gefüllten Gläser vor ihnen standen, hob er das seine und prostete Judith zu.

Sie hob ebenfalls ihr Glas: “Es tut mir leid, dass ich dir damals so weh getan habe, Gero.”

“Und mir tut es leid, dass ich Vera nicht so lieben konnte, wie sie es verdiente.”

“Ich bewundere sie. Sie hatte recht, ich war feige. Zu feige, um die Initiative eines Wiedersehens zu ergreifen.”

“Ich auch. Obwohl Vera mir deine Adresse gegeben hatte. Aber ich bin nicht jünger geworden, meine Haare sind grau und mein Herz ist nicht mehr so stabil …”. Er griff über den Tisch hinweg nach Judiths Hand: “Nein, das stimmt nicht. Es ist unversehens wieder jung geworden. Und du? Wie fühlst du dich?”

“Himmlich”, lächelte sie. Ein köstliches Gefühl von Glück und Verlangen durchströmte sie. Es war wie Tanzen, als würden ihr wieder Flügel wachsen. Und diesmal, das wussten sie beide, würde es für immer sein …

ENDE

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Sonntag, 20. Januar 2013
Die Macht der Vergangenheit
“Ich liebe dich!” Diese Worte wollen Jens nur schwer über die Lippen kommen. Zu sehr ist er einmal von einer Frau enttäuscht worden. Dabei ist Silke eigentlich die Frau, nach der er sich schon immer gesehnt hat …
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Silke Ahrends stützte sich auf und sah zärtlich auf den Mann hinunter, der neben ihr schlief. Sie hatte solche Lust, über seine verwuschelten Haare zu streichen, tat es aber nicht, um ihn nicht zu wecken. Sie betrachtete die fast geraden Augenbrauen, den sensiblen Mund und das Grübchen im Kinn, das ihm so gut stand. Jens sah ausgesprochen gut aus.

“Jens Techau”, sagte sie leise, “ich glaube, ich liebe dich.”

Sie kannte den 32jährigen Diplom-Informatiker seit sieben Wochen, und es war ihre erste, gemeinsame Nacht. Ob auch er sie liebte? Alles wies darauf hin, aber gesagt hatte er es nicht. Selbst in dieser Nacht nicht …

Silke hatte ausserdem gemerkt, dass immer, wenn von Heirat und Kindern die Rede war, ein unsichtbares Visier bei ihm herunterklappte, dass er sich dann sofort innerlich zurückzog. Hatte er etwas erlebt, was ihn verletzt hatte?

Jetzt schlug Jens die Augen auf. Ein Lächeln ging über sein Gesicht. Er zog die junge Frau zu sich hinunter und küsste sie unendlich zart. Noch einmal versanken sie im Strudel der Leidenschaft. Anschliessend bettete er zärtlich ihren Kopf an seine Schulter, und sie seufzte glücklich: “Ich liebe dich, Jens.” Und weil er selbst so glücklich und entspannt wirkte, fügte sie spontan hinzu: “Von dir würde ich gern ein Kind haben. Du bist bestimmt ein wunderbarer Vater.”

Silke liebte Kinder. Wenn die 27-jährige Bürokauffrau bei ihrer Schwester zu Besuch war, beschäftigte sie sich gerne mit ihren drei Neffen und Nichten, die ihre Tante heiss und innig liebten. Und das lag nicht nur daran, dass sie ihnen immer etwas mitbrachte. Sie hatte einfach eine Gabe, mit Kindern umzugehen …

Aber jetzt hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Jens löste sich abrupt von ihr und warf die Decke zurück. “Ich muss gehen”, sagte er mit veränderter Stimme. “Ich habe heute noch viel zu tun.”

“Heute? Am Sonntag?” fragte sie enttäuscht.

Er antwortete ihr aus dem Bad: “Tut mir leid, ich hab’ mir Arbeit mit nach Hause gebracht.”

Silke versuchte es noch einmal: “Lass uns wenigstens noch miteinander frühstücken.”

“Ich frühstücke bei mir. Bitte, bleib liegen, du kannst doch gemütlich ausschlafen.”

Schlafen! Als ob sie jetzt noch schlafen könnte. Sie war jetzt ganz sicher, dass es ihre Bemerkung über Kinder war, die ihn in die Flucht schlug. Warum vertraute er sich ihr nicht an?
_ _ _

Jens küsste die junge Frau, die sich schlafend stellte, sanft auf die Stirn und zog leise die Tür hinter sich zu. Sein Wagen stand unten. Durch die fast leeren Strassen fuhr er nach Hause. Er war unzufrieden mit sich selbst. Die Arbeit war nur ein Vorwand. Warum sagte er Silke nicht endlich die Wahrheit?

Er schuldete sie ihr spätestens nach dieser Nacht. Sie war die Frau, nach der er so lange unbewusst gesucht hatte. Er liebte sie. Sie war so fröhlich, so warmherzig. Ganz anders als die Frauen, die er vor ihr gekannt hatte. Er sollte ihr einen Heiratsantrag machen. Einmal musste er doch vergessen und verzeihen. Was geschehen war, war geschehen, er konnte das doch nicht sein ganzes Leben mit sich herumschleppen!
Jens schloss gerade seine Wohnungstür auf, als das Telefon klingelte. Er beeilte sich, hereinzukommen. Vielleicht war ja Silke am anderen Ende der Leitung … Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

“Jens, hier ist Andrea”, hörte er eine nervöse Frauenstimme.

Er hatte auf einmal Mühe zu atmen, brachte keinen Ton heraus. Das durfte nicht wahr sein!

“Andrea Breitenkamp, du erinnerst dich doch?”

Ob er sich erinnerte? Sollte das Hohn sein?

“Was willst du?” fragte er kurz.

Jetzt schien es ihm, als weinte die Frau, aber ganz sicher war er nicht.

“Jens, du musst mir helfen. Du bist meine letzte Hoffnung!”

Angst schwappte in ihm hoch: “Ist etwas mit …”

“Ja, es ist Sebastian”, sagte sie. “Es … es ist ein Junge geworden, und er heisst Sebastian.”

Er biss so fest die Zähne aufeinander, dass seine Kiefern malmten.

“Er ist jetzt drei”, fuhr Andrea mit verzweifelter Stimme fort, “und er hat … er hat Leukämie. Blutkrebs. Die Ärzte wollen nun eine Knochenmarktransplantation vornehmen, aber meins ist ungeeignet. Könntest du … könntest du kommen? Es bestehen Chancen, dass dein Rückenmark identisch ist.”

Sein Kind. Und nun diese Nachricht. Der Sohn, den er nie gesehen hatte, war krank. Sterbenskrank!

Ganz leise fügte sie hinzu: “Ich bitte dich um Verzeihung für das, was ich dir angetan habe, Jens.”

“Schon gut, ich komme. Gib mir deine Adresse”, sagte er rauh.

Andrea Breitenkamp lebte jetzt in München. Er rief am Flughafen an und buchte den nächstmöglichen Flug. Dann packte er eine Reisetasche mit den nötigsten Sachen und wählte Silkes Nummer. Es hatte sich nun doch als richtig erwiesen, noch nicht mit ihr über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen. Schwerfällig sagte er: “Silke, ich muss nach München. Ich weiss noch nicht, wann ich wieder zurück sein werde.”

Jens wusste, er musste ihr endlich von seinem Kind erzählen. Es kam ihm zwar nicht richtig vor, es am Telefon zu tun, aber gleichzeitig war er erleichtert. Silke konnte so wenigstens nicht sehen, wie schwer es ihm fiel, Abschied von ihr zu nehmen. Er schluckte. Es war nicht einfach, die richtigen Worte zu finden. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Er erklärte ihr, dass Andrea und das Kind die Wende in seinem Leben gewesen waren. Ehrlich gestand er, dass er vorher in Punkto Frauen kein Kostverächter gewesen war. Sie machten es ihm auch leicht, selbst Andrea war zu Anfang nur eine von vielen gewesen. Aber eines Tages eröffnete sie ihm aus heiterem Himmel, dass sie ein Kind von ihm erwartete und ihn verlassen würde. Bis dahin hatte er sich nie richtig vor Augen geführt, dass die Tatsache, mit einer Frau zu schlafen, eben auch bedeuten konnte, ein Kind zu zeugen. Und zwar ohne es zu wollen und zu wissen – denn Andrea hatte ihm versichert, dass sie verhütete. Er bot ihr sofort an, sie zu heiraten, aber sie wies ihn ab. Sie wollte nur das Kind, keinen Mann.

Er hatte eingewendet, dass das Kind doch auch ihn etwas anginge, dass er der Vater sei, aber davon wollte sie nichts hören. Das Kind gehöre ihr allein. Niemand würde erfahren, wer der Vater sei.

Jens machte eine Pause, aber am anderen Ende der Leitung blieb es ganz still. Dann meinte er mühsam: “Sicher denkst du jetzt, dass ich übertreibe. Wie viele Männer haben irgendwo ein Kind, ohne es zu wissen. Aber das ist der Unterschied: Ich weiss es. Eine Frau hat mich als Erzeuger benutzt, und ich hatte keinerlei Rechte, was mein eigenes Kind betraf. Das war ein Schock für mich. Ich habe danach mein Leben geändert. Immerzu musste ich an das Kind denken. Ob es ein Junge war, oder ein Mädchen, wie es aussah, wie es ihm wohl ging. Ein Kind, das ist doch ein Teil von einem selbst. Ich habe lange überhaupt keine Frau mehr angerührt, und dann bin ich dir begegnet …”

Silke sagte immer noch nichts, und er fuhr stockend fort: “Ich muss es tun, Silke. Ich werde versuchen, meinem Kind zu helfen. Ich weiss nicht, wie sich die Dinge entwickeln werden und wann ich zurück komme. Es könnte sein, dass ich bei Andrea und unserem Sohn bleibe.” Es kostete ihn Mühe, das zu sagen.

“Ich verstehe”, sagte Silke endlich leise. “Ich wünsche dir, dass alles gut ausgeht für deinen Sohn und auch für dich.”

“Danke, vielen Dank, Silke.” Er wusste, dass ihre Antwort aus dem Herzen kam, aber er ahnte auch, was es für sie bedeutete. Rasch legte er auf. Er würde morgen von München aus in der Firma anrufen, um einen Sonderurlaub zu beantragen.
_ _ _

Das Taxi hielt vor dem Mehrfamilienhaus. Jens entlohnte den Fahrer und ging mit seiner Reisetasche zum Eingang. Neben den Klingelknöpfen fand er Andreas Namensschild.

Er klingelte. Fast augenblicklich wurde die Tür entriegelt. Andrea stand oben in der offenen Wohnungstür. Fast hätte er sie nicht wiedererkannt. Sie war blass und schmal geworden, und in ihre schönen, früher etwas kühlen Züge hatte sich tiefes Leid eingegraben.

Jens wusste gar nicht, was er ihr sagen sollte. Er räusperte sich.

“Danke, dass du gekommen bist”, sagte sie leise.

“Wie geht es … Sebastian?” Es war seltsam, den Namen seines Kindes auszusprechen.

“Nicht sehr gut. Er liegt im Krankenhaus und ist ziemlich schwach. Wenn du möchtest, fahren wir gleich hin. Oder möchtest du dich vorher etwas ausruhen?”

“Wir fahren”, bestimmte er.

Andrea führte ihn in die Wohnung. Sie war hell und freundlich eingerichtet. Gleich neben dem grossen Fenster im Wohnzimmer stand ihr Zeichenbrett. Seit Sebastians Geburt arbeitete sie zu Hause, erklärte sie Jens. Er erinnerte sich, dass Andrea als Werbegrafikerin sehr gefragt war.

Dann zeigte sie ihm das Schlafzimmer: “Ich hab’ mir gedacht, du schläfst hier und ich auf der Couch im Wohnzimmer.”

Er bestand darauf, dass sie es umgekehrt machten: sie im Schlafzimmer, er auf der Couch.

“Wie du möchtest”, sagte sie, und auf einmal fing sie an zu weinen. Ihre schmalen Schultern bebten. Obwohl sie ihm so weh getan hatte, nahm er sie in die Arme und presste sie an sich: “Alles wird gut werden”, murmelte er. Er drückte sein Gesicht in ihr hellblondes Haar: “Du wirst sehen, alles wird gut.” Seine Stimme war fest und beruhigend, aber eigentlich fühlte er sich genau so elend wie sie …

Nach einer halben Stunde Fahrt waren sie endlich im Krankenhaus. Sofort nahm er den eigentümlichen Geruch auf, den er in Krankenhäusern so verabscheute, und mit jedem Schritt durch die langen, hellen Flure wuchs das beklemmende Gefühl in seiner Brust. Endlich standen sie an Sebastians Bett. Das Kind hing am Tropf, und das kleine Gesicht mit den geschlossenen Augen war von durchsichtiger Blässe. Andrea drückte Jens’ Hand: “Glaub’ mir, ich hätte ihn dir so viel lieber gesund gezeigt.”

Jens erwiderte, ohne den brennenden Blick von seinem Sohn zu wenden: “Gesund hätte ich ihn wohl kaum zu Gesicht bekommen.” Seine ganze Bitterkeit schwang in den Worten mit, und Andrea senkte den Kopf.

Jetzt schlug der Junge die Augen auf. Der nächste Schock für Jens: Sie waren grau, wie die seinen.

Andrea beugte sich zu dem Kind hinunter und sagte zärtlich: “Sebastian, das ist dein Papa. Er wird dich gesund machen!”

Die grauen Kinderaugen fixierten ihn, aber kein Lächeln ging über Sebastians Gesicht. Woher sollte er ihn auch kennen?

Jens spürte eine nie gekannte Frustration, ja, sogar Hass auf die Frau, die da neben ihm stand. Was sie getan hatte, konnte er ihr niemals verzeihen. Er blickte von dem Jungen auf Andrea, die den Kleinen tapfer anlächelte – und ihre Angst vor dem Kind zu verbergen versuchte.

Und dann sagte er sich, dass sie genug gelitten hatte, dass auch er nicht unschuldig war. Es war jetzt an der Zeit, an Sebastian zu denken. Zusammen an ihn zu denken. Zum ersten Mal in seinem Leben betete er um etwas, nämlich, dass Sebastian gesund würde …
_ _ _

Ein paar Tage später, als die Transplantation nach vielen Untersuchungen schliesslich durchgeführt werden konnte, kamen Jens und Andrea etwas zur Ruhe. Endlich war einmal Zeit für ein offenes Gespräch. Andrea hatte eine Flasche Wein geöffnet und schenkte ihm ein. “Ich kann dir gar nicht genug danken für das, was du für Sebastian getan hast”, sagte sie. Ihr Dank war für Jens irgendwie beschämend. Es war doch das mindeste, was er für den Kleinen tun konnte. Der tapfere Junge verdiente alle Hilfe der Welt.

“Ich wäre froh, wenn ich ihm wirklich helfen könnte”, murmelte Jens.

Jetzt sah sie ihn voll an: “Weisst du, alles was ich wollte, war ein Kind. Ein Kind, das ich lieb haben konnte, dem ich geben konnte, was mir immer gefehlt hatte …” Andrea stockte und fuhr dann leise fort: “Von den Männern, die ich kannte, war ich so enttäuscht worden, dass ich nicht mehr den Mut hatte, mich auf eine feste Beziehung einzulassen. Zu gross war die Angst, mich dabei wieder aufzugeben, wieder alles zu verlieren und am Ende nicht mehr zu wissen, wie ich nun weiterleben sollte … Aber all die Liebe, die ich in mir spürte, wollte ich weitergeben. Der Wunsch nach einem Kind wurde übermächtig. Ich begann, einen passenden Erzeuger zu suchen und fand dich. Du hattest mit so vielen Frauen geschlafen. Ich sagte mir, dass du bestimmt eine ganze Menge von ihnen unglücklich gemacht hattest. Deshalb schien es mir nicht so schlimm, wenn ich mir von dir … ein Kind machen liess.”

Bevor Jens etwas darauf antworten konnte, fuhr sie hastig fort: “Jetzt denke ich anders darüber. Ich verstehe, was du empfunden haben musst, als ich dir an den Kopf warf, dass ich ein Baby erwartete, aber mit dir nichts mehr zu tun haben wollte und dir alle Rechte an dem Kind absprach.” Leise fügte sie hinzu: “Als du damals so wütend warst, dachte ich, es sei nur dein verletztes Ego. Aber jetzt weiss ich, du liebst Sebastian wirklich, sonst wärst du nicht gekommen, um ihm zu helfen.”

Jens bemühte sich, das Ganze herunterzuspielen: “Aber Andrea, das hätte doch jeder getan.” Er fügte hinzu: “Herzlos war ich nie, das glaube und hoffe ich jedenfalls. Nur egoistisch und sehr gedankenlos, was die Frauen betraf.”

Noch vor einer Stunde hatte er sie fragen wollen, ob sie ihn nicht doch heiraten wollte. Doch irgend etwas an ihrem Verhalten hielt ihn davon ab. Einen Augenblick waren beide still, dann fragte er: “Wer ist es?”

Sie verstand sofort, was er meinte: “Er heisst Stefan Konschack und ist Kinderarzt. Er kennt Sebastian von klein auf, und hat ihm und auch mir sehr geholfen. Er war der erste Mensch, dem ich mich anvertrauen konnte. Wenn ich mich jetzt besser kenne und mein inneres Gleichgewicht gefunden habe, verdanke ich das ihm.”

Jens schwieg. Dann lächelte er: “Und warum kenne ich ihn noch nicht?”

“Er hat in den U.S.A. an einem wichtigen Kongress über Leukämie teilgenommen. Heute kommt er zurück. Entschuldige, dass ich dir nicht schon von ihm erzählt habe, aber es ergab sich nie so recht die Gelegenheit.”

Sie lächelte ihm zu: “Was das Kind angeht, da kann ich dich beruhigen. Stefan und Sebastian lieben sich heiss und innig. Und ich liebe Stefan auch. Wir wollen bald heiraten.” Jens schluckte. Andrea sah es und fuhr fort: “Es gehört doch Liebe dazu, wenn man jemanden heiratet. Zwischen uns beiden, Jens, das war keine Liebe. Wir waren beide viel zu unreif damals.”

Er musste ihr Recht geben. Auch jetzt hätte er Andrea nur Sebastians wegen geheiratet. Und auch er wusste heute, was echte, tiefe Liebe war. Seit er Silke kennengelernt hatte. Silke!

Wie ging es ihr? Was mochte sie von ihm denken? Er hatte auf einmal ungeheure Sehnsucht nach ihr, und die Angst, sie könne ihn nicht mehr wollen, schnürte ihm plötzlich das Herz ab …

Jens lernte Stefan Konschack noch an diesem Abend kennen. Der Arzt bedankte sich mit einem langen, festen Händedruck bei ihm. Mit tiefer, angenehmer Stimme sagte er: “Wenn alles gut geht, haben Sie Sebastian zum zweiten Mal das Leben geschenkt.”

Jens fiel der Abschied von Sebastian schwer, aber er flog beruhigt nach Hamburg zurück. Andrea und ihr zukünftiger Mann hatten ihm versichert, dass er Sebastian so oft besuchen könnte, wie er wollte, und er wollte fest daran glauben, dass das Kind gesund wurde.
_ _ _

Silke dachte jeden Tag an Jens. Ob Sebastian gerettet werden konnte? Leitete Jens jetzt alles in die Wege, um bei seinem Sohn und Andrea zu bleiben? Immer wieder sagte sie sich, dass das, war er tat, normal war, trotzdem war sie unsagbar unglücklich.

Sie kam von der Arbeit, hatte noch eingekauft und ging nun die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Auf der letzten Treppenstufe ging das Licht aus. Es wurde sofort wieder angeknipst, und als sie hochblickte, sah sie Jens vor ihrer Tür stehen.

“Du … du bist zurück?” stammelte sie.

Er nahm sie in die Arme. “Ich liebe dich, Silke. Willst du mich heiraten?”

Ein heisses Glücksgefühl stieg in ihr auf. Sie lächelte ihm zu, und ihre Augen sagten "ja".

ENDE

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Freitag, 18. Januar 2013
Gutschein für einen Mann
Für ihren Urlaub in Paris bekommt Jana ein ganz besonderes Geschenk von ihren Freundinnen. Eine Überraschung, die sie wütend macht. Doch dann siegt ihre Neugier - und sie stürzt sich in ein Abenteuer, dessen Ausgang sie nicht kennt …
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Jana Heller drückte dem Hoteldiener ein Trinkgeld in die Hand, schloss die Tür hinter ihm und seufzte zufrieden. Eine Woche wohlverdienter Urlaub in Paris lag vor ihr. Sie holte den Umschlag aus ihrer Tasche, den ihre Freundinnen Carmen und Birgit ihr mit dem absoluten Verbot, ihn vor ihrer Ankunft zu öffnen, auf dem Flughafen überreicht hatten. Er enthielt eine Karte und eine Broschüre. Auf der Karte stand in grossen Buchstaben: “Gutschein für einen Mann.” Dann folgte in Birgits ordentlicher Lehrerinnenschrift: “Du hast richtig gelesen. Wir schenken dir einen Mann für sechs Stunden. Er heisst Mark, ist 32 Jahre alt und wartet am Sonntag um elf Uhr an der Bar des Hotel Ritz auf dich. Er sieht toll aus (siehe angekreuztes Foto) und interessiert sich wie du für Kunst. Und er spricht Deutsch. Bitte, geh sorgsam mit ihm um, er war nicht ganz billig. Und vor allem: Erzähl uns haargenau, wie es war!”

Aus der Broschüre entnahm Jana entgeistert, dass es sich um eine Pariser Agentur handelte, die Escort-Boys vermittelte. Ihre beiden besten Freundinnen hatten oft hirnverbrannte Ideen, aber diese hier schlug entschieden dem Fass den Boden aus. Stellten sie sich wirklich vor, dass sie mit einem Gigolo durch Paris ziehen würde? Das sollte wohl ein Witz sein! Empört stopfte sie alles zurück in den Umschlag. Carmen und Birgit würden etwas von ihr zu hören bekommen! Jetzt hatte sie aber erst einmal Hunger. Sie zog sich um und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant.
_ _ _

Am nächsten Tag war Sonntag. Bewundernd stand sie vor der prächtigen Opéra Garnier. Von dort aus wollte sie direkt zum Louvre gehen, verirrte sich aber in die vornehme Rue de la Paix. Und plötzlich lag der weite Platz Vendôme mit seinen schönen Häuserfronten, der Siegessäule - und dem Hotel Ritz vor ihr. Es war zehn nach elf. Wo sie schon mal hier war, sollte sie diesem gemieteten Mann wenigstens Bescheid sagen, dass sie seine Dienste nicht in Anspruch zu nehmen gedachte. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich sein Foto nicht genauer angesehen hatte. Hoffentlich erkannte sie ihn.

Bewundernde Männerblicke folgten ihr, als sie in ihrem schicken Kostüm die Halle des Luxushotels durchquerte. In der Tür zur Bar blieb sie stehen. Ein gutgekleideter Mann an der Theke, der aufmerksam den Eingang beobachtete, stand auf und kam ihr lächelnd entgegen: “Guten Tag, Jana, ich bin Mark”, sagte er auf Deutsch.

Aufgerüttelt stellte sie fest, dass er geradezu umwerfen gut aussah mit seinem Grübchen im Kinn, den dunklen Haaren und den strahlend blauen Augen. Und mindestens zehn Zentimeter grösser als sie war er auch. Perplex stotterte sie: “Woher … woher wissen Sie …”

Er grinste nett: “Ich habe Ihre Beschreibung erhalten. Blonde, schulterlange Haare, grüne Augen, etwa 1.70 Meter gross, schlank, langbeinig und ausgesprochen hübsch. Stimmt alles.”

Ehe sie protestieren konnte - und wollte sie das überhaupt noch? - führte er sie zur Theke. Als er leicht unter ihren Ellenbogen griff, durchrieselte sie ein angenehmer Schauer.

“Was trinken Sie?” erkundigte er sich.

“Ein Glas Champagner, bitte.” Wenn schon, denn schon, fand sie.

Er gab sie Bestellung auf französisch an den Barkeeper weiter. Jana hatte fast vergessen, wie schön es war, wenn ein Mann diese Dinge übernahm. Als das Gewünschte vor ihnen stand, hob Mark sein Glas: “Ich freue mich, mit Ihnen hier zu sein, Jana. Sie sind doch einverstanden, wenn wir uns bei unseren Vornamen nennen?”

Sein Vorschlag war ihr recht. Und das Vergnügen, in Marks Gesellschaft zu sein, wuchs von Minute zu Minute. Dieser Mann war nett und gebildet, er hatte Charme, Humor und ausgezeichnete Manieren.

“Wo möchten Sie denn zu Mittag essen?” erkundigte er sich schliesslich.

“Das überlasse ich Ihnen, Mark.”

“Ich kenne ein ausgezeichnetes kleines Restaurant ganz in der Nähe. Wir können zu Fuss dorthin gehen.” Dann bat er sie, ihn einen Augenblick zu entschuldigen.
Als er zurückkam, fragte sie leise: “Könnten Sie bitte die Rechnung für mich verlangen?”

“Schon erledigt”, gab er ebenso leise zurück.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Art Nebenkosten im Preis inbegriffen waren. Vielleicht bezahlte Mark jetzt, liess sich aber die Auslagen später zurückerstatten? Sie wollte ihn fragen, aber Mark lachte sie an und wollte, dass sie aufbrachen.

Das Essen war vorzüglich, und der gute Wein lockerte Janas Zunge. Sie gestand ihm, dass sie ihn eigentlich nicht hatte treffen wollen: “Sie wissen sicher, dass Sie ein Geschenk meiner beiden Freundinnen sind? Ich fand es reichlich seltsam.”

Er lachte. “Sie haben gedacht, ich sei ein Gigolo, stimmt’s? Trösten Sie sich, das tun viele.”

“Was ist denn ein Escort-Boy? Und wer nimmt seine Dienste in Anspruch?” Jana wollte es jetzt ganz genau wissen.

“Ein Escort-Boy ist ein Mann, der für einige Stunden die Rolle eines Begleiters übernimmt. Unsere Kundinnen sind meistens Karrierefrauen, die gewollt oder ungewollt keinen Mann in ihrem Leben haben, aus verschiedenen Gründen aber nicht allein zu einem mehr oder weniger offiziellen Anlass erscheinen wollen. Wir können aber auch wie in Ihrem Fall ein Geschenk sein. An eine Freundin, eine Mutter oder sogar eine Grossmutter.”

“Und wie kommt man zu solch einem Beruf?”

“Durch Zufall. Es gibt ihn auch noch gar nicht so lange. Die meisten von uns machen das nebenberuflich. Ich selbst bin Jurist und absolviere dieses Jahr hier in Paris eine Business-School, die mir den Aufstieg ins Management erleichtern soll. Ich finanziere die teure Ausbildung selbst. Wir verdienen gut und können uns unsere Arbeitszeiten aussuchen, denn für mich kommen zum Beispiel fast nur die Wochenenden in Frage, damit mir genügend Zeit für das Studium bleibt.”

“Macht Ihnen die Arbeit denn Spass?”

“Sehr”, versicherte er ernsthaft. “Sie glauben nicht, wieviel ich schon dazugelernt habe. Durch die Frauen und auch über sie.”

“Sind Sie nicht verheiratet?” Die Frage war ihr herausgerutscht, und sie wurde rot. Hastig fügte sie hinzu: “Verzeihen Sie, ich möchte nicht indiskret sein.”

Mark blieb völlig unbefangen: “Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich hatte bis jetzt keine Zeit dazu.”

Eine andere Frage brannte ihr auf der Zunge: “Bekommen Sie nie - unmoralische Angebote?”

Er lachte wieder. “Solche Dienste kommen nicht in Frage. Wir sind Begleiter - in allen Ehren. Das ist vertraglich festgelegt.”

Sie erfuhr, dass er Deutscher war, aber, als er jung war, mit seinen Eltern einige Jahre in Paris gelebt hatte. Hier hatte er perfekt Französisch gelernt und auch sein Abitur gemacht. Nach seinem Studium in Deutschland hatte er bis zu seiner Fortbildung in Paris in einem Frankfurter Industrieunternehmen gearbeitet.

Jana ihrerseits erzählte von ihrem Studium, und dass sie sich vor drei Jahren in Hamburg mit einer Werbeagentur selbstständig gemacht hatte, die inzwischen ausgezeichnet lief. “Ich habe wohl auch zuviel gearbeitet. Eine langjährige Beziehung ist darüber in die Brüche gegangen. Bestürzt stellte sie fest, dass sie in diesem Augenblick unfähig war, sich an Hennings Gesicht zu erinnern.

Als die Rechnung kam, wollte Jana sie an sich nehmen, aber wieder kam Mark ihr zuvor. Draussen fragte er: “Was möchten Sie jetzt machen?”

Jana erwiderte, dass sie sich gern die Meister der italienischen Frührenaissance im Louvre ansehen würde. Als sie nachher langsam von Bild zu Bild gingen, staunte Jana über Marks Kunstkenntnisse. “Woher wissen Sie so gut Bescheid, Mark?”

“Ich habe Kunst sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen, meine Mutter malt.”

Die Zeit verging wie im Flug. Als Jana endlich auf die Uhr sah, erschak sie: “Die sechs Stunden sind herum!”

“Schon?” Irrte sie sich, oder schwang Bedauern in seiner Stimme mit? “Ich bringe Sie gern bis zu Ihrem Hotel zurück”, bot er ihr an.

“Das ist nett, aber nicht nötig, Mark. Danke für die schönen Stunden.”

“Ich bin es, der Ihnen dankt.” Er nahm sie zum Abschied in die Arme, und sie spürte kurz seine Wange an der ihren. Er roch gut, und die Wange kratzte ein wenig. Tausend Schmetterlinge tanzten auf einmal in ihrem Bauch, aber schon liess er sie wieder los und räusperte sich: “Alles Gute, Jana. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Paris.”

“Ihnen ebenfalls alles Gute, und viel Erfolg beim Studium.” Die eigene Stimme kam ihr ganz fremd vor.

Als sie langsam zum Hotel zurück ging, fiel ihr ein, dass sie nicht über das Problem der Nebenkosten gesprochen hatten. Sie entschied, dass Mark wissen musste, was er tat. Denn etwas anderes beschäftigte sie noch viel mehr: Sie hatte sich verliebt. Wie noch nie in ihrem Leben. Nein, auch bei Henning hatte sie nie auch nur annähernd dieses Gefühl gehabt, einen halben Meter über dem Boden zu schweben. Die verwirrende Frage war nur: In wen hatte sie sich verliebt? In den Escort-Boy, der seinen Kundinnen (fast) jeden Wunsch von den Augen ablas und dessen Komplimente sicher im Preis inbegriffen waren, oder den wirklichen Mark? Kannte sie den überhaupt? Womöglich hatte er ihr lauter Lügen aufgetischt, war in Wirklichkeit verheiratet und hatte sechs Kinder. Schluss, befahl sie sich. Ehe ihr Kopf platzte, wollte sie diesen Mark lieber schleunigst vergessen …

Es gelang ihr nicht. Der Rest ihres Urlaubs war von dem Gedanken beherrscht, wieviel amüsanter und schöner alles mit Mark zusammen gewesen wäre! Fast war sie froh, als sie am nächsten Samstag nach Hamburg zurück flog.

Am Dienstag traf sie sich mit Carmen und Birgit in der Stadt. “Na, wie war’s?” fragten ihre Freundinnen einstimmig mit glänzenden Augen.

Jana erzählte und lachte mit ihnen, sorgfältig bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihr Herz auf so dumme Art verloren hatte.
_ _ _

In der nächsten Zeit betäubte sie sich mit Arbeit, aber nachts kehrten die Gedanken an Mark zurück. Mehr als einmal überlegte sie, noch einmal für ein Wochenende nach Paris zu fahren und Mark als Escort-Boy anzufordern, nur, um ihre Gefühle zu überprüfen. Die Furcht, sich lächerlich zu machen, hielt sie davon ab. Ausserdem hatte Mark sicher inzwischen sein Examen gemacht und arbeitete nicht mehr für die Agentur. Aber wo war er dann jetzt?

Fast hätte sie darüber Carmens Geburtstagsparty vergessen. Sie kam zwanzig Minuten zu spät. Die Party war in vollem Gang, die Gäste drängten sich im Wohnzimmer um ihre Freundin. Carmen bedankte sich gerührt über Janas Geschenk, eine lustige Zeichnung von Julio, Carmens kleinen Kater, dann sah sie die Freundin prüfend an: “Was ist denn, Jana? Du siehst aus, als hättest du Halluzinationen.”

“Dieser … dieser Mann da”, keuchte Jana und schaute entgeistert auf die andere Seite des Raums.

“Ach, du meinst Mark?” Carmen lachte über das ganze Gesicht und zog die Freundin rasch in die Küche, wo Birgit gerade Sekt in Gläser schenkte.

“Birgit und ich müssen dir etwas gestehen. Mark ist ein früherer Studienfreund von meinem Vetter Peter. Sie hatten sich aus den Augen verloren, aber über einen gemeinsamen Freund hörte Peter, dass Mark in Paris einen Lehrgang mitmachte und in einer renommierten Agentur als Escort-Boy jobbte. Birgit und ich fanden das wahnsinnig aufregend und haben uns sofort den Katalog kommen lassen.”

“Und dann habt ihr …” Jana konnte es nicht fassen.

“Es passte so gut, dass du gerade nach Paris fahren wolltest. Wir fanden das ganz witzig”, kicherte Birgit.

“Witzig!” Jana holte tief Luft.

“Ja, freust du dich denn nicht, deinen Escort-Boy wiederzusehen?” fragte Carmen. “Gib zu, er sieht toll aus!”

Freuen? Jana hatte weiche Knie und feuchte Hände, und ihr Herz klopfte wie verrückt! Damit ihre Freundinnen nichts von ihrem Zustand merkten, schlug sie einen energischen Ton an: “Wie kommt er denn heute hierher?”

“Er hat letzte Woche Peter angerufen, weil er eine Stelle in Hamburg gefunden hat und eine Wohnung sucht. Peter hat ihn daraufhin zu meiner Party eingeladen. Los, gehen wir rüber zu ihm? Ich möchte zu gern sein Gesicht sehen, wenn er dich erkennt.” Erwartungsvoll rieb Carmen sich die Hände.

Das waren also ihre Freundinnen. War Freundinnen überhaupt das richtige Wort? Jana warf ihnen einen eisigen Blick zu und entschied: “Das mache ich allein.” Worauf sie die beiden einfach stehen liess und mit zittrigen Beinen das Zimmer durchquerte.

“Guten Abend, Mark.” Ihre Stimme hörte sich genauso zittrig an.

Jetzt war es an ihm, sie anzustarren, als sei sie eine Erscheinung: “Jana!”

Es hörte sich an, als sei ihm der Kragen zu eng geworden. Immerhin erinnerte er sich an sie, dachte Jana erleichtert. Und dann kam Leben in ihn. Er schnappte sich zwei Gläser Sekt vom Tablett, das Birgit ihm diensteifrig hinstreckte, reichte eins davon Jana und wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor: “Nicht hier, Mark”, raunte sie ihm zu. “Kommen Sie mit in den Wintergarten.”

Hier waren sie wenigstens im Moment allein und ausser Hörweite der Intrigantinnen, sagte sich Jana. Dann dachte sie nicht mehr an Carmen und Birgit. Beide stellten fest, dass sie nicht aufhören konnten zu lächeln. Dann sagte Mark: “Wissen Sie, dass ich Ihretwegen nach Hamburg gekommen bin? Weil ich sie wiedersehen wollte. Und dann musste ich festellen, dass Sie nicht im Telefonbuch stehen. Und den Namen Ihrer Agentur wusste ich auch nicht. Und jetzt sind Sie da! Ich kann’s immer noch nicht fassen. Wenn das kein Schicksal ist …”

“Für meinen Privatanschluss habe ich eine Geheimnummer, und meine Agentur heisst Phönix. Sind Sie wirklich meinetwegen hierhergekommen?” Sie musste es einfach noch einmal hören.

“Wirklich”, erwiderte er ernst. Es hatte ein bisschen gedauert, bis bei ihm der Groschen fiel, denn er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. “Ich konnte Sie nicht vergessen, Jana”, fügte er hinzu.

“Ich Sie auch nicht”, gestand sie überwältigt. Welche Rolle ihre Freundinnen in ihrer Geschichte spielten, würde sie ihm später einmal schonend beibringen. Mark hatte genug Humor, um darüber zu lachen. Jetzt wollte sie endlich richtig Bekanntschaft mit ihm machen.

Irgendwann an diesem Abend gingen sie zum ‘du’ über. “Warum siehst du mich so an?” fragte Mark, als sie wieder miteinander tanzten.

“Weil ich herausbekommen möchte, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Escort-Boy und dir.”

“Wie zwischen Doctor Jekyll und Mister Hyde?” fragte er amüsiert. Dann wurde er ernst: “Ich sehe nur einen, aber einen ganz entscheidenden.” Er führte sie wieder in den Wintergarten hinaus und sagte zärtlich nach einem langen Kuss: “Ich bin nicht mehr im Dienst, Liebste.”

ENDE

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Mittwoch, 16. Januar 2013
LIEBLING, ICH WERDE HEIRATEN!
Susann hat von dem charmanten Windhund Phil, der nicht daran denkt, sich zu binden, die Nase gestrichen voll. Deshalb nimmt sie den Heiratsantrag des seriösen Anwalts Heinz an. Er ist absolut treu – allerdings auch pingelig und langweilig …
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Das Telefon klingelte. Susann streckte den Arm aus und griff nach dem Hörer: “Susann Engelbrecht, ja bitte?”

“Hier ist Phil. Susann, ich bin wieder in Düsseldorf und habe zwei Wochen Zeit, bis ich nach München muss. Darf ich kommen, Liebling?”

Sechs Monate hatte er nichts von sich hören lassen. Das waren drei Monate zuviel gewesen. Susann räusperte sich und begann entschlossen: “Phil, ich muss dir etwas sagen …”

“Warte damit. In zehn Minuten bin ich bei dir!” Schon hatte er aufgelegt. Auch gut. Es wäre einfacher gewesen, es ihm am Telefon zu sagen - aber auch ziemlich feige. Ausserdem war sie unheimlich neugierig auf das Gesicht, das er machen würde.

Pünktlich zehn Minuten später war er da. Wie immer benutzte er nicht den Fahrstuhl, sondern stürmte die Treppe hoch. Dann stand er vor ihr, einen Strauss roter Rosen in der einen, eine Flasche Champagner in der anderen Hand. “Endlich”, seufzte er glücklich, reichte ihr die Blumen und breitete erwartungsvoll die Arme aus.

Verdammt, sah der Bursche gut aus mit seinen lachenden blauen Augen. Susann lächelte gerührt, aber diesmal war ihr Herz gewappnet. Gegen die Wiedersehensfreude und die schmerzenden Abschiede, wenn er wieder fort musste. Phil Küppers war Informatiker und hielt für eine amerikanische Computerfirma Arbeitsseminare in der ganzen Welt ab. Vor drei Jahren hatte sie als MTA an einem seiner Seminare teilgenommen, und gleich am ersten Tag hatten sie sich voneinander angezogen gefühlt wie zwei Magneten. Aber nie hatte er auch nur erwogen, sesshaft zu werden, sich ernsthaft zu binden. Phil machte kein Geheimnis daraus, dass es in seinem Herzen auch Platz für eine Joan in New-York, eine Carla in Mailand und eine Denise in Paris gab. Und Susann in Düsseldorf würde ihm jetzt endgültig den Laufpass geben.

Sie holte tief Luft, und ihre Stimme klang fest: “Liebling, ich wollte es dir schon am Telefon sagen, aber du hast mir keine Zeit dazu gelassen. Ich werde heiraten.”

Er stand da wie ein begossener Pudel, mit hängenden Schultern. “Du heiratest? Ja, wen denn?” fragte er fassungslos.

“Du kennst ihn nicht, er heisst Heinz Behrends.”

“Wie lange kennst du ihn denn schon?”

“Seit drei Monaten. Und ich habe fest vor, mit ihm glücklich zu werden.”

“Aber ich dachte, wir beide wären glücklich …”

“Ja. Wenn du da bist. Aber meistens bist du das ja nicht”, erwiderte sie nachtragend. “Und deine anderen Eroberungen erwähne ich besser gar nicht erst.”

“Und wann soll die Hochzeit stattfinden?”

Susann hatte fast Mitleid mit ihm - weil er aussah, als hätte ihn jemand geschlagen. Nichtsdestotrotz fuhr sie unbeirrt fort: “In genau zwei Monaten.” Sie drückte ihm den Strauss Rosen wieder in die Hand und schob ihn energisch zur Tür: “Geh jetzt bitte, Phil. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.”

Er ging tatsächlich. Selbst sein Rücken sah traurig aus. Aber er würde sich schon wieder erholen - bei seinen anderen Eroberungen, dachte sie grimmig. Rasch schloss sie die Tür hinter ihm und sagte sich, dass sie ihn vergessen würde. Ja, sie würde vergessen, wie zärtlich und leidenschaftlich ihre Nächte gewesen waren und wie gut sie sich verstanden hatten. So gut, dass sie ihm viel zu lange alles nachgesehen hatte: Seine langen Abwesenheiten, in denen sie nichts von ihm hörte, sein plötzliches Auftauchen, Joan, Carla und Denise - und all die anderen, von denen sie nichts wusste.

Bei Heinz würde sie Glück und Geborgenheit finden. Heinz war Patentanwalt. Er war intelligent und kultiviert, ruhig, zuverlässig und absolut treu. Als er ihr vor zwei Wochen in aller Form einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte er ihr sein Herz zu Füssen gelegt und ihr sofort einen Einblick in seine Vermögensverhältnisse gewährt. Er hatte ihr erklärt, auf welche Weise er seit Jahren jede Mark, die er entbehren konnte, gewinnbringend angelegt hatte. Gleich nach der Hochzeit würden sie mit dem Bauen beginnen. Eine Villa im Grünen sollte es sein, mit einem Garten für die Kinder.
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Susann stand vor dem Spiegel, zog die vollen Lippen nach und trug etwas Rouge auf, weil sie sich ein wenig blass fand. Kaum war sie in ihre Pumps geschlüpft, klingelte es: Heinz holte sie zu einem gemeinsamen Theaterabend mit anschliessendem Restaurantbesuch ab. Sogar Blumen hatte er ihr mitgebracht. Vom Markt, weil sie dort preiswerter waren. Dass er nicht wie Phil sein Geld zum Fenster hinauswarf, gereichte ihm zur Ehre, befand Susann.

Das moderne Theaterstück hatte ausgezeichnete Kritiken bekommen, aber Susann konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Sie warf Heinz, der dem Geschehen auf der Bühne konzentriert zu folgen schien, einen flüchtigen Seitenblick zu. Einen Augenblick betrachtete sie sein blondes Haar, das sich schon etwas lichtete, seine hohe Stirn und den Mund mit den schmalen Lippen. Auf seine Weise sah er durchaus gut aus - aber ihm fehlte der Charme, den Phil so überreichlich hatte. Ihr kam plötzlich in den Sinn, dass es womöglich nicht das Stück war, das sie langweilte, sondern der Mann, mit dem sie es sich ansah. Und weil sie sich dieses Gedankens schämte, legte sie rasch ihre Hand auf die seine und lächelte ihm zu.

Im Restaurant sprach er über ihre Zukunft. Heinz war der Ansicht, dass eine standesamtliche Trauung im engsten Familienkreis und nur mit einigen guten Freunden völlig ausreichend wäre. Die Hochzeitsreise - irgend etwas in einer vernünftigen Preislage - würden sie später machen, im Augenblick hätte er zuviel Arbeit. Und er würde es als sehr wünschenswert ansehen, wenn sie möglichst schnell ihre Stelle kündigte: “Es ist nicht möglich, eine gute Ehe zu führen, wenn beide Partner arbeiten. Du wirst genug damit zu tun haben, den Hausbau zu überwachen und uns anschliessend ein gemütliches Heim zu schaffen. Uns und unseren beiden Kindern”, fügte er hinzu. Denn Heinz meinte, zwei Kinder seien genug in der heutigen Zeit.

Susann hatte nichts dagegen einzuwenden, und dass er alles so genau plante, sprach doch nun wirklich für ihn.

“Soll ich ein zweites Glas Wein für dich bestellen?” erkundigte er sich höflich, als er sah, dass Susann ihr Glas bereits geleert hatte - um sofort hinzuzufügen: “Obwohl es natürlich nicht gut ist, so viel zu trinken, Schatz.”

“Ich würde bitte trotzdem gern ein zweites Glas haben.”

Er bestellte es sofort. Immerhin.

Es würde eine Vernunftehe sein, das war ihr klar. Aber hielten Vernunftehen nicht länger als so manche Liebesheirat? Und oft stellte sich dann später als Dreingabe doch noch die grosse Liebe ein. Ihre Mutter behauptete das jedenfalls.

“Gestern war Phil übrigens da”, berichtete sie ihrem Zukünftigen wahrheitsgemäss. “Ich habe ihm von unseren Heiratsabsichten erzählt und ihn fortgeschickt.”

Lächelnd sah Heinz sie an: “Dann können wir das Thema ja endgültig begraben, mein Schatz.”
_ _ _

Susann begoss die Entenbrust im Backofen. Sie hatte Heinz zum Abendessen eingeladen. Er fand, dass sie eine ausgezeichnete Köchin war und es bei ihr viel besser schmeckte als in einem Drei-Sterne-Restaurant. Als es klingelte, mixte er gerade einen Drink.

“Ich geh hin”, rief er ihr zu.

Kurz darauf steckte er seinen Kopf durch die Küchentür: “Es war dein Ex, Schatz.”

Susann schaute ihn überrascht an: “Phil?”

“Ja, aber ich hab ihn gar nicht erst ‘reingelassen - schliesslich hat er hier nichts mehr zu suchen, nicht wahr?”

“Was? Und du hast ihn einfach fortgeschickt?”

“Susann, wir sind verlobt. In einer Woche bin ich dein Ehemann”, erklärte er schockiert.

Endlich tauchte sie aus dem seltsamen Betäubungszustand auf, der in den letzten Wochen von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie trat einen Schritt an ihn heran und stemmte die Hände in die Hüften. “Ich weiss. Aber noch bin ich hier in meiner Wohnung, und noch sind wir nicht verheiratet. Trotzdem entscheidest du schon alles für mich. Wie wird das erst nach unserer Heirat sein?”

Er hob überrascht die Augenbrauen: “Was ist denn los, Susann? Du hast doch mit ihm Schluss gemacht, jedenfalls hast du mir das erzählt.”

“Es geht nicht darum”, funkelte sie ihn an, “es geht um die Tasache, dass ich für mich selbst sprechen kann!”

Einen Moment stand er wie erstarrt da, dann sagte er mit schmalen Lippen: “Streit ist mir zuwider, Susann. Du scheinst heute einen schlechten Tag zu haben, es ist wohl besser, wenn ich gehe. Ruh dich aus und ruf mich an, wenn du dich besonnen hast.”

“Das habe ich schon, Heinz. Ich … ich kann dich nicht heiraten. Verzeih’ mir bitte.”

Als er endlich mit beleidigtem Gesicht gegangen war, nachdem er ihr vorgerechnet hatte, was ihn die geplatzte Hochzeit kosten würde, drehte sie den Backofen aus, stellte die verkohlte Entenbrust ins offene Fenster und sank entmutigt auf einen Stuhl.

Was nun? Sie hatte alles falsch gemacht. Der Mann, den sie noch immer liebte - nämlich Phil - war als Ehemann völlig ungeeignet. Und für Heinz, der sie hatte heiraten wollen, empfand sie keine grosse Liebe. Zu allem Überfluss hatte sie keinen Job mehr, denn sie hatte schon gekündigt. Schliesslich stand sie auf, griff nach ihrer Jacke und steckte den Schlüssel ein. Sie brauchte frische Luft.

Kaum war sie unten, hielt mit kreischenden Bremsen ein Wagen am Bordstein. Susann erschrak zu Tode, doch dann erkannte sie Phil, der aus dem Wagen sprang und auf sie zukam.

“Was… was machst du denn hier?” stotterte sie.

“Ich bin zurückgekommen, um mit dir zu sprechen. Bitte, hör mich an, Susann. Nachher kannst du mir sagen, dass du mich wirklich nicht mehr willst, aber ich möchte es von dir hören, nicht von deinem Verlobten.” Phil holte tief Luft. “Ich war in München, in Mailand und in Budapest, um dort meine Seminare abzuhalten. Ich hatte mir so gewünscht, Budapest zu sehen …”

“Und die Ungarinnen. Die sollen ja sehr temperamentvoll sein, nicht?” bemerkte Susann bissig, während ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Er tupfte sie sanft fort: “Erinnerst du dich an Joan, Carla und Denise? Ich sehe sie längst nicht mehr. Von dem Tag an nicht mehr, als mir klar wurde, dass ich dich liebe - und das war vor drei Jahren.”

“Aber Phil, warum hast du mir das nicht eher gesagt?” fragte sie fassungslos.

Er hob die Achseln: “Aus Selbstschutz, vermute ich. Ich hatte mir geschworen, nie zu heiraten. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich zehn Jahre alt war. Und vorher flogen die Teller nur so rum.” Er musterte sie: “Sag mal, was machst du eigentlich hier unten?”

“Ich hielt es nicht mehr in der Wohnung aus. Ich habe Heinz gesagt, dass ich ihn nicht heiraten kann.”

“Bin ich daran schuld?”

“Ja, aber du hast mich vor einem Leben voller Langeweile gerettet.”

Nervös trat er von einem Bein auf’s andere. “Ich bin fast verrückt geworden, je näher dein Hochzeitstag rückte. Vor zwei Wochen habe ich mich um eine Stelle hier in Düsseldorf beworben, und heute den Bescheid bekommen, dass ich sie bekommen habe. Nächsten Monat fange ich an. Liebling, ich möchte nie wieder von dir getrennt sein. Susann, bitte heirate mich!”

Sie standen sich gegenüber, und Susanns Herz hüpfte vor Freude. Er hatte sich wirklich geändert, dachte sie glücklich. Irgendwie sah er erwachsener aus, aber seinen Charme hatte er Gott sei Dank nicht eingebüsst. Und er küsste noch immer so wundervoll wie früher.

ENDE

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Montag, 14. Januar 2013
EINLADUNG NACH MELBOURNE
Der erfolgreiche Krimi-Autor Klaus hat Ilonas Herz gewonnen, doch in letzter Zeit benimmt er sich merkwürdig. Da kommt der smarte Oliver mit einer verlockenden Einladung nach Australien gerade recht …
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“Klaus, sieh’ mal!” Ilona Jochim schwenkte einen Luftpostbrief in der Hand. Er warf einen Blick auf den Absender. “Aus Australien? Von diesem Oliver? Was will er?” fragte er knapp. Er erinnerte sich allzu gut an den blendend aussehenden Oliver Bertram, der im Sommer geschäftlich in der Maschinenfabrik zu tun hatte, in der Ilona als Sekretärin arbeitete. Er hatte ihn ein paarmal gesehen, das hatte ihm genügt.

Sie lächelte Klaus an, zog den Bogen heraus und las: “Liebe Ilona. Ich denke oft an den letzten Sommer in Bremen zurück. Sie haben sich reizend und kompetent um mich gekümmert. Hätten Sie Lust, heute mein Gast in Melbourne zu sein? Selbstverständlich gilt diese Einladung auch für Ihren Freund Klaus Hardege. In aufrichtiger Freundschaft, Ihr Oliver Bertram.”

Sie sah ihn an: “Wie findest du das?” fragte sie aufgeregt.

Klaus machte ein abweisendes Gesicht: “Du weisst, dass ich an meinem neuen Krimi arbeite.” In Wirklichkeit hatte er eine Schreibblockade, die ihm seit nun schon über drei Wochen schwer zu schaffen machte. Trotzdem verbrachte er Stunden an seinem Computer – um hinterher die paar Seiten, die er zustande gebracht hatte, zu löschen.

“Du bist erst 33, und du lebst nur noch, um zu schreiben. Du musst doch auch etwas erleben, um schreiben zu können, und hier ergibt sich eine Gelegenheit. Bitte, komm mit!”

“Oliver würde enttäuscht sein”, brummte Klaus.

Sie sah ihn verständnislos an.

“Loni”, erklärte er ihr, “er hat schon im Sommer nur daran gedacht, wie er dich in sein Bett bekommt.”

“Wie kannst du so etwas sagen?” funkelte sie ihn empört an. “Oliver ist ein Gentleman!”

Jedes Wort tat ihm weh, und wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr er Ilona liebte und wie schön sie war. Er hatte nie begriffen, was sie an ihm fand. Er war zwar kräftig, aber nur mittelgross, weit davon entfernt, so gut auszusehen wie dieser verdammte Oliver, und zu allem Überfluss bekam er schon Geheimratsecken. Sie hatten sich vor sechs Monaten kennengelernt. Er musste zu seinem Verleger nach Hamburg und hatte angehalten, weil er ein Auto im Strassengraben sah. Ilona hatte unversehrt, aber geschockt, danebengestanden. Ein Raser hatte sie bei einem riskanten Überholmanöver von der Strasse abgedrängt.

Er hatte ihr geholfen und sich dabei in sie verliebt. Verliebt wie noch nie in seinem Leben. Und irgendein Wunder hatte gewirkt, dass sie seine Gefühle erwiderte. Er traute immer noch nicht seinem Glück, selbst wenn sie es war, die vor zwei Monaten vorgeschlagen hatte, dass sie doch zusammenziehen sollten.

Jetzt war Ilona zornig: “Klaus Hardege. Wir sind nie auch nur einmal miteinander verreist, seit wir uns kennen. Nicht einmal für ein Wochenende! Ich habe nicht die Absicht, mich für den Rest meines Lebens hier in Bremen zu vergraben. Ich werde fahren. Auch ohne dich!”
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Oliver Bertram lächelte sie mit blitzenden Zähnen in seinem braungebrannten Gesicht an: “Willkommen in Melbourne, schöne Ilona. Sie sehen bezaubernd aus. Wie schade, dass Ihr Freund nicht mitkommen konnte!”

Sie wünschte, Klaus hätte das gehört.

Olivers Geländewagen stand auf dem Parkplatz. Mit gekonntem Schwung warf er ihren Koffer hinein und lächelte ihr zu, als er sich neben sie ans Steuer setzte. “Los geht’s!”

Ihre Müdigkeit war schlagartig verflogen, als sie durch die Innenstadt von Melbourne fuhren. Sie bestaunte die alten Tramways und die gepflegten Grünanlagen. Der absolute Höhepunkt war jedoch Olivers Haus: eine zauberhafte viktorianische Villa mit Blick auf die Bucht.

Oliver riss sie aus ihrer versunkenen Betrachtung: “Möchten Sie Ihr Reich sehen?” fragte er liebenswürdig.

Ihr “Reich” entpuppte sich als ein hübsch eingerichtetes Gastzimmer mit eigenem Bad. Sie konnte es sogar abschliessen. Das war doch ein Beweiss, dass Oliver ein Gentleman war?

Ihr Koffer stand schon da, und Oliver entschuldigte sich: “Ich muss nochmal kurz in die Firma, aber Sie möchten sich sicher frisch machen und etwas ausruhen. In einer Stunde bin ich zurück, dann gehen wir essen.”

Der Abend in einem französischen Restaurant wurde zu einem vollen Erfolg. Der Wein stimmte Ilona fröhlich, was ihr gut tat nach der angespannten Atmosphäre zu Hause. Aber Oliver nutzte ihren Schwips in keiner Weise aus, nicht einmal, als sie in seinem Haus zurück waren. Er wünschte ihr eine gute Nacht und machte eigenhändig die Tür ihres Zimmers hinter ihr zu.

Am nächsten Tag besichtigten sie Polly Woodside, das Kunstzentrum des Staates Victoria. An diesem Abend führte Oliver sie in ein chinesisches Restaurant aus, und diesmal hauchte er ihr vor ihrem Zimmer einen zärtlichen Gutenachkuss auf die Stirn.

Am nächsten Morgen war sie etwas befangen. Hatte Oliver womöglich ernste Absichten? Es war Sonntag. Sie frühstückten auf der Terrasse und fuhren anschliessend mit dem Geländewagen aus Melbourne hinaus. In einem lichtgrünen Eukalyptuswald gingen sie spazieren. Sein Arm, der manchmal den ihren streifte, liess sie nicht gleichgültig. Zumal sie, wenn sie an Klaus dachte, nur das verschlossene, fast grimmige Gesicht vor sich sah, das er in letzter Zeit machte. Liebte er sie denn überhaupt noch? Im Augenblick gefiel ihr ein Leben an Olivers Seite hier in Australien gefährlich gut.

Endlich waren sie in der Villa zurück. Inzwischen klopfte Ilonas Herz zum Zerspringen. Oliver sah ihr mit leisem Lächeln in die Augen und zog sie dann langsam in die Arme, um einen langen, leidenschaftlichen Kuss mit ihr auszutauschen. Schliesslich raunte er: “Darf ich nachher zu dir kommen, bezaubernde Ilona?”

Sie war so benommen, dass sie nur stumm nicken konnte.

Während sie auf ihn wartete, zog sie die Nachtischschublade auf. Ein in rotes Leder gebundenes Adressbüchlein lag darin. Auf dem Deckblatt stand ein Frauenname: Phyllis Brown, gefolgt von einer Telefonnummer. Wie unter Zwang nahm Ilona den Telefonhörer ab und tippte die angegebene Nummer ein.

Eine Stimme fragte leise schluchzend: “Bist du es, Oliver?”

Ilona entschuldigte sich und legte auf. Es war wie eine kalte Dusche gewesen …

Oliver Bertram war dagegen zufrieden mit sich selbst. Er war offenbar am Ziel: Ilona gehörte ihm. Er wollte gerade anklopfen, als die Tür aufgerissen wurde. Ilona starrte ihn an.

“Wer ist Phyllis Brown?” fragte sie. “Ist sie deine Freundin?”

“Wie kommst du auf Phyllis Brown?”

Sie zeigte ihm das rote Adressbüchlein. “Ich habe es im Nachttisch gefunden. Ist sie es, ja oder nein?”

“Sie ist es, aber mit Unterbrechungen.”

“Die Unterbrechungen, das bedeutet, wenn Sie mit einer anderen Frau schlafen wollen?”

“Was ist dabei?” verteidigte er sich gereizt. “Phylis und ich sind nicht verheiratet. Ich bin frei. Sie ist es auch.”

Oliver wollte sie in die Arme ziehen, aber sie wich zurück. Sie hörte wieder das unterdrückte Schluchzen am Telefon. Der Gedanke, dass eine Frau ihretwegen unglücklich war, war ihr unerträglich. Und sie hatte geglaubt, dass Oliver sie liebte, dass er ernste Absichten hatte!

Sie lief ins Zimmer zurück und begann, ihren Koffer zu packen.

“Was machen Sie denn da?” fragte er irritiert und wurde dann laut: “Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie besuchen mich ohne Ihren Freund und wundern sich, dass ich mir gewisse Hoffnungen mache?”

“Sie haben recht, verzeihen Sie mir.”

Er besann sich: “Schon gut, lassen Sie doch das Packen. Wo wollen Sie denn hin mitten in der Nacht? Warten Sie bis morgen früh. Ich werde Sie nicht mehr belästigen. Falls wir uns nicht mehr sehen sollten, denn ich muss zeitig in die Firma, werfen Sie bitte die Schlüssel unten in der Briefkasten. Gute Nacht, Ilona!”

Sie schloss das Zimmer ab, legte sich in’s Bett und zog die Decke über sich. Sehnsucht nach Klaus überflutete sie. Sie dachte daran, wie Klaus ihr damals nach dem Unfall geholfen hatte, wie umsichtig er vorgegangen war. Sie hatte sich immer auf ihn verlassen können, und wenn er sie in die Arme nahm, war er der zärtlichste und rücksichtsvollste Mann, den sie sich vorstellen konnte. Es wäre jetzt vielleicht an ihr gewesen, ihn zu fragen, warum er so anders war, ob er irgendwelche Sorgen hatte … Aber diese Einsicht kam zu pät. Sie konnte ihn nicht einmal um Verzeihung bitten. So etwas konnte kein Mann verzeihen …

Sie wusste nicht, wann sie endlich eingeschlafen war. Als sie aufwachte, war alles ruhig. Oliver war fort. Sie bestellte ein Taxi zum Flughafen, hoffte, noch heute einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen und ging mit ihrem Koffer nach unten, um zu warten.

Zu ihrer Überraschung war das Taxi schon da. Die Tür ging auf - und Ilona riss die Augen auf. “Klaus”, stammelte sie. “Was ist … du bist nun doch gekommen?”

Er hingegen sah auf ihren Koffer und fragte besorgt: “Geht es dir gut, Loni? Was ist passiert?”

Ihre Knie zitterten so, dass sie sich auf den Koffer setzen musste: “Ich hätte auf dich hören sollen”, sagte sie leise, und dann erzählte sie ihm alles. Klaus hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen.

“So eine dumme Gans wie mich gibt’s kein zweites Mal”, schloss sie traurig.

“Und vor dir steht der grösste Hornochse der Welt”, lächelte er schwach. “Ich begreife nicht, wie ich dich so einfach gehen lassen konnte. Ich sass da in Bremen und verstand mich selbst nicht mehr.” Er zog sie sanft an sich und flüsterte in ihr Haar: “Du bist das Wunderbarste, das mir je im Leben begegnet ist, und ich hab’ dich diesem Oliver förmlich in die Arme getrieben! Und weisst du warum? Weil ich seit drei Wochen eine totale Schreibblockade hatte, die mich fast wahnsinnig machte. Ich hätte dir das viel früher erzählen sollen, statt nur meinen Frust rauszulassen. Es gibt noch so viel zu lernen für mich, Ilona. Ich habe den nächsten Flug gebucht und bin fast verrückt geworden vor Angst, dass dieser Kerl dir weh tun könnte. Kannst du mir verzeihen, Loni? Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt!”

Sie schmiegte sich in seine Arme, die sich sanft und beschützend um sie schlossen. “Ich liebe dich doch auch, Klaus, und ich bitte dich ebenfalls um Verzeihung!”

Ihr Kuss schmeckte salzig, und sie lächelte unter Tränen: “Du, ich wollte zum Flughafen, um zu versuchen, noch für heute einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen. Jetzt brauchen wir sogar zwei Plätze!”

“Nach all den Strapazen, die ich auf mich genommen habe, soll ich gleich wieder zurückfliegen?” protestierte er und verkündete feierlich: “Unsere Ferien fangen jetzt erst an, Liebling. Wir mieten ein Wohnmobil und gehen auf Entdeckungsreise.”

“Ist das dein Ernst?” fragte sie erfreut.

“Mein voller Ernst. Ich habe nämlich vor, einen Liebesroman zu schreiben, der in Australien spielt. Live sozusagen. Ich möchte ihn dir widmen und unter meinem eigenen Namen veröffentlichen. Nicht mehr unter irgend einem wohlklingenden Pseudonym. Diese Idee ist mir während des Flugs gekommen. Und das habe ich schliesslich dir zu verdanken. Du hast mich aufgerüttelt. Eine Bedingung knüpfe ich allerdings daran.”

“Und die wäre?” Sie sah ihn gespannt an.

Er lächelte verschmitzt: “Dass es ein Happy-End gibt.” Ernst fuhr er fort: “Loni, willst du meine Frau werden?”

Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so glücklich gefühlt: “Ja”, antwortete sie überwältigt. “Von ganzem Herzen, ja.”

Als sie sich umdrehten - Klaus trug ihren Koffer und schnaufte ein wenig - rissen zwei Taxifahrer die Türen auf.

“Ach ja, ich hatte telefonisch ein Taxi bestellt”, erinnerte sich Ilona.

“Und ich habe meins warten lassen, um dich nach einem heldenhaften Zweikampf entführen zu können”, grinste Klaus.

Er entlohnte sein Taxi, gab ein grosszügiges Trinkgeld darauf und schickte es fort.

“Eins genügt”, sagte er, griff nach Ilonas Hand und fuhr mit grimmigem Gesichtsausdruck fort: ”Nie wieder Trennung, ist das klar?”

Ilona lachte zärtlich und gab ihm einen Kuss …

ENDE

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Samstag, 12. Januar 2013
EIN DINNER FÜR ZWEI
Ilka Mohr mag den netten jungen Kunststudenten Oliver aus dem oberen Stock. Sie möchte ihm helfen, seinen eigenen Weg zu finden. Aber promt bekommt sie es mit Olivers Vater zu tun ...
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“Guten Tag, Ilka. Darf ich Ihnen helfen?” Zwei kräftige Arme griffen zu, nahmen Ilka die Einkaufstüten ab, mit denen sie kämpfte, um den Fahrstuhl zu betreten.

Darüber grinste sie Olivers fröhliches Jungengesicht an. Es war der Kunststudenten aus dem oberen Stockwerk. Ilka mochte ihn.

Oliver kam bis in ihre Küche mit. Nachdem er sorgfältig die Tüten auf dem Tisch abgestellt hatte, platzte er heraus: “Würden Sie wohl bitte einen Augenblick mit hochkommen? Ich möchte Ihnen mein neustes Bild zeigen. Ich würde es herunterholen, aber es ist zu gross.”

Ilka hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Ihr grösster Wunsch war es, ihre Schuhe von den Füssen zu schleudern, sich ein heisses Bad einlaufen zu lassen und ihren feierabendlichen Drink zu geniessen. Aber wer konnte Olivers bittenden dunklen Augen widerstehen?

“Gern”, nickte sie ihm deshalb zu. Sie räumte rasch die Einkäufe fort, zog sich flache Schuhe an und folgte dem jungen Mann in seine kleine Atelierwohnung mit den schrägen Wänden.

Das grossformatige Ölgemälde, eine Ansicht der Stadt, stand auf zwei Staffeleien. Ilka betrachtete es eingehend, indem sie vor und zurück ging, während Oliver sie gespannt und etwas ängstlich beobachtete.

Schliesslich drehte sie sich zu ihm um: “Oliver, ich bin kein Kunstexperte, das weisst du ja, aber ich finde dieses Bild sehr gut, sehr originell. Also, ich drücke es einfach mit meinen Worten aus: Diese Stadt, wie du sie gemalt hast – sie hat eine Seele, sie löst etwas im Betrachter aus.”

“Danke, Ilka.” Er strahlte sie hingebungsvoll an. Sie hatte ihn im Verdacht, verliebt zu sein in sie, aber das würde schon vorübergehen, dachte sie zuversichtlich, sobald er ein nettes Mädchen in seinem Alter kennenlernen würde. Sie fand Oliver viel zu jung für sich. Er war 22, sie 35. Oliver kaute jetzt an seiner Unterlippe: “Ich würde dieses Bild gern meinem Vater zeigen, aber ich kann es nicht.”

“Und wieso nicht?” fragte sie verwundert.

“Er weiss nicht, dass ich Kunst studiere statt Betriebswissenschaften”, seufzte er bedrückt.

“Oliver, das gibt’s doch nicht! Hat er … haben Ihre Eltern Sie denn nie hier besucht?”

“Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie ist tödlich verunglückt, als ich neun war.”

“Das tut mir sehr leid, Oliver”, erwiderte sie betroffen.

“Wenn meine Mutter noch lebte, wäre alles anders”, fuhr er fort. “Meine Mutter war selbst Künstlerin. In unserem Haus hängen noch viele Bilder von ihr.”

“Das Problem ist also Ihr Vater”, nickte Ilka. Sie dachte nicht mehr an ihre Müdigkeit. Der Junge brauchte jemanden, der ihm zuhörte.

“Es gibt zwei Probleme”, fuhr Oliver schon fort. “Meinen Vater und unser Unternehmen, eine Maschinenfabrik. Mein Vater betrachtet mich als seinen Nachfolger, aber ich möchte, seit ich zurückdenken kann, nur malen!”

“Und Sie haben nie mit Ihrem Vater darüber gesprochen?”

Oliver zuckte die Ackseln: “Wir standen uns nie sehr nahe. Ich bin in Internaten grossgeworden, und in den Ferien war ich meistens bei Freunden oder Verwandten. Für meinen Vater gab es seit dem Tod meiner Mutter nur noch die Arbeit. Und ab und zu eine Affäre. Es war sein Wunsch, dass ich Betriebswirt werden sollte, und ein Wunsch von Julius kommt einem Befehl gleich. Vier Semester habe ich durchgehalten, ehe ich mich letztes Jahr in der Kunstschule einschrieb.”

“Ich nehme an, dass Ihr Vater Ihr Studium finanziert?”

“Natürlich.”

Ilka sah ihm gerade in die Augen: “Er hat, meine ich, ein Recht darauf zu wissen, wofür Sie sein Geld verwenden. Sie sollten mit ihm sprechen. Es ist eine Sache der gegenseitigen Achtung.”

Oliver wirkte niedergeschmettert: “Sie kennen meinen Vater nicht. Er ist es gewohnt, dass alles nach seinem Willen geht!”

“Den Kopf wird er Ihnen doch wohl nicht abreissen?”

“Nein, aber den Geldhahn zudrehen”, prophezeite er düster.

Fast musste Ilka lachen. “Andere verdienen sich ihr Studium auch selbst. Wenn man etwas wirklich haben möchte, muss man bereit sein, etwas dafür zu tun. Nur so können Sie Ihren Vater davon überzeugen, dass Sie ein erwachsener und eigenverantwortlicher Mensch sind!”

Sie hatte ebenfalls gearbeitet, um ihr Studium zu finanzieren. Ihre Eltern waren allerdings nicht reich, und es gab einen weiteren Gegensatz zu Oliver. Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt, und ihre Eltern hatten ihr den Rücken gestärkt. Vielleicht war sie zu hart mit dem Jungen?

Oliver dachte seinerseits nach: “Ich wollte in den Ferien mit einigen Freunden nach Griechenland, das Geld für die Reise hat mein Vater mir überher gegeben. Aber nach Ihrer Moralpredigt könnte ich die Reise nicht mehr geniessen. Ich werde also statt dessen mit ein paar Bildern zu meinem Vater fahren und mit ihm reden. Sind Sie jetzt zufrieden?”

“Oliver, Sie sollen das nicht für mich tun, sondern für sich selbst!”

Er grinste: “Das heisst, die Verantwortung für die Folgen muss ich auch selbst übernehmen?”

Ilka lächelte zurück: “Richtig. Auch das gehört zum Erwachsenensein.”
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Als sie ein paar Tage später nach Hause kam, fand sie in ihrem Briefkasten ein Kuvert mit dem Briefkastenschlüssel und einer kurzen Nachricht von Oliver: “Könnten Sie bitte ab und zu mein Postfach leeren? Ich begebe mich in die Höhle des Löwen. Wünschen Sie mir Glück. Ihr Oliver”.

Er war also tatsächlich zu seinem Vater gefahren! Ja, sie wünschte ihm Glück. Von ganzem Herzen. Und sie beschloss im Stillen, für ihn da zu sein, wenn er Hilfe brauchte …

Eine Woche später, als sie gerade von der Arbeit nach Hause kam, klingelte das Telefon.

“Ilka Mohr, ja bitte?”, meldete sie sich.

“Schwenker am Apparat. Julius Schwenker. Wäre es möglich, dass wir uns sehen? Es geht um Oliver, meinen Sohn.” Julius Schwenker hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Eine Stimme, die es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und Anweisungen zu geben. Ilka bekam unwillkürlich weiche Knie, aber ihre Stimme klang fest, als sie antwortete: “Gern, Herr Schwenker. Wo und wann?”

“Ich bin morgen geschäftlich in München. Könnten wir Abends zusammen in meinem Hotel essen?”

“Einverstanden.”

Er nannte ihr den Namen eines bekannten Hotels in der Innenstadt: “Ist Ihnen acht Uhr recht? Ich sage am Empfang Bescheid, dass ich Sie erwarte.”

Ilka trug ein pflaumenblaues Kostüm mit cremefarbener Bluse. Die Farben passten gut zu ihrem Teint und ihrem rotblonden Haar. Als sie nach Julius Schwenker fragte, führte man sie zuvorkommend ins Restaurant.

Julius sass schon am Tisch. Er stand auf, um sie zu begrüssen und ihr den Stuhl zurechtzurücken: “Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Mohr.”

Ilka stellte fest, dass er gross und kräftig gebaut war, ein gutgeschnittenes Gesicht und leicht angegraute Schläfen hatte.

“Was trinken Sie?” fragte er, nachdem auch er sie aufmerksam beobachtet hatte.

“Ein Glas Portwein, bitte.”

“Portwein und einen Scotch”, wies Julius den Ober an, der ihnen die Karte vorlegte.

Als der Ober die Getränke brachte, bestellte Julius, nachdem er Ilka gefragt hatte, für sie beide das Spezial-Menü des Restaurants und dazu eine Flasche Chablis. Er wartete, bis der Ober gegangen war und wandte sich dann mit entschlossem Gesichtsausdruck an Ilka: “Ich will nicht um den heissen Brei herumreden. Ich bin ausser mir. Wie kommen Sie dazu, Oliver einzureden, dass sein Entschluss, Kunst zu studieren, gut ist?”

“Ich habe ihm nichts eingeredet”, erwiderte Ilka ruhig. “Er weiss selbst, was er möchte.”

“Sie schmeicheln ihm, indem Sie seine Bilder bewundern. Sie setzen dem Jungen doch Flausen in den Kopf!”

Seine Stimme grollte, aber Ilka kam jetzt ebenfalls in Fahrt: “Schmeicheln tue ich höchstens Dummköpfen, Herr Schwenker, und dumm ist Ihr Sohn nicht. Haben Sie denn seine Bilder gesehen?”

“Das tut hier nichts zur Sache. Er ist dazu bestimmt, eines Tages in das Familienunternehmen einzutreten!” Julius dachte daran, dass er sich geweigert hatte, Olivers Bilder anzusehen. Dazu war er viel zu wütend gewesen.

“Ach, und wer bestimmt das? Sie? Hat Oliver nicht auch ein Wort zu sagen?” funkelte sie ihn zornig an.

“Wir Schwenkers sind unserem Unternehmen verpflichtet. Wenn man die Verantwortung für über hundert Angestellte trägt, muss das persönliche Glück zurückstehen.”

“Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Ausserdem sind Sie nicht unschuldig an Olivers Berufung. Sie haben eine Künstlerin geheiratet!”

Julius Schwenker wurde blass: “Ich verbiete Ihnen, Olivers Mutter als Waffe zu benutzen!”

Leise erwiderte sie: “Ich benutze sie nicht als Waffe, Herr Schwenker, und ich möchte Ihnen nicht weh tun. Oliver hat mir erzählt, dass Sie ihre Frau unter tragischen Umständen verloren haben. Ich möchte nur, dass Sie Ihrem eigenen Sohn etwas mehr Verständnis entgegenbringen. Es könnte sein, dass er nie ein guter Firmenchef wird – dafür aber ein ausgezeichneter Künstler. Vielleicht entdeckt er aber später doch noch seine Liebe zur Firma. Alles ist möglich. Aber zuerst muss er seine eigene Persönlichkeit entwickeln können, und dabei müssen Sie ihm helfen, statt ihn zu unterdrücken. Wenn Sie allerdings weiterhin entschlossen sind, mir alle Schuld zuzuschieben, weil Oliver sich nicht mehr Ihren Willen aufdrängen lassen möchte, dann ist es besser, wir setzen unsere Unterhaltung nicht fort.”

Sie stand auf und durchquerte mit grossen Schritten das Restaurant. Aber dann dachte sie beschämt, dass sie es nicht besser machte als Oliver früher, wenn sie einfach die Flucht ergriff. Augenblicklich machte sie kehrt - und prallte mit Julius zusammen, der ihr nach kurzer Überlegung gefolgt war. Julius fing sich als erster: “Bitte, kommen Sie zurück, Ilka. Ich darf Sie doch Ilka nennen?” Wider Willen imponierte ihm diese Frau. Ilka Mohr, stellte er fest, war nicht nur hübsch, sie war auch klug. Und mutig. Nur hatte das augenscheinlich auf seinen Sohn abgefärbt. Als er mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, erschrak er zutiefst. Wollte er tatsächlich, dass sein Sohn ein charakterloser Ja-Sager oder ein Heuchler ohne Zivilcourage blieb?

“Gern, Julius”, beantwortete Ilka seine Frage. Auch sie mochte diesen Mann. Sie spürte, dass er im Grunde nicht uneinsichtig war. Er war es nur nicht gewohnt, dass jemand ihm widersprach.

Wieder rückte er ihr den Stuhl zurecht. Ilka gefiel es, dass er ein Kavalier der alten Schule war. Sie tastete sich weiter vor: “Julius, wenn Sie eine Frau geheiratet haben, die Künstlerin war, dann müssen Sie doch selbst Kunst lieben? Und dann müssten Sie doch eigentlich Oliver verstehen.”

“Astrid war eine wunderbare Frau. Sie war klug, sensibel …”

“Und Ihr Sohn darf nicht sensibel sein?”

“Ein Mann tut besser daran, seine Gefühle zu verbergen.”

“Welch ein Unsinn”, rief Ilka temperamentvoll aus, “Gefühle gehören zum Menschsein.”

Auf einmal verspürte Julius das Bedürfnis, dieser Frau von Astrid zu erzählen. Von der inneren Leere, die er seit ihrem Tod empfand.

Er tat es stockend, suchte nach Worten. Seit langem schon hatte er es verlernt, über sich zu sprechen, in sich hineinzuhorchen. Ilka kam dabei zu Bewusstsein, wie einsam dieser Mann war, der an der Spitze eines Unternehmens stand.

“Danke, dass Sie mir zugehört haben”, sagte Julius zum Schluss.

Sie lächelte ihm zu. Nach einer Pause fragte sie: “Was haben Sie nun in Bezug auf Oliver beschlossen?”

Julius sah etwas beschämt aus: “Ich habe ihm gesagt, dass ich auf keinen Fall sein Kunststudium finanzieren würde.”

“Und? Was hat er darauf geantwortet?”

Er räusperte sich: “Das ihm das egal sei. Dann würde er eben arbeiten.”

“Sie können wirklich stolz auf ihn sein!”

“Sie auch. Es war wohl ein Glück für den Jungen, Ihnen begegnet zu sein.”

Ilka musste lachen: “Klingt so, als hätten Sie Ihre Meinung geändert.”

Er schmunzelte nun auch: “In meiner Stellung begegnet man nur wenigen Menschen, die den Mut haben zu sagen, was sie denken. Sie gehören dazu. Was machen Sie beruflich, Ilka?”

“Ich bin Produktmanagerin.”

“Oliver sagte mir, dass Sie allein leben? Sie brauchen mir nicht zu antworten, wenn Sie die Frage zu indiskret finden.”

Wieder lächelte Ilka, aber es war ein melancholisches Lächeln: “Ich habe das Alleinsein nicht gewählt. Aber der Mann, den ich liebte oder zu lieben glaubte, hat es nicht verkraftet, dass ich beruflich erfolgreicher war als er. Wir haben uns vor zwei Jahren getrennt.”

Julius leistete Ilka heimlich Abbitte. Er hatte geglaubt, dass sie sich Oliver angeln wollte. Ob sein Sohn nun Künstler würde oder nicht, eines Tages würde er die Firma erben. Er könnte sie dann verkaufen und wäre ein reicher Mann. Viele Familienunternehmen endeten so.

“Ich war Oliver kein guter Vater”, sagte er mit plötzlicher Einsicht “Ich habe mich nicht so um ihn gekümmert, wie ich es hätte tun müssen.”

“Es ist noch Zeit, damit Sie sich näher kommen”, erwiderte Ilka behutsam.

Als Julius sie zu ihrem Wagen begleitete, fragte er: “Würden Sie Oliver und mir die Freude machen, uns am nächsten Wochenende in Düsseldorf zu besuchen?”

“Mit dem grössten Vergnügen”, antwortete sie warm.
_ _ _

Vater und Sohn holten sie am Freitag Abend am Flughafen ab. Ilka stellte fest, dass Oliver erwachsener wirkte - Julius dagegen verjüngt. Und dass die beiden sich gut verstanden.

Während Julius den Wagen in die Garage fuhr, führte Oliver Ilka in das schöne, alte Familienhaus. Der Abend war kühl, und im Wohnzimmer brannte ein gemütliches Kaminfeuer.

“Vater ist ganz verwandelt, seit er Sie kennt”, lächelte Oliver ihr zu. “Übrigens hat er den Geldhahn dann doch nicht abgedreht. Aber ich möchte trotzdem eigenes Geld verdienen.”

Julius, der gerade das Zimmer betrat, hatte den letzten Satz gehört. “Ich könnte dir dabei helfen, Oliver. Ich kenne den Galeriebesitzer, der die Bilder deiner Mutter ausstellte …”

“Danke, Vater - aber das ist nicht nötig. Ich habe heute bereits in einer Galerie vorgesprochen, die mich unter Vertrag nehmen will.”

“Tatsächlich?” Julius war beeindruckt.

“Aber was wird aus der Fabrik? Und aus dir?”

“Ich gehöre schliesslich noch nicht zum alten Eisen”, lachte Julius, “und ich habe etwas ganz Wichtiges wiederentdeckt. Mein Herz. Und das verdanke ich Ilka.” Er suchte ihren Blick, und Ilka bekam wieder weiche Knie. Aber diesmal war es aus Liebe.

“Keine Bange, ich räume das Feld”, grinste Oliver nett.

“Oliver, wir wollen dich auf keinen Fall vor die Tür setzen”, protestierte Ilka sofort.

“Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe in der Galerie eine Studentin kennengelernt, die meine Bilder mag und meine Einladung zum Essen angenommen hat. Ich wusste nur nicht recht, wie ich euch das beibringen sollte, dass ich gleich am ersten Abend von Ilkas Besuch nicht da sein werde. Sie heisst übrigens Manuela …”

Er sah zu den beiden hinüber und entschied, dass er sich weitere Worte sparen konnte. Ilka und sein Vater waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Schwer verliebt, lautete Olivers wohlwollende Diagnose, ehe er leise die Tür hinter sich schloss, um sich mit seiner eigenen Zukunft zu beschäftigen …

ENDE

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