Dienstag, 19. Februar 2013
Ich tat es doch nur aus Liebe
Immer stärker hat Anja das Gefühl, dass ihr Mann sich von ihr entfemdet. Steckt eine andere Frau dahinter? Um endlich Gewissheit zu bekommen, spioniert sie ihm nach …
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Frank Sandner fuhr seinen Wagen in die Garage, in der schon der knallrote kleine Zweitwagen stand, den er seiner Frau Anja vor einem Monat zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Wieder tat ihm der Magen weh. Dieses Auto konnten sie sich im Moment eigentlich gar nicht leisten. Hinzu kam, dass Anja in letzter Zeit das Geld mit vollen Händen ausgab. Aber wie sollte er ihr beibringen, dass sie sparen mussten? Er hatte sich schliesslich alles selbst eingebrockt …

Unwillkürlich stöhnte Frank auf. Als er vor zwei Jahren seine gutbezahlte Stelle als leitender Angestellter aufgegeben hatte, um sich mit einem Ingenieurbüro selbstständig zu machen, hatte er nicht damit gerechnet, dass die Durststrecke so lang sein würde. Etwas war noch von seinen Ersparnissen da, aber wie lange würde es noch reichen?

Im Haus lief ihm Anja entgegen und flog ihm um den Hals: “Endlich bist du da, Liebling! Die Kinder sind schon im Bett, ich habe für uns beide vor dem Kamin gedeckt. Was möchtest du als Aperitif?”

“Einen doppelten Whisky, bitte.”

Der Alkohol stieg ihm angenehm zu Kopf und verdrängte seine Sorgen. Ihm fiel auf, dass auch Anja sich grosszügig eingeschenkt hatte und hastig trank - und dass der Tisch mit kostbarem Meissener Porzellan gedeckt war.

“Wo kommt denn das Geschirr her?” fragte er mit belegter Stimme.

“Als wir heirateten, hattest du mir doch von dem wunderschönen Meissener Porzellan deiner Grossmutter erzählt. Du wolltest auch immer so ein Service haben. Heute habe ich es als Überraschung für dich gekauft.”

Plötzlich konnte Frank sich nicht mehr beherrschen: “Und wer soll das bezahlen?” rief er aufgebracht. “Ich bin doch kein Dukatenesel!”

Erschrocken sah seine Frau ihn an. “Ich hätte dich vielleicht vorher fragen sollen?” meinte sie kleinlaut.

Sofort tat ihm sein Wutausbruch leid. “Verzeih, Liebste”, murmelte er verlegen. “Ich … ich bin heute einfach nervös. Es ist der Stress …”

Erleichtert und gleichzeitig besorgt entgegnete sie: “Oh, du arbeitest zuviel. Du brauchst unbedingt Ferien, Frank. Soll ich vielleicht eine Reise für uns buchen? Meine Eltern würden sich bestimmt freuen, in der Zeit die Kinder zu betreuen.”

“Im Moment geht es nicht mit dem Urlaub”, erwiderte er ausweichend, “aber bald verreisen wir mal wieder, das verspreche ich dir.”

Er schob den unangenehmen Gedanken beiseite, dass er morgen zur Bank musste, um ein neues Darlehen aufzunehmen. Wenn er überhaupt noch eines bekam …

Während des Essens betrachtete er Anja mit schmerzlicher Wehmut. Wie er seine Frau liebte! Sie war zehn Jahre jünger als er und sah bezaubernd aus mit ihren grünen Augen und dem weissblonden Haar. Er bewunderte ihre mädchenhafte Figur, ihre Anmut. Sie war die Frau seines Lebens und eine wunderbare Mutter für den neunjährigen Markus und die siebenjährige Susi.

Als sie mit dem Essen fertig waren, sagte Anja: “Ich bring’ nur schnell das Geschirr in die Küche, dann machen wir es uns gemütlich, ja?”

“Tut mir leid, Liebling, aber ich muss noch einmal ins Büro”, erklärte er.

“Schon wieder?” Ihre Augen wurden vor Enttäuschung ganz dunkel.

“Ich hab noch einiges zu erledigen. Übrigens war das Essen fabelhaft, als Köchin hast du drei Sterne verdient.” Er fragte sich plötzlich, wer die beiden Flaschen Wein getrunken hatte; doch nicht etwa er allein? Zum Glück brauchte er nicht den Wagen, er konnte gut zu Fuss gehen.

“Du bist mir doch nicht böse wegen des Geschirrs?” fragte sie mit Tränen in den Augen.

“Nein, natürlich nicht. Das hab ich längst vergessen. Geh schon schlafen, es kann spät werden.”
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Anja klappte das Buch zu. Es gelang ihr einfach nicht, sich auf den Roman zu konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um Frank. Er wirkte so verändert in letzter Zeit. Hatte er möglicherweise Geldsorgen? Aber dann hätte er ihr doch nicht den Wagen geschenkt? Oder war er krank? Er klagte manchmal über Magen- und Kopfschmerzen, aber zum Arzt wollte er nicht gehen. Vielleicht steckte gar eine andere Frau dahinter? Mit dumpf klopfendem Herzen dachte Anja daran, dass ihr Mann in letzter Zeit immer öfters Abends noch einmal fortging – und dass sie schon seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen hatten.

Schmerzlich wurde Anja bewusst, dass sie eigentlich viel zu selten ein wirklich ernsthaftes Gespräch miteinander geführt hatten; und wenn sie es jetzt versuchte, blockte Frank sofort ab – oder ging fort. Dann war sie noch unglücklicher. So konnte es doch nicht weitergehen! Mit einem Seufzer griff sie zum Telefonhörer und wählte Franks Büronummer. Niemand nahm ab. Genau wie letzte Woche, als er angeblich noch arbeiten wollte.

Anja warf nacheinander einen Blick in Markus’ und in Susis Zimmer. Beide Kinder schliefen fest. Sie beschloss, sich zu vergewissern, ob er überhaupt im Büro war, das sich gleich um die Ecke in der Hauptstrasse befand und dachte beschämt, dass sie Frank zum ersten Mal nachspionierte …
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Währenddessen stand Frank vor einem Appartementhaus und klingelte dreimal kurz. Als der Summer ertönte, drückte er die Haustür auf und eilte die Treppen hinauf bis in den dritten Stock. Kathrin Gordes erwartete ihn schon. Sie war ziemlich gross und kräftig, hatte brünette Haare und warme braune Augen.

“Störe ich dich auch nicht?” fragte Frank, völlig ausser Atem.

“Nein, es ist gut, dass du da bist”, erwiderte sie und trat beiseite, um ihn hereinzulassen. Im Wohnzimmer schob sie die Bücher auf dem niedrigen Tisch beiseite. Sie hatte bis eben gelesen.

“Würdest du mir einen Cognac einschenken?” bat er.

Sie musterte ihn prüfend: “Findest du nicht, dass du für heute genug getrunken hast?”

“Das nächste Mal bringe ich dir auch eine neue Flasche mit.”

“Darum geht es doch nicht, Frank. Ich finde einfach nur, dass du in letzter Zeit zuviel Alkohol trinkst.” Dennoch holte sie die Cognacflasche und schenkte ihm ein.

“Trinkst du keinen?” fragte er.

“Nein, ich möchte lieber einen klaren Kopf behalten.”

Er drehte das Glas in der Hand und meinte müde: “Anja hat heute sündhaft teures Geschirr gekauft. Wenn sie so weiter macht, wird eines Tages der Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen. Das würde meine Frau doch nicht überstehen, sie ist so zart.”

“Warum sagst du ihr denn nicht endlich die Wahrheit? Dass deine Geschäfte schlecht laufen und ihr sparen müsst? Ich bin überzeugt, dass Anja viel stärker ist, als du glaubst.”

“Du irrst dich, Kathrin. Ich habe Anja immer beschützen müssen.”

“Möglicherweise hast du das ihr und dir selbst immer nur eingeredet”, gab Kathrin zu bedenken.

Er überging ihren Einwand und murrte verdrossen: “Ich begreife wirklich nicht, warum sie auf einmal so wahnsinnig viel Geld ausgibt. Das hat sie doch früher nicht getan.”

“Vielleicht leidet Anja an Kaufsucht”, überlegte Kathrin. “Diesem krankhaften Zwang, immerzu etwas zu kaufen, selbst Dinge, die überflüssig sind und die man gar nicht braucht. Und im allgemeinen bedeutet das, dass man nicht glücklich ist.”

“Meine Frau hat nicht den geringsten Grund, unglücklich zu sein”, brauste er ärgerlich auf.

“Ach nein?” konterte sie schroff. “Glaub mir, eine Frau spürt, wenn ihr Mann ihr etwas verschweigt. Du solltest nicht mit mir, sondern mit ihr über deine Probleme sprechen.”

“Das kann ich nicht”, stöhnte Frank gequält auf.

“Und warum nicht? Weil das nicht dem Bild entspricht, das sie von dir haben soll? Dem Bild eines starken, erfolgreichen Mannes?”

“So ein Quatsch. Anja ist eben nicht so belastbar wie du.”

An seiner heftigen Reaktion merkte Kathrin jedoch, dass sie offenbar einen wunden Punkt berührt hatte. “Hör auf, dir selbst etwas vorzumachen”, riet sie eindringlich. “Was ist eine Ehe denn wert, wenn man nicht auch die Sorgen miteinander teilt?”

Sie sah Frank nachdenklich an. Vor drei Monaten hatten sie sich in der Kneipe ihres Wohnviertels kennengelernt. Kathrin hatte gerade ihren Job verloren, und Frank war auch sehr niedergeschlagen gewesen, weil trotz wochenlanger Verhandlungen kein Vertrag zustande gekommen war. Ein anderes Ingenieurbüro hatte das Rennen gemacht.

An diesem Abend hatten sie viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Sie konnten fabelhaft miteinander reden und verstanden sich grossartig. Beim Abschied hatte Frank sie um ihre Adresse gebeten. Seitdem besuchte er sie häufig. Nur, um mit ihr zu sprechen.

Wenn er gegangen war, fand Kathrin manchmal ein Kuvert mit Geld auf der Flurkonsole. Sie schämte sich zwar, dennoch behielt sie das Geld, weil sie es nötig brauchte. Ihr schlechtes Gewissen beruhigte sie mit der Entschuldigung, dass Franks Frau Anja bei einem einzigen Einkaufsbummel wesentlich mehr ausgab.

Mittlerweile war Kathrin klargeworden, dass sie Frank liebte. Ohne jede Hoffnung, denn er liebte nur seine Frau. Ausserdem würde sie, Kathrin, niemals in eine Ehe einbrechen.

“Frank”, sagte sie leise, “ich werde fortziehen, in eine andere Stadt. Ich habe dort einen Job gefunden.”

Schlagartig fühlte Frank eine tiefe Verzweiflung in sich aufsteigen. Er würde sich schrecklich einsam fühlen ohne sie. Aber er versuchte, sich mit ihr zu freuen. “Du wirst mir fehlen, Kathrin, aber ich bin wirklich glücklich für dich. Sag mir, wenn du etwas brauchst, wenn ich dir helfen kann.”

Sie lächelte: “Danke, Frank. Es wird höchste Zeit, dass ich wieder allein über die Runden komme. Dann erhältst du auch dein Geld zurück.”

“Unsinn”, widersprach er. “Ich war froh, etwas für dich tun zu können. Schliesslich hast du mir so viel Zeit geschenkt – und so viel Verständnis.”
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Frank tastete sich im Dunkeln zum Ehebett, als Anja plötzlich das Licht anknipste. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. “Wo warst du?” fragte sie mit zitternder Stimme.

“Im Büro, natürlich, Liebes.” Er wandte seine Augen ab, es zerriss ihm das Herz, dass sie offensichtlich geweint hatte. Wieder einmal musste er sich beschämt eingestehen, dass sein Leben zu Hause nur noch aus Lügen bestand. Aber er log doch nur, um Anja zu schonen …

“Ich habe im Büro angerufen, aber keiner hat abgenommen.”

“Du weisst doch, dass ich das Telefon abstelle, um in Ruhe arbeiten zu können. Das habe ich dir doch schon so oft gesagt.”

“Aber warum? Wer ausser mir würde wohl so spät noch anrufen? Ausserdem: Ich hab sogar vor deinem Büro gestanden. Es brannte kein Licht. Warst du überhaupt da?”

“Natürlich, aber ich bin eingeschlafen”, schwindelte er, “und jetzt habe ich grässliche Kopfschmerzen. Ich hole mir schnell eine Tablette.”

Anja spürte, dass ihr Mann nicht die Wahrheit sagte. Als er schon längst neben ihr schlief, lag sie noch lange wach und grübelte …
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Frank war im Büro, die Kinder in der Schule. Anja hatte die Zimmer gelüftet und die Betten gemacht. Gleich wollte sie in die Stadt. Sie hatte nämlich einen wunderschönen Herrenpullover gesehen, der Frank sicher gefallen würde. Heute Abend wollte sie ihn damit überraschen. Das Telefon klingelte. Sie hob ab und meldete sich: “Anja Sandner, ja bitte?”

“Ich bin Kathrin Gordes. Sie kennen mich nicht, Frau Sandner, aber ich würde gern mit Ihnen sprechen. Es geht um Ihren Mann. Könnten wir uns irgendwo treffen? Vielleicht in der Stadt?”

Anja war zumute, als lege sich eine eiserne Klammer um ihre Brust. Wer war Kathrin Gordes? Seltsamerweise gefiel ihr die Stimme, sie klang warm und sympathisch. Deshalb sagte sie: “Wäre Ihnen das Café am Marktplatz recht? Um elf? Wie erkenne ich Sie?”

“Ich werde Sie erkennen. Ich habe Fotos von Ihnen gesehen.”

Anja legte auf, am ganzen Körper zitternd. Wieso kannte diese Frau Fotos von ihr? Was hatte das alles zu bedeuten? Aber sie wusste, dass sie zu diesem Treffen gehen würde …

Kathrin winkte, als Anja das Café betrat. Anja war noch schöner als auf den Fotos. Zart und mädchenhaft. Kein Wunder, dass Frank sie auf Händen trug. Einen Augenblick verspürte Kathrin so etwas wie Neid, aber dann lächelte sie herzlich: “Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Sandner.”

Anja setzte sich und stellte eine Tüte auf den Boden: “Ich habe einen schönen Pullover für meinen Mann gekauft. Möchten Sie ihn sehen?” Schon nahm sie die Tüte wieder auf, öffnete sie und reichte Kathrin den Pullover.

Kathrin nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn: “Er ist sicher sehr teuer gewesen.”

“Ja, aber ich möchte Frank eine Freude machen.”

Da beschloss Kathrin spontan, mit offenen Karten zu spielen. “Ich weiss nicht, ob Ihr Mann sich wirklich freuen wird”, meinte sie zweifelnd. “Wissen Sie eigentlich, dass er in grossen finanziellen Schwierigkeiten steckt? Er hat keine Ahnung, wie er seine Bankschulden begleichen soll.”

Obwohl Anja plötzlich wusste, dass dies die Wahrheit war, wehrte sie sich: “Das stimmt nicht. Seine Geschäfte gehen glänzend. Ich bin seine Frau, ich müsste doch wissen, wenn er Geldsorgen hat!”

Behutsam erwiderte Kathrin: “Verzeihen Sie mir, ich wollte Sie nicht verletzen. Aber Tatsache ist, dass Frank Sie schonen möchte, deshalb verschweigt er Ihnen seine Probleme. Ich finde nur, Sie sollten es wissen. Eben, weil Sie seine Frau sind.”

“Und wer sind Sie?” fragte Anja barsch. “Seine Geliebte?”

“Nein. Frank kommt zu mir, um sich auszusprechen. ich bin nur ein Abladeplatz für seine Sorgen”, antwortete Kathrin, und dann erzählte sie Anja alles.

Als sie geendet hatte, meinte Anja betroffen: “Ja, jetzt verstehe ich sein seltsames Verhalten in letzter Zeit. Aber warum hat er mir nichts gesagt? Ich könnte ihm doch helfen. Ich habe vor meiner Heirat als Bankkauffrau gearbeitet.”

“Zum einen ist er zu stolz, Sie um Hilfe zu bitten. Zum anderen soll seine Ehefrau nicht arbeiten müssen.”

Anja nickte. “Ja, so ist er, mein Frank. Dabei würde ich gern wieder arbeiten, denn die Kinder gehen ja nun zur Schule. Aber Frank wollte bis jetzt nichts davon wissen. Und ich habe mich gefügt. Ich liebe ihn doch.”

“Aus lauter Liebe zum anderen sind Sie beide nicht Sie selbst”, stellte Kathrin fest. “Frank möchte, dass Sie in ihm den starken, erfolgreichen Mann sehen, selbst wenn er vor lauter Sorgen ganz krank ist. Und Sie versuchen, ihm zuliebe eine abhängige, zerbrechliche Frau zu sein. Stimmt’s?”

Anja nickte verlegen. Ja, diese Fremde, die ihr trotz der anfänglichen Angst vom ersten Augenblick an sympathisch war, hatte recht. Sie lächelten einander zu.
Unvermittelt wurde Kathrin wieder ernst. “Ich muss Ihnen noch zwei Dinge gestehen, Frau Sandner. Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Erstens: Ihr Mann hat mir mit Geld geholfen, aber das werde ich zurückzahlen, sobald ich es kann.”

Sie machte eine kleine Pause, bevor sie hinzufügte: “Zweitens: Ich habe mich in Ihren Mann verliebt. Deshalb werde ich fortziehen. Das ist besser für uns alle. Jetzt sind Sie an der Reihe. Bringen Sie Frank dazu, Ihnen von seinen Sorgen zu erzählen. Die nächste Zeit wird vielleicht nicht leicht für Sie sein, aber ich bin davon überzeugt, dass Sie es gemeinsam schaffen werden. Weil Sie sich lieben.”

Dann stand sie auf und sagte: “Ich muss jetzt gehen. Viel Glück, Anja. Ich darf Sie doch Anja nennen?”

Auch Anja war aufgestanden: “Natürlich, Kathrin. Ich danke Ihnen sehr, und ich wünsche Ihnen ebenfalls viel Glück.”

Während Anja ihr nachblickte, dachte sie, dass sie Kathrin Gordes gern zur Freundin gehabt hätte …
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“Anja, Liebling, bist du da?” rief Frank, als er die Diele betrat.

“Ja, ich bin in der Küche.”

“Was ist mit deinem Auto passiert? Es steht nicht in der Garage.”

“Ich hab’s zurückgegeben.”

“Zurückgegeben? Warum?”

“Frank, wir müssen miteinander reden,” verkündete sie mit einer Entschlossenheit, die er gar nicht an ihr kannte. Verwirrt sah er sich um: “Und wo sind die Kinder?”

“Sie schlafen heute bei meinen Eltern, wir sind ganz allein.”

Der Tisch war wieder vor dem Kamin gedeckt, mit Kerzen und dem kostbaren Meissner Porzellan.

“Das Geschirr haben sie im Geschäft leider nicht zurückgenommen”, seufzte Anja.

Nun verstand Frank überhaupt nichts mehr: “Anja, willst du mir nicht endlich erklären, was los ist?”

Doch sie liess ihn noch eine Weile zappeln. Zuerst trug sie das Essen auf, einen schmackhaften Eintopf. Während sie die Teller füllte, sagte sie mit fester Stimme: “Ich möchte wissen, wie deine Geschäfte laufen, Liebster. Und ich bitte dich, sag mir diesmal die Wahrheit!”

“Trinken wir keinen Aperitif vor dem Essen?” wich er aus.

“Nein”, erklärte sie ernst. “Nicht heute. Und wir werden auch in Zukunft nie wieder solche Mengen trinken. Frank, ich habe heute Kathrin getroffen. Ja, guck nicht so, deine Kathrin. Sie hat das einzig Richtige getan, sie hat mir die Augen geöffnet. Warum hast du mir nie gesagt, dass du Geldsorgen hast? Hast du so wenig Vertrauen zu mir? Wozu sind wir denn Mann und Frau? Doch nicht allein für die schönen Stunden! Du weisst, dass ich seit langem wieder Lust habe zu arbeiten. Ich möchte dir im Büro helfen. Ich hatte doch immer einen guten Draht zu Kunden.”

“Du … du hast Kathrin Gordes getroffen?” wiederholte er verblüfft. “Wie kommt sie dazu …”

“Ich bin ihr sehr dankbar, Frank”, unterbrach sie ihn lächelnd. “Ich fühle mich jetzt viel besser, weil ich endlich etwas tun kann. Du hast mich bisher in einen Elfenbeinturm gesperrt und alles von mir ferngehalten. Ich möchte, dass du weisst, dass wir ab sofort zu zweit sind – und alle Sorgen teilen. Einwände lasse ich nicht gelten. Also, wann fange ich an?”

“Jetzt stehe ich aber dumm da. Dabei … ich tat es doch nur aus Liebe.” Frank starrte seine Frau an. Kathrin hatte recht gehabt, Anja war viel stärker, als er geglaubt hatte. Oh, Gott, wie er diese neue Anja bewunderte! Überrascht stellte er fest, dass die Magenschmerzen, die ihn schon den ganzen Tag gequält hatten, plötzlich nachliessen.

Er fühlte sich mit einem Mal wunderbar leicht, als er ihr Lächeln erwiderte und meinte: “Morgen kommt ein Kunde. Hättest du Lust, deine Talente an ihm auszuprobieren?”

“Und ob”, strahlte sie. “Du musst mir nur erklären, worum es geht.”

“Wird gemacht”, schmunzelte er. “Gleich nach dem Essen.”

In dieser Nacht liebten sie sich. Und Anja fand es schöner als jemals zuvor. Als sie später erschöpft in seinen Armen lag, flüsterte sie glücklich: “Ich glaube, wir sind erst jetzt richtig verheiratet. Und das haben wir Kathrin Gordes zu verdanken.”

Und damit sprach sie Frank aus dem Herzen.

ENDE

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Sonntag, 17. Februar 2013
Lutz, Bernhard - und Andrea
Andrea ist ziemlich sauer, seit ihr früherer Verehrer Bernhard wieder aufgetaucht ist und hartnäckig versucht, ihr mit seinem Geld zu imponieren. Denn ihr Freund Lutz beschäftigt sich plötzlich mehr mit seinem Rivalen als mit ihr …
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“Ach, verflixt noch mal, ich habe nichts, was passt”, jammerte Andrea und starrte abwechselnd ihre Buchstaben und das Scrabble-Spielbrett an.

“Dann bin ich an der Reihe!” Vergnügt rieb Lutz sich die Hände und legte ein langes Wort mit Y. Er zählte gerade seine Punkte, als es an der Haustür klingelte.

“Wer kann das sein? Machst du auf?” bat Andrea.

“Damit du deine Buchstaben austauschen kannst? Wir gehen zusammen!” Er grinste sie an und streckte ihr beide Hände entgegen.

Lutz hielt Andrea immer noch an der Hand, als er auf den Knopf der Sprechanlage drückte und fragte: “Wer ist da, bitte?”

“Bernhard Helmers.”

Sie sahen sich einen Moment lang an, dann flüsterte Andrea: “Und wenn wir einfach nicht aufmachen?”

Aber Lutz drückte schon auf den Summer, und im Nu stand Bernhard vor der Tür. “Hallo! Ich wollte euch meinen Antrittsbesuch machen. Bin seit kurzem wieder im Land.” Dann trat er ohne Aufforderung ein.

“Oh, ihr habt gerade Scrabble gespielt, wie nett.” Nachdem Bernhard sich neugierig in dem gemütlichen, aber einfach eingerichteten Wohnraum umgesehen hatte, zog er ein kleines Päckchen aus der Tasche und reichte es lächelnd Andrea: “Für dich.”

Andrea entfernte das Papier und öffnete die längliche Schachtel. Einen Augenblick blieb sie stumm, dann sah sie Bernhard an: “Es ist wunderschön. Aber ... es ist zu viel, Bernhard, das kann ich nicht annehmen."

Bernhard nahm schon das Armband heraus: “Es ist echt. Gold mit Rubinen. Und natürlich kannst du es annehmen, nicht wahr, Lutz?”

“Sicher”, murmelte Lutz.

Andrea starrte zuerst Lutz und dann Bernhard an: “Ich möchte es aber nicht haben. Wie kommst du überhaupt dazu, mir ein so teures Geschenk zu machen?”

“Wenn es von Lutz wäre, hättest du doch keine Skrupel, es zu nehmen, oder irre ich mich da?” fragte Bernhard spöttisch.

“Du irrst dich sehr wohl. Ich habe mir noch nie etwas aus so kostbarem Schmuck gemacht.”

“Weil du keine Gelegenheit hast, ihn zu tragen. Ich gebe dir eine: Morgen lade ich euch beide ins beste Restaurant der Stadt ein. Zu einem tollen Kleid sieht das Armband phantastisch aus. Einverstanden?”

“Nein”, sagte Andrea.

“Doch”, widersprach Lutz.

Später stand Andrea im Bad und schaute nachdenklich in den Spiegel. Sie war hübsch, aber nicht atemberaubend schön. Gut gewachsen, aber nicht männermordend sexy. Mit blonden Haaren, blauen Augen und einem hübschen Mund. Normalerweise war sie gutgelaunt und fröhlich. Jetzt war sie wütend. Wie kam Lutz dazu, über ihren Kopf hinweg Bernhards Einladung anzunehmen, die eher einer Herausforderung glich? Würden die beiden Männer ihretwegen das ganze Leben lang Rivalen bleiben?
Andrea hatte Bernhard kennengelernt, als sie noch zur Pädagigischen Hochschule ging und er Wirtschaftswissenschaften studierte. Später wollte er in die Firma seines Vaters eintreten. Bernhard hatte sie hartnäckig umworben, bis sie ihm eines Tages freundlich erklärte, dass sie ihn zwar gern hätte, seine Liebe aber nicht erwidern könne.

Irgendwann hatte Bernhard seinen Freund Lutz Bellmann mitgebracht, der gerade seine Referendarzeit in der Kanzlei seines Onkels machte. Als sie in seine blauen Augen sah, bekam sie schlagartig weiche Knie und Herzklopfen. Bei ihr wie auch bei Lutz war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Was zwangsläufig das Ende der Männerfreundschaft bedeutete.

Andrea und Lutz zogen zusammen, und Bernhard ging nach seinem Examen in die Staaten. Zwei Jahre war er fortgeblieben.

Nun glitt Andrea neben Lutz ins Bett und schmiegte sich an ihn. Sie flüsterte ihm zu, dass Bernhard ihn mit seiner Protzerei doch nur provozieren wollte und dass sie das zum Kotzen fände. Aber Lutz reagierte nicht.
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Im Restaurant bestellte Bernhard das teuerste Menü und die besten Weine: “Ich kann’s mir leisten”, betonte er grossspurig. “Ich verdiene mittlerweile ausgesprochen gut.”

“Wie schön für dich.” Andreas bissiger Ton war nicht zu überhören.

Sie bestritt fast allein die Unterhaltung mit Bernhard, denn Lutz muffelte den ganzen Abend vor sich hin. Als die Rechnung gebracht wurde, sagte er jedoch bestimmt: “Ich zahle.”

Andrea gab ihm unter dem Tisch einen Tritt, aber Lutz schrieb mit versteinerter Miene wortlos einen Scheck aus und legte auch noch ein sattes Trinkgeld drauf.

Erst im Auto polterte Lutz zornig los: “Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass wir uns von diesem Angeber einladen lassen?”

Sie verkniff sich die Bemerkung, dass er es doch war, der die Einladung angenommen hatte. Die Stimmung war sowieso schon mies genug. Dafür kuschelte sie sich später im Bett an seinen Rücken und murmelte: “Ich liebe dich. Du hast es doch gar nicht nötig, jemandem etwas zu beweisen. Vor allem mir nicht, Liebling.”

Lutz gab auch diesmal keine Antwort. Sie hörte nur ein missmutiges Brummen.
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Am nächsten Morgen hielt Andrea das Armband in der Hand und betrachtete es sinnend. Bildete Bernhard sich wirklich sein, sie damit beeindrucken zu können? Und warum reagierte Lutz nur so empfindlich? Gewöhnlich wusste er doch ganz genau, was er wollte. Schliesslich war er nach der Referendarzeit ja auch nicht bei seinem Onkel geblieben, obwohl er sich dort in ein gemachtes Nest hätte setzen können. Aber um welchen Preis? Unter seinem selbstherrlichen, nur materiell orientierten Onkel hätte Lutz jede Selbstachtung verloren.

Andrea hatte von ganzem Herzen zugestimmt, als Lutz mit einigen anderen jungen Anwälten eine Sozietät gründete, die auch weniger betuchte Klienten beriet. Am Monatsende sah es nicht immer rosig aus, aber was machte das schon? Sie hatten ja auch noch ihr Gehalt als Lehrerin.

Sie seufzte tief auf, legte das Armband in die Schachtel zurück und beschloss, es zu verkaufen …

Wenige Tage später kreuzte Bernhard erneut auf. Bewaffnet mit einem riesigen Blumenstrauss, einer Dose echtem Kaviar und einer Flasche Champagner. Er fläzte sich auf’s Sofa, als sei er hier zu Hause.

Andrea fragte sich, warum Lutz ihn nicht einfach hinauswarf. Statt dessen musste sie sich Bernhards Sticheleien und Lebensweisheiten anhören: “Das Geld liegt auf der Strasse. Man braucht sich nur zu bücken. Ich verstehe gar nicht, dass manche es nicht schaffen. Du bist doch intelligent, Lutz! Wenn ich eimal heirate, braucht meine Frau jedenfalls nicht zu arbeiten.”

“Ich will aber arbeiten! Ausserdem macht mein Beruf mir Spass!” zickte Andrea ihn wütend an.

Lutz stürzte seinen Champagner hinunter: “Morgen rede ich mit Onkel Tom und nehme sein Angebot an.”

“Das ist doch nicht dein Ernst!” rief Andrea entsetzt.

“Idealismus ist eine Zeitlang ja ganz gut, aber man muss auch an die Zukunft denken”, beharrte er trotzig auf seiner Entscheidung.

“Aber du hast immer gesagt, dass du deinen Onkel nicht ausstehen kannst!”

“Das ist jetzt völlig egal. Wir werden heiraten und Kinder haben, und du wirst zu Hause bleiben, Liebling.”

Nun rastete Andrea förmlich aus: “Ich denke nicht daran”, schrie sie empört. “Und ich will auch keinen Ehemann haben, der vor lauter Arbeit seine Kinder nicht aufwachsen sieht!”

Ihr reichte es. Türenknallend verliess sie das Wohnzimmer und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Bernhard war wirklich im unpassendsten Moment aufgetaucht. Wie hatte sie sich darauf gefreut, Lutz zu sagen, dass sie schwanger war. Und jetzt führten die beiden Männer einen kindischen Kleinkrieg. Plötzlich hatte sie den Wunsch, weit weg zu sein …
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“Natürlich kannst du bei uns schlafen”, sagte Lydia. “Nicht wahr, Bob?”

Lydia war Andreas Freundin; sie und Bob hatten vor zwei Monaten geheiratet.

“Klar”, stimmte Bob zu. “Was ist denn los bei euch?”

Als Andrea ihre Geschichte erzählt hatte, resümierte Lydia: “Du erwartest also ein Baby, und Lutz ist übergeschnappt.” Schelmisch fügte sie hinzu: “Ich fände es ja äusserst schmeichelhaft, wenn sich zwei Männer derart um mich reissen würden.”

Niedergeschlagen erwiderte Andrea: “Sag das nicht. Ich zähle da überhaupt nicht. Sie haben ja nicht einmal gemerkt, dass ich meine Tasche gepackt und die Wohnung verlassen habe. Sie waren einmal befreundet, durch mich sind sie leider zu Rivalen geworden, und jetzt fechten die ihren Kampf aus. Wie ich darüber denke, interessiert sie überhaupt nicht. Es ist wirklich das Beste, wenn ich aus ihrer beider Leben verschwinde. Morgen werde ich mir eine Wohnung suchen.”

“Warte noch damit. Schliesslich hast du Bernhard nie Hoffnungen gemacht. Du hast sie nicht gegeneinander ausgespielt. Und Bernhard selbst war es, der dir Lutz vorgestellt hat, er hat den Wolf in den Schafstall gelassen hat, wenn man es mal so ausdrücken kann. Und denk’ an das Baby, Andrea. Gib Lutz noch eine Chance. Ich traue ihm durchaus zu, dass er wieder zur Besinnung kommt”, meinte Lydia zuversichtlich.

In dem Augenblick klingelte es Sturm. Bob ging öffnen und kam einen Augenblick später mit Lutz zurück: “Ja, sie ist hier”, grinste er und liess sich dann von Lydia in die Küche ziehen.

Nun standen Andrea und Lutz sich gegenüber. Andrea fasste sich als erste: “Was ist mit Bernhard?”

“Er ist gegangen. Als ich gemerkt habe, dass du nicht mehr da warst und auch dein Nachthemd und deine Toilettensachen fehlten, kam mir schlagartig zu Bewusstsein, dass ich mich wie ein Riesentrottel aufgeführt habe. Weisst du, Bernhard und ich waren zwar früher befreundet, aber es gab auch immer Rivalitäten zwischen uns. Bernhard wollte immer der Bessere, der Stärkere sein. Und ich liess mich auf diesen Konkurrenzkampf ein. Es war wie ein Elektroschock, als mir vorhin klar wurde, dass ich dabei war, dich zu verlieren, weil ich mich wie früher in diesen dummen Wettstreit habe hineinziehen lassen. Wir hatten eine kurze Auseinandersetzung, dann ist er wütend gegangen. Ich glaube nicht, dass er sich wieder blicken lassen wird, und wenn, dann bin ich jetzt gefeit. Denn ich weiss jetzt, dass ich nur eins möchte, nämlich dich - wenn auch du mich immer noch willst, Andrea.”

“Und dann bist du hierhergekommen?”

“Schnurstracks. Ich habe gehofft, ja, eigentlich gewusst, dass du bei deiner besten Freundin Lydia und ihrem Bob bist.”

“Dann kennst du mich ja wirklich gut. Ich bin so froh, dass jetzt wieder dieses enge Band zwischen uns besteht. Ja, ich will dich, Lutz. Ich will dich von ganzem Herzen.” Sie schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm zärtlich etwas ins Ohr.

“Was? Ein Baby? Liebling, jetzt wird geheiratet!”

“Und wir machen eine schöne Hochzeitsreise.”

Er sah jetzt besorgt aus: “Aber von welchem Geld?”

“Keine Sorge, das habe ich.” Dann drohte sie ihm scherzhaft mit dem Finger: “Meinen Beruf werde ich aber nicht aufgeben!”

Lutz nickte: “Und ich werde nicht mit Onkel Tom zusammenarbeiten.”

In dem Augenblick ging die Tür auf, und Bob stellte ein Tablett mit einer Flasche Sekt und vier Gläsern auf den Tisch. Er grinste nett: “Ich glaube, es gibt etwas zu feiern!”

“Und ich wette, ihr habt an der Tür gehorcht”, gluckste Andrea.

“Na und? Das war besser als unsere spannende Fernsehserie, die wir ja nun euretwegen nicht ansehen konnten”, lachte Lydia, die Bob gefolgt war und sich nun erleichtert aufseufzend auf das Sofa fallen liess. “Nun steht doch nicht so herum, setzt euch auch!”
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Später zu Hause fragte Lutz: “Was hast du eigentlich mit dem Armband gemacht?”

Statt einer Antwort küsste Andrea ihn nur zärtlich. Vorgestern hatte sie das Armband zu einem sehr guten Preis verkauft. Vielleicht würde sie ihm ja irgendwann einmal verraten, woher das Geld für ihre Hochzeitsreise kam …

ENDE

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Freitag, 15. Februar 2013
Wiedersehen in Bangkok
Dora Lorenz, eine erfolgreiche junge Geschäftsfrau, erfährt zufällig, dass ihr Freund aus Kindertagen in Bangkok lebt. Während einer Urlaubsreise besucht sie ihn. Aber Ludwig benimmt sich nach der ersten Wiedersehensfreude kühl und abweisend …
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Dora Lorenz verliess mit raschen Schritten das Hotel, winkte ein Taxi heran, stieg ein und gab die Adresse an: “142 Charoen Krung Road, bitte.“

Das Taxi fuhr an, und sie lehnte sich in die Polster zurück. Schön verrückt dachte sie. Was willst du ihm denn überhaupt sagen? Wahrscheinlich erinnert er sich überhaupt nicht mehr an dich. Und wenn, nur im Schlechten. Welcher Junge hat es schon gern, wenn ein staksiges kleines Mädchen ständig hinter ihm herrennt und jammert und bettelt: “Wohin gehst du, Ludi? Nimmst du mich mit, Ludi?”

Das Taxi kam nur langsam im Verkehrschaos von Bangkok vorwärts. Sie fächelte sich mit dem Stadtplan Kühle zu und fühlte, wie ihr Herz klopfte.

Ludwig Girod. Sie erinnerte sich noch ganz genau, als er mit seinen Eltern nebenan einzog. Fünf war sie damals gewesen, er zehn. Drei Jahre später zog er mit seinen Eltern wieder fort, und die Welt war ihr auf einmal leer erschienen. Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört …

Sie war weiter zur Schule gegangen, hatte ihr Abi gemacht und Wirtschaftswissenschaften studiert. Mit 32 Jahren stand sie mit beiden Füssen fest im Leben und war eine beruflich erfolgreiche Frau. Sie hatte genug Verehrer, es hatte auch den einen oder anderen Mann in ihrem Leben gegeben, aber die grosse Liebe war es nie gewesen. Es lag wohl daran, dass Ludi immer noch in ihrem Kopf herumspukte. Er war für sie der Inbegriff alles Männlichen: gross, stark, liebevoll und verlässlich.

Und nun hatte sie durch den grössten aller Zufälle seine Spur wiedergefunden. Auf einer Party, zu der sie gar nicht hatte hingehen wollen, hatten Bekannte von Bekannten von Girod & Gronholz gesprochen, die in Bangkok Computerprogramme für Firmen herstellten. Und der Girod von Girod & Gronholz hiess mit Vornamen Ludwig. Dora hatte daraufhin eine Urlaubsreise nach Thailand gebucht, und jetzt war sie auf dem Weg zu Girod & Gronholz.

Das Taxi hielt vor einem Bürohaus. Sie entlohnte den Fahrer, stieg aus und studierte die blankpolierten Messingschilder neben den Klingelknöpfen. Ärzte, Anwälte, Firmen. Und hier war es schon: Girod &Gronholz. Computerprogramme. 8. Etage links.

“Ich möchte gern Herrn Girod sprechen. Mein Name ist Dora Lorenz”, sagte Dora zu der jungen Frau am Empfang.

Die junge Frau telefonierte, dann lächelte sie: “Möchten Sie einen Augenblick Platz nehmen? Herr Girod kommt sofort.”

“Dora”, rief er da schon halb ungläubig, halb erfreut aus. Rasch führte er sie in sein Büro, bot ihr Platz an und fragte: “Möchtest du etwas trinken? Kaffee? Tee? Orangensaft?”

“Ach ja, auf eine Tasse Tee hätte ich schon Lust.”

Er bereitete ihn selbst zu, kam mit zwei gefüllten Tassen zurück und schob ihr den Zucker zu. “Wie hast du mich gefunden?” fragte er.

“Ich habe zufällig gehört, dass ein Ludwig Giraud in Bangkok lebt, und weil ich gerade hier Ferien mache, wollte ich mal vorbeischauen”, verdrehte sie ein wenig die Wahrheit. Rasch fügte sie hinzu: “Ich habe mich oft gefragt, was aus dir geworden ist.”

“Dass du dich überhaupt an mich erinnerst”, wunderte er sich. “Ich dachte, du hättest mich längst vergessen. Es waren doch nur drei Jahre …”

“Drei Jahre sind eine lange Zeit für ein Kind, und du warst so etwas wie ein grosser Bruder für mich. Ein wunderbarer grosser Bruder.” Oder klang das zu rührselig? Schnell fuhr sie fort: “Ich fürchte, ich bin dir sehr auf die Nerven gefallen.”

“Nur ein kleines bisschen und nur manchmal. Ich hab’ dich gern gemocht. Ich hätte gern eine kleine Schwester wie dich gehabt. Soll ich dir mal was verraten? Ich habe dir, nachdem wir fortgezogen waren, sogar mehrere Briefe geschrieben, aber ich habe sie nie abgeschickt.”

Er verzog seinen Mund zu einem Lächeln, aber es missglückte etwas. Er sah nachdenklich aus, fast melancholisch. Und plötzlich geschah das Wunder. Für Dora verschmolzen der Junge von damals und der Mann von heute miteinander, und auf einmal war es, als hätte es die Jahre dazwischen gar nicht gegeben, als hätte sie ihren grossen Freund wiedergefunden. Sie dachte noch ganz überwältigt darüber nach, als nebenan eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. “Ludwig, bist du da?” fragte eine tiefe Männerstimme.

“Klar, komm rein, Markus!” Es klang fast erleichtert.

Die Tür flog auf, und Dora musste schlucken. Vor ihr stand der bestaussehende Mann, den sie je gesehen hatte.

“Markus Gronholz, mein Sozius”, stellte Ludwig vor. “Er ist für das Geschäftliche hier zuständig. Markus, das ist Dora Lorenz, eine Freundin aus Kindertagen.”

In Markus’ Augen las sie unverhohlene Bewunderung: “Willkommen in Bangkok, willkommen in unserem bescheidenen Unternehmen. Wie kommt es, dass niemand einen roten Teppich vor Ihren Füssen ausgerollt hat? Himmel, sind Sie schön!”

Dora musste lachen über so viel Überschwang. Sie merkte nicht, dass Ludwig sie sinnend betrachtete.

Markus richtete sich jetzt ausschliesslich an sie. Er wollte wissen, was sie hier in Bangkok machte, wie lange sie blieb, in welchem Hotel sie abgestiegen war. Sie beantwortete die Fragen, während Ludwig schwieg.

Schliesslich wandte Markus sich an Ludwig: “Könnte ich dich einen Augenblick sprechen?”

“Selbstverständlich.”

Er entschuldigte sich bei Dora und folgte Markus in den Nebenraum. Als sie zurückkamen, wirkte Ludwigs Gesicht verschlossen, fast resigniert. Markus dagegen strahlte Dora an: “Ich brenne darauf, Ihnen Bangkok zu zeigen. Das heisst, wenn Sie mit meiner Gesellschaft vorlieb nehmen. Ich habe, im Gegensatz zu Ludwig, in den nächsten Tagen Zeit.”

Dora sah hilfesuchend zu Ludwig hinüber, aber der zuckte nur die Achseln und meinte: “Es tut mir leid, ich habe wirklich zu tun. Sonst hätte ich dir selbstverständlich auch gern die Stadt gezeigt. Aber Markus ist ein guter Fremdenführer.”
_ _ _

“Nichts Schöneres gibt es für mich, als Sie ansehen zu dürfen”, strahlte Markus sie an, als sie unten standen, “aber ich vermute, dass Sie sich dabei langweilen werden. Würden Sie mich bitte wissen lassen, was Sie besichtigen möchten?”

“Oh, ich habe eine ganze Liste”, lächelte sie.”Der Tempel des Smaragdbuddhas, die Goldene Pagode, den Marmortempel, die Khlongs, die schwimmenden Märkte …”

“Erbarmen”, unterbrach er sie lachend. “Eins nach dem anderen. Fangen wir also gleich mit dem Tempel des Smaragdbuddhas an. Und Sie müssen mir versprechen, dass wir heute Abend zusammen essen!”

Nach dem Besuch des wunderschönen Tempels machte Dora sich in ihrem Hotel frisch. Um acht Uhr holte Markus sie dort ab und führte sie in ein typisch thailändisches Restaurant. Während sie sich die verschiedenen delikaten Gerichte, die zum Reis aufgetischt wurden, schmecken liessen, erzählte Markus von Ludwig: “Er ist ein Sonderling. Er versteht es nicht, das Leben zu geniessen, und hier in Thailand ist alles gerade darauf angelegt. Das Klima, die liebenswürdigen Menschen, die Schönheit des Landes.”

Er schwieg und fuhr dann fort: “Ich liebe dieses Land. Ich werde es nie verlassen!”

Nach dem Essen, das vorzüglich geschmeckt hatte, brachte Markus sie zum Hotel zurück. Die Nacht war heiss, erfüllt von exotischen Geräuschen und Gerüchen. Dora ertappte sich bei dem Wunsch, Markus möge sie küssen. Sie sehnte sich nach Nähe und Verständnis. Nach Zärtlichkeit und Liebe.

Aber er küsste sie nicht. Er wünschte ihr eine gute Nacht, wartete, bis sie die hell erleuchtete Halle ihres Hotels betreten hatte, und schlenderte davon.

In dieser Nacht träumte Dora von Ludwig. Ludwig, immer noch Ludwig. Würde sie ihn denn nie vergessen? Am nächsten Morgen rief sie ihn im Büro an. Sie wechselten ein paar Worte miteinander. Bei ihm klangen sie förmlich, fast steif. Ziemlich schnell entschuldigte er sich mit dringender Arbeit und legte auf. Sie war verwirrt und traurig und hatte auf einmal Lust zu weinen.

Aber schon summte das Telefon. Sie hob ab und meldete sich.

Markus fröhliche Stimme wünschte ihr einen guten Morgen: “Was haben Sie heute vor, schöne Dora? Setzen wir unsere Besichtigung fort? Ich schlage eine Bootsfahrt auf den Khlongs vor.”

Wie im Flug verging der Tag. Während des Abendessens, diesmal in einem chinesischen Restaurant, erzählte Markus aus seiner Kindheit. Von seinen wohlhabenden Eltern, die ihn sehr jung in ein Internat gegeben hatten. Er hatte sich dort einsam gefühlt …

“Woher kennen Sie eigentlich Ludwig?” fragte er plötzlich.

“Wir waren drei Jahre lang Nachbarkinder.”

“Aha, eine Sandkastenliebe?” Es klang etwas spöttisch.

“Nein, keine Liebe”, berichtigte sie etwas zu schroff.

Am nächsten Tag fuhren sie in Markus’ offenem Geländewagen zum Strand. Die Palmen, die ihn säumten, wiegten sich leise im Wind. Tiefblau lag der Golf von Siam vor ihnen. Markus kam gerade aus dem Wasser. Sein braungebrannter Körper glänzte. Er sah wirklich fabelhaft aus!

Er streckte sich geschmeidig neben Dora aus, stützte sich auf und betrachtete sie lächelnd. Aber plötzlich erlosch sein Lächeln. Sie sah das Begehren in seinen Augen, während sein Gesicht immer näher kam.

Hatte sie sich nicht vor zwei Tagen gewünscht, er möge sie küssen? Jetzt wollte sie es nicht mehr. Sie wollte nicht, dass dieser Mann sie berührte, wurde innerlich ganz steif.

Rasch fragte sie: “Wie kommt es eigentlich, dass Sie so viel Zeit haben?”

Er seufzte und liess sich in den Sand zurückfallen: “Für eine schöne Frau sollte man immer Zeit haben”, erwiderte er, aber es klang gezwungen. Es war ihm anzumerken, dass er sich zusammennahm.

“Arbeitet Ludwig denn ganz allein, während Sie … sich liebenswürdigerweise um mich kümmern?”

“Er hat mich selbst darum gebeten.”

“Er hat Sie gebeten, sich um mich zu kümmern?”

“So ist es, bezaubernde Dora.”

Sein Blick war spöttisch, fast hart. Hatte sie ihn verletzt, indem sie ihn zurückstiess? Und warum war es ihr bloss immer noch nicht egal, was Ludwig tat und was er sagte? Warum fühlte sie sich so 'abgeschoben'? Sie war doch kein kleines Mädchen mehr! Schmerz und Enttäuschung bohrten in ihr.

Markus sah sie prüfend an: “Davon abgesehen ist Ludwig sowieso ein Arbeitstier. Er denkt nur an seine Programme.”

“Nun, das kommt dann ja wenigstens dem Unternehmen zugute.” Sie hoffte, dass er ihr Bemühen um einen leichten Ton nicht bemerkte.

“Leider nicht einmal das”, erwiderte Markus kurz. “Dem Unternehmen geht es schlecht.”

“Schlecht? Wieso?” fragte Dora erschrocken.

“Unsere beiden besten Kunden haben seit geraumer Zeit Zahlungsschwierigkeiten. Dadurch sind wir selbst in grosse Schwierigkeiten gekommen. Hat Ludwig Ihnen nichts gesagt?”

“Nein. Wir haben uns ja auch nicht lange unterhalten.”

“Wir haben vor zwei Monaten darüber gesprochen. Meine Familie ist zu einer Finanzspritze bereit, aber nur unter der Bedingung, dass das Unternehmen zukünftig mir allein gehört. Das ist wohl verständlich.”

“Und was wird aus Ludwig?”

“Ich werde ihn selbstverständlich auszahlen, aber viel wird es leider nicht sein, so wie die Dinge liegen. Ich habe ihm natürlich angeboten, als Angestellter weiter für das Unternehmen zu arbeiten, aber er hat abgelehnt. Er will nach Deutschland zurück. Machen Sie sich keine Sorgen um ihn, Dora. Er wird zurechtkommen. Er ist ein sehr guter Mathematiker. Leute wie er werden gesucht.”

Er brach ab und lächelte: “Aber lassen wir doch dieses unerfreuliche Thema. Es ist so schön hier. Möchten Sie nicht ins Wasser kommen?”

Er stand auf und wollte sie hochziehen, aber sie schüttelte den Kopf: “Ich bin müde. Könnten Sie mich ins Hotel zurückfahren, Markus?”

Während der Fahrt schwiegen sie. Markus schwor sich, dass er diese Frau noch in sein Bett bekommen würde. Zuerst hatte er das gar nicht unbedingt vorgehabt. Die immer fröhlichen Thaimädchen waren so viel unkomplizierter und vor allem anspruchsloser als Europäerinnen. Es schmeichelte ihm nur, an der Seite einer so attraktiven Frau wie Dora gesehen zu werden. Aber ihre Weigerung vorhin, sich küssen zu lassen, empfand er als Herausforderung.

Als er vor Doras Hotel hielt, hatte er sein Lächeln wiedergefunden: “Darf ich Sie heute Abend zum Essen abholen, Dora?”

“Ich weiss es noch nicht”, wich sie aus. “Könnten Sie nachher anrufen?”
_ _ _

Ludwig, der am Computer sass, zuckte zusammen, als die Tür zufiel. Er wandte sich um: “Oh, du bist es, Dora.”

Seine Stimme klang müde.

Sie stemmte die Arme in die Seiten: “Warum hast du mir nichts von euren Schwierigkeiten gesagt?”

“Welche Schwierigkeiten?”

“Also bitte, tu’ nicht so dumm. Ich meine euer Unternehmen.”

“Hat Markus es dir erzählt?”

“Wer sonst?”

Ludwig nahm die Brille ab und rieb sich lange die Augen. Dann sagte er: “Es gibt mehr als ein Unternehmen, das auf diese Weise kaputt geht. Was soll’s, ich wollte sowieso nach Deutschland zurück.”

“Hat Markus dir die Unterlagen vorgelegt?”

“Ja, natürlich.”

“Und du hast sie geprüft?”

“Er ist der Geschäftsführer, und wenn er sagt, dass es schlecht steht um das Unternehmen, dann glaube ich ihm.”

Sie konnte es nicht fassen: “Du vertraust ihm blind? Ich würde gern die Unterlagen sehen. Wo sind sie?”

“In seinem Büro.”

“Zeig’s mir!”

“Aber, Ruth”, sträubte er sich, “wir können doch nicht in seiner Abwesenheit …”

“O doch, ich kann”, erwiderte sie, und es klang sehr entschlossen. “Ich hab’ nämlich das Gefühl, dass etwas faul ist an der Sache. Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich möchte Klarheit haben. Nun komm schon!”

“Wo sind denn die säumigen Kunden?” fragte sie aufgeregt. “Alles ist in schönster Ordnung. Höchstens dieser da”, sie tippte auf ein abgeheftetes Schreiben, “der ist schon mehrmals angemahnt worden, aber es handelt sich nur um kleinere Posten. Davon geht ein Unternehmen wie eures nicht kaputt. Dein Teilhaben will dich übers Ohr hauen, mein Lieber. Er will für ein Butterbrot ein durch und durch gesundes, ja florierendes Unternehmen an sich bringen. Andererseits ist es ja geradezu rührend, wie ordentlich die Bücher gehalten sind. Und du hast wirklich nichts gemerkt?”

“Ich versteh’ doch nichts davon, und ich hab’ ihm immer auf’s Wort geglaubt”, gab Ludwig kleinlaut zu.

“So vertrauensselig möchte ich auch mal sein”, sagte sie mit nachsichtigem Kopfschütteln.

Die Tür wurde aufgerissen, und Markus fragte scharf: “Was geht hier eigentlich vor? Was macht ihr in meinem Büro? Ich warte auf eine Erklärung!”

“Markus Gronholz”, funkelte Dora ihn an. “Sie sind ein Betrüger!”

“Ich werde Sie anzeigen, wegen Hausfriedensbruch!”

Sie lachte ihm ins Gesicht: “Sie werden sich hüten. Geben Sie Ludwig, was ihm zusteht. Das ins Unternehmen eingebrachte Geld und den Gewinn. Mir können Sie nichts vormachen, Markus, ich verstehe etwas von Geschäftsführung und Buchhaltung.”
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“Meinetwegen bist du um deine wohlverdienten Ferien gekommen”, sagte Ludwig, als er sie zwei Wochen später zum Flughafen brachte. “Du hast die ganze Zeit über den Papieren gesessen.”

“Ich hab’ es gern getan, Ludwig.” Sie versuchte zu lächeln, aber es fiel ihr schwer. Sie dachte an den bevorstehenden Abschied, und ihr Herz zog sich zusammen. Würde es ein Abschied für immer sein? Fast sah es so aus. Ludwig wollte zwar immer noch nach Deutschland zurückkommen, sobald seine Geschäfte hier abgewickelt waren, er hatte sich sogar auf Doras Rat einen Anwalt genommen, aber mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass er sie gern wiedersehen würde. Er war höflich und liebenswürdig gewesen, vor allem aber distanziert.

Sie dagegen hatte sich endgültig in diesen Mann verliebt, der nichts von einem Adonis hatte, der nur ganz einfach der Mann ihres Lebens war. Plötzlich fühlte sie sich ausserstande, einfach so wegzufliegen. Mit dem Mut der Verzweiflung wagte sie einen Vorstoss: “Weisst du, als kleines Mädchen war ich richtig verliebt in dich. Du warst mein Held, mein absolutes Vorbild.”

Falsch, ganz falsch. Das merkte sie, als er schmerzlich sein Gesicht verzog.

“Ein schöner Held”, lachte er bitter auf. “Dumm und viel zu vertrauensselig.”

Sie begriff zu spät, dass er tief in seinem Mannesstolz getroffen war. Wie heilte man den Stolz eines Mannes? Sie schwieg unsicher, bis ihr Flug aufgerufen wurde.

“Ich muss los”, sagte sie leise.

“Ich wünsche dir einen guten Flug. Und vielen Dank für alles, was du für mich getan hast. Ohne dich hätte ich viel Geld verloren.”

“Könntest du nicht endlich damit aufhören?” fuhr sie ihn an.

“Ist doch die Wahrheit”, erwiderte er pedantisch.

Na, dann eben nicht, dachte sie trotzig, wandte sich um und ging auf den Warteraum zu, in den er ihr nicht folgen konnte. Jetzt musste sie auch noch heulen. So was Blödes! Und ein Taschentuch hatte sie natürlich auch nicht.

Auf einmal wurde sie herumgerissen. Es war Ludwig.

“Ich weiss, ich mache mich lächerlich”, brachte er mühsam hervor, “aber darauf kommt’s nun auch nicht mehr an. Dora, ich liebe dich. Als du plötzlich im Büro auftauchtest, habe ich mich wahnsinnig gefreut. Aber ich musste gleich daran denken, dass ich doch nichts mehr besass. Und überhaupt: Du bist viel zu schön und zu klug für mich. Ich wünschte, ich könnte dich jetzt wenigstens noch beschützen, aber jetzt bin ich es anscheinend, der deine Hilfe braucht!”

Plötzlich entdeckte er ihre Tränen: “Warum weinst du eigentlich?”

“Deinetwegen, du Blödmann, du begriffsstutziger Mensch! Und eins möchte ich überhaupt mal klarstellen. Lieber Ludwig, heute sind wir beide erwachsen. Warum sollte ich da nicht mal was für dich tun und auch mal etwas besser wissen? Oder ist ein Macho aus dir geworden? Und die Bemerkung über die Schönheit möchte ich auch nicht gehört haben.”

Leise fuhr sie fort: “Nicht Schönheit, sondern nur Liebe macht glücklich. Ach, Ludwig, ich liebe dich doch auch!”

Er zog sein Taschentuch hervor und wischte ihr sanft die Tränen fort: “Sehen wir uns in Deutschland wieder?” stellte er endlich die ersehnte Frage.

Und dann standen sie mitten im Strom der Fluggäste und bildeten ein Hindernis, weil sie sich selbstvergessen küssten …

ENDE

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Donnerstag, 14. Februar 2013
Wo bist du, Liebster?
Sandra hat sich unsterblich in den Franzosen Pierre verliebt. Doch der verschwindet eines Tages spurlos. Da Sandra ihn nicht vergessen kann, reist sie in der Hoffnung, ihn wiederzufinden, nach Aix-en-Provence …
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Müde vom Laufen setzte Sandra sich in ein Café. Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass sie ihrem Ziel näher gekommen war. Ihr blieben nur noch zwei Tage in Aix-en-Provence, zwei Tage, um das Rätsel um Pierre zu lösen. Zwei Tage, um das Gefühl der Leere und Verzweiflung auszulöschen, die seine überstürzte Abreise ohne Erklärung bei ihr ausgelöst hatte und sie seit Monaten schier um den Verstand brachte.

Sandra war schön. Ihr schulterlanges blondes Haar war vom sanften Wind zerzaust, die Sonne hatte ihre Haut mit einer leichten Bräune überzogen. Dem jungen Kellner fiel es schwer, den Blick von ihr abzuwenden, als er lächelnd nach ihren Wünschen fragte: “Vous désirez, Mademoiselle?”

”Einen Pastis, bitte.” Blind für seine Bewunderung erwiderte sie nur höflich sein Lächeln.

Während sie auf den Aperitif wartete, lehnte sie sich zurück. Die hohen Platanen des Cours Mirabeau hatten sich mit jungem Grün bedeckt. Bald würden sie einen dichten Tunnel über der Prachtstrasse von Aix bilden und sie in ein zauberhaftes grünes Licht tauchen. Es war Frühling, das Thermometer stieg von Tag zu Tag, aber Sandra nahm es kaum wahr. In ihrem Herzen spürte sie Kälte und Einsamkeit, und gleichzeitig brannte es vor Sehnsucht.

Der Kellner brachte den Pastis und eine Karaffe eisgekühltes Wasser dazu. Während Sandra in kleinen Schlucken das milchige Anisgetränk trank, dachte sie an den letzten Sommer in Bremen. Sie waren eine fröhliche Clique gewesen, hatten nach einem Bummel durch die Altstadt beschlossen, in einem Fischrestaurant zu Abend zu essen. Am Nebentisch hatte ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann Platz genommen, der versuchte, sich mit Hilfe von Zeichen und einigen Wortbrocken beim Kellner verständlich zu machen. Sandra hatte sofort seinen französischen Akzent herausgehört und ihm ihre Hilfe angeboten.

Es hatte damit geendet, dass sie den sympathischen Franzosen an ihren Tisch eingeladen hatten. Er stellte sich mit Pierre Duprat vor, erzählte, dass er in Aix-en-Provence lebte und geschäftlich in Bremen zu tun hatte. Dank Sandra, die dolmetschte, und Martin, der ebenfalls gut französisch sprach, kam eine angeregte Unterhaltung zustande. Bald merkte Sandra, dass sie sich unwiderstehlich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Er war älter als sie, Sandra schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreissig, während sie selbst erst 27 war, aber das machte ihr nichts aus, im Gegenteil.

Auch Pierre wandte kaum den Blick von ihr ab. Nach dem Essen verabschiedeten sich die anderen, als letzter Martin, ohne dass Pierre und Sandra es wahrnahmen. Die Nacht war warm, zu schön zum Schlafengehen. Sie beschlossen, noch einen Spaziergang an der Weser entlang zu machen.

”Zuerst einmal, woher sprechen Sie so gut Französisch?” wollte Pierre wissen.

”Ich bin Französischlehrerin. Und Sie? Welchen Beruf haben Sie?”

”Ich bin Ingenieur in der Flugzeugindustrie. Heute war meine Arbeit hier beendet, aber ich habe beschlossen, noch ein paar Tage länger in Bremen zu bleiben.” Mit gesenktem Kopf fügte er hinzu: “Ich möchte über verschiedene Dinge nachdenken.”

Der Ernst in seiner Stimme, in seinem Gesicht, verwirrten Sandra. Er schien plötzlich so weit entfernt zu sein. Überstürzt hatte sie von etwas anderem gesprochen, und nach kurzem Zögern war er darauf eingegangen, hatte wieder gelächelt. Sie wusste nicht mehr, über was sie sich unterhalten hatten. Die Worte waren nicht wichtig, sie waren nur ein Vorspiel zu dem, was folgen würde, was folgen musste …

Es waren Ferien, Sandra hatte in diesem Jahr keine Reise geplant, es war, als hätte sie sich unbewusst auf diese Begegnung mit Pierre vorbereitet. Als er sie schliesslich nach Hause brachte, gelang es ihnen nicht, sich zu trennen. Er blieb bei ihr. Die Liebe überfiel sie wie eine Naturgewalt, der sie nicht entrinnen konnten.

Am nächsten Tag holten sie zusammen seine Sachen aus dem Hotel. Nie hatte Sandra schönere Tage, nie leidenschaftlichere und zärtlichere Nächte erlebt. Sie sprachen nicht von der Vergangenheit, nicht von der Zukunft, die Gegenwart liess keinen Raum für den Verstand, für Überlegungen und Pläne. Sandra, die sonst so besonnen, so vernünftig war, erkannte sich nicht wieder …

Eines Morgens war sie aufgewacht und wollte sich in Pierres Arme schmiegen, aber der Platz neben ihr war leer, ihre Hand traf nur auf kühles Laken. Sie wartete ein paar Minuten, dann stand sie auf, um ihn zu suchen. Er war nirgendwo, seine ganzen Sachen waren fort, es war, als hätte er nie existiert. Zuletzt fand sie eine rote Rose auf dem Tisch, sie lag neben einem Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort stand: “Pardon.”

Es war ein Gefühl gewesen, als würde sie entzweigerissen, als stiesse man ihr einen Dolch mitten in die Brust. Tagelang, wochenlang hatte sie auf eine Nachricht von ihm gewartet, wenigstens auf eine Erklärung. Nichts war gekommen …

Ihr Kollege Martin hatte sich in der Zeit rührend um sie gekümmert. Er war vor einem Jahr als Geschichtslehrer an ihre Schule gekommen. Sandra hatte ihn von Anfang an gern gemocht. Jetzt tröstete er sie, munterte sie auf, schleppte sie in Ausstellungen und Konzerte, machte Radtouren mit ihr und fuhr sogar mit ihr im Herbst nach Wangerooge, weil er sie viel zu blass fand. Dort hatten sie zusammen lange Spaziergänge am windgepeitschten Strand gemacht und abends am Kamin ihres Gasthauses heissen Grog getrunken. Sandra lächelte unwillkürlich, als sie an Martin dachte. Seine Freundschaft war ihr so kostbar. Nur als sie ihm sagte, dass sie in den Osterferien nach Aix-en-Provence fahren würde, hatte er etwas merkwürdig reagiert.

”Warum?” hatte er gefragt, obwohl er die Antwort doch wusste, wissen musste.

”Ich möchte versuchen, Pierre wiederzufinden.”

”Aber Sandra, selbst wenn es es dir gelingt, was versprichst du dir davon?”

”Alles”, erwiderte sie verzweifelt. “Er fehlt mir so sehr, du kannst nicht wissen, wie sehr!”

”Oh doch, ich weiss es”, hatte er traurig erwidert und sie aus seinen guten, brauen Augen angesehen.

Er hatte sie in seinem Wagen zum Flughafen gebracht. “Sandra, sag mir Bescheid, wenn du mich brauchst, ja?”

”Ich verspreche es dir. Martin, du bist so nett zu mir. Ich weiss gar nicht, wie ich dir danken soll.”

”Du brauchst mir nicht zu danken, ich mach’ es gern”, hatte er geantwortet. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und war gegangen.

Sie trank jetzt den letzten Schluck Pastis und fühlte sich etwas zuversichtlicher. Alles war nicht verloren, ihr blieben schliesslich noch zwei Tage. Die Stadt war nicht sehr gross, sie konnte vernünftigerweise damit rechnen, Pierre in einer der engen Gassen, auf einem der kleinen Plätze mit den sprudelnden Brunnen zu begegnen! Natürlich war ihr schon der Gedanke gekommen, dass er sich im Augenblick gar nicht in der Stadt befinden könnte, aber lieber malte sie sich ihre Begegnung aus. Hundertmal, tausendmal hatte sie es getan. Was auch immer der Grund für seine überstürzte Abreise war: Die Liebe würde siegen. Es konnte doch nicht anders sein nach dem, was sie miteinander verbunden hatte!

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie seine Adresse und Telefonnummer gehabt hätte, aber er hatte sie ihr nicht gegeben, und sie stand auch nicht im Telefonbuch. Sie legte das abgezählte Geld mit einem Trinkgeld auf den Tisch. Sie würde in einem der unzähligen kleinen Restaurants zu Abend essen.

In den Gassen herrschte reger Betrieb. Die Menschen waren fröhlich, sie lachten. Verführerische Düfte nach exotischer Küche, nach Knoblauch und Olivenöl durchzog die frühlingswarme Luft.

Sie betrat ein Restaurant, das sie noch nicht kannte - und blieb wie festgenagelt stehen, während ihr Herz anfing, dumpf und schmerzhaft zu klopfen. Da war er, der Mann, den sie so verzweifelt suchte. Aber nicht allein! Mit ihm an Tisch sassen eine attraktive, dunkelhaarige Frau und zwei Kinder, ein Mädchen von etwa zehn und ein Junge von sechs oder sieben Jahren. Alle vier sprachen und lachten durcheinander. Sandra hörte deutlich, wie die Kinder “Papa” und “Maman” zu den Erwachsenen sagten. Pierre war verheiratet und Vater von zwei Kindern!

Die widersprüchlichsten Gefühle stürmten auf Sandra ein: Liebe, Erleichterung, ihn gefunden zu haben, aber auch tiefe Qual und sogar Hass auf den Mann, der sie zum Narren gehalten hatte.

Einen Augenblick empfand sie das brennende Bedürfnis, an seinen Tisch zu gehen, seiner Frau die Wahrheit zu sagen, sich zu rächen. Aber jetzt streckte Pierre über den Tisch hinweg seine Hand aus und berührte die seiner Frau. In dem Lächeln, das die beiden austauschten, lag nicht nur Zärtlichkeit und Liebe, sondern auch ein tiefes Wissen um den Schmerz, den ein Mann und eine Frau sich zufügen konnten. Diese beiden gehörten zusammen, über alle Intrigen und menschlichen Schwächen hinweg. Hatte Pierre seiner Frau von ihr, Sandra, erzählt? Wenn ja, hatte sie ihm verziehen, das war offensichtlich. Und wollte Pierre ihr überhaupt im Sommer verschweigen, dass er verheiratet war?

Sie dachte an ihren Spaziergang an der Weser am ersten Abend, an seine Bemerkung, dass er nachdenken wollte. Sie hatte dem Gespräch sofort eine andere Richtung gegeben. Aus Egoismus, wurde ihr jetzt klar. Sie hatte nicht wissen wollen, was ihn beschäftigte – hatte vor allem nicht wissen wollen, ob es vielleicht eine andere Frau in seinem Leben gab. So gross war ihr Bedürfnis gewesen, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden.

Denn es war Liebe gewesen. Pierre, das sah sie jetzt, und sie hatte es schon im Sommer gewusst, war kein Mann, der ein Abenteuer suchte. Nach seiner Flucht hatte sie nur an ihren eigenen Schmerz gedacht. Jetzt dachte sie an die Gewissensqualen, die Pierre ausgestanden haben musste. Er hatte wählen müssen zwischen ihr und seiner Frau. Sie war froh, dass er sich für seine Frau entschieden hatte. Und für seine Kinder.

Pierre erklärte ihnen gerade etwas. Wie stolz er auf sie war! Und plötzlich war es, als zerriss ein Schleier vor Sandras Augen. Sie sah sich an der Stelle des zehnjährigen Mädchens. Sie hörte ihre Eltern, die sich miteinander stritten. Sie stritten sich ständig. Sie dachte an den Tag, an dem ihr Vater abends nicht nach Hause gekommen war. Ihre Mutter hatte für das Abendessen den Tisch nur für zwei Personen gedeckt, und auf Sandras Frage nach ihrem Vater hatte sie ihr kurz erklärt, dass er hätte verreisen müssen. Sandra hatte ihn nie wiedergesehen. Zehn Jahre später kam eine Nachricht aus Australien, dass er gestorben sei.

Pierre, das begriff sie jetzt, war wie der Vater, der zurückgekommen war, um ihr zu bedeuten, dass sie begehrenswert war, dass ein Mann sie lieben konnte. Plötzlich war es nicht mehr so wichtig zu wissen, ob und vor allem warum Pierres Ehe in einer Krise gesteckt hatte. Wichtig war, dass er zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgekommen war.

Sandra wollte sich gerade umwenden und das Restaurant verlassen, als Pierre aufsah und ihre Blicke sich trafen. Einen Augenblick war alles möglich: Dass er aufsprang, um zu ihr zu gehen und sie in die Arme zu nehmen, oder dass er im Gegenteil hastig den Blick abwenden und so tun würde, als erkenne er sie nicht.

Nichts von beidem geschah. Er lächelte ihr zu, und in seinem Blick lag die Bitte um Verzeihung und Verstehen. Aber auch die Erinnerung an das,was sie miteinander geteilt hatten, an ihre Liebe und den Schmerz seiner Entscheidung.

Sie konnte nicht anders, sie lächelte zurück, nickte ihm noch einmal zu und trat dann auf die Strasse. Ihr Herz war wunderbar leicht. Alles hatte seinen Platz gefunden, wie die Teile eines Puzzles. Sie würde sich immer an Pierre erinnern, aber sie wusste, dass die Erinnerung sie nicht mehr quälen würde …

Vor ihrem Hotel stand eine dunkle Gestalt, die sich jetzt von der Mauer löste und ihr langsam entgegenkam.

”Martin, wo kommst du denn her?” fragte sie, während eine jähe Freude sie erfüllte.

Er sah sie forschend an: “Störe ich dich?”

”Im Gegenteil, es war eine wundervolle Idee, zu kommen. Wohnst du hier im Hotel?” Sie dachte, dass sie gut daran getan hatte, ihm die Adresse ihres Hotels zu geben.

”Es wäre schon ein Zimmer frei, aber ich wollte dich natürlich erst fragen, ob es dir recht ist, wenn ich auch hier wohne. Und übermorgen könnten wir dann gemeinsam zurück nach Bremen fliegen, ich habe noch einen Platz bekommen.”

”Ich freue mich darauf, mit dir zurückzufliegen. Lass es uns jetzt nur schnell das Zimmer reservieren. Hast du schon zu Abend gegessen?”

”Nein, und du?”

”Ich auch nicht. Und ich habe auf einmal einen einen gewaltigen Hunger!” Sie konnte wieder lachen.

Er lachte nun ebenfalls und reckte sich: “Ich auch. Im Flugzeug habe ich keinen Bissen hinunterbekommen.”

Sie hakte sich bei ihm unter: “Erst das Zimmer, dann willst du dich vielleicht etwas frisch machen? Und dann suchen wir uns ein schönes Restaurant.” Nachdenklich fügte sie hinzu: “Ach Martin, ich habe dir so viel zu erzählen …”

Als sie eine viertel Stunde später die Treppe hinunterkam, wartete er schon in der Halle auf sie. Er stand da mit seinen breiten Schultern, seinem Dreitagebart und dem warmen Lächeln. Aus seinen Augen sprach so viel Liebe zu ihr, und an dem heissen Glücksgefühl, das sie durchströmte, merkte sie, dass sie Martins Liebe endlich erwidern konnte …

ENDE

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Dienstag, 12. Februar 2013
Ein Hochzeitstag mit Hindernissen
Alex ist strikt dagegen, Kinder in diese Welt zu setzen. Schweren Herzens hat seine Frau Susanne sich diesem Wunsch gefügt. Doch ausgerechnet am zweiten Hochzeitstag schneit ein junges Mädchen in Alex’ Büro und behauptet …
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“Herr Hardege, eine junge Dame möchte Sie gern sprechen.”

Alex sah Frau Wilkens, seine Sekretärin, unschlüssig an. Er wollte heute früh nach Hause. Susanne wartete auf ihn. Es war ihr zweiter Hochzeitstag, und sie wollten in ihrem Lieblingsrestaurant essen.

“In welcher Angelegenheit?” zögerte er.

“Sie sagt, es sei persönlich.”

Dïe junge Dame war nicht älter als 17 oder 18. Sie trug Jeans mit einer lockeren Weste, und sie war ausgesprochen hübsch. Blondes, aufgestecktes Haar, ein ovales Gesicht und blaue Augen, die ihn jetzt aufmerksam und irgendwie bewegt musterten.

Er erhob sich halb hinter seinem Schreibtisch und wies auf den Sessel: “Bitte, nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?” Vielleicht suchte sie Arbeit und versuchte es mit dieser persönlichen Masche? Aber sie brauchten im Augenblick niemanden in seinem kleinen Unternehmen.

Sie wandte sich um, als wolle sie sich vergewissern, dass sie allein waren und die Tür geschlossen war: “Sie sind Herr Hardege, nicht wahr? Alex Hardege.”

“Ja, das bin ich.” Worauf wollte sie heraus? Ungeduldig sah er auf die Uhr.

“Und vor 19 Jahren haben Sie einmal einen Sommer in Goslar verbracht?” fuhr sie unbeirrt fort.

Was sollte diese Frage? Er musste erst einmal überlegen.

“Ja, das stimmt”, erwiderte er schliesslich.

“Erinnern Sie sich an eine Brigitte?”

Brigitte. Brigitte Jürgens. Gross, schlank, blond, bezaubernd. Die schönsten blauen Augen, die er je gesehen hatte. Er war sehr verliebt gewesen in sie. Es war ein wunderbarer Sommer gewesen, aber wie das so ist. Sie lebte in Goslar, er studierte in Freiburg. Er hatte ihr geschrieben, sie hatte nicht geantwortet. Das war es dann gewesen.

Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. “Ich bin Brigittes Tochter. Mein Name ist Jenny Heise.”

“Ach so, ja …”

“Also, ich bin Brigittes und Ihre … und deine Tochter!”

Als er die Tragweite dieser Worte begriffen hatte, starrte er sie erst einmal ungläubig an. Was behauptete dieses Mädchen da?

“Mutti hat geheiratet, als ich zwei Jahre alt war. Mein Stiefvater ist Arzt und heisst Heise. Er hat mich adoptiert und mich aufgezogen wie eine leibliche Tochter. Ich habe zwei jüngere Geschwister, und ich komme nicht, um irgendwelche Forderungen zu stellen, ich liebe meine Eltern und meine beiden Brüder, ich habe alles, was ich brauche. Ich möchte nur … ich möchte dich endlich kennenlernen!”

Jetzt wollte er es ganz genau wissen: “Wann sind Sie … hm, wann bist du geboren?”

Sie nannte ihm das genaue Datum, kramte in ihrer Tasche und zeigte ihm ihren Personalausweis.

Und er sass da und fühlte sich plötzlich wie erschlagen. Er hatte eine Tochter, von der er bis zum heutigen Tag nichts gewusst hatte! Ausgerechnet er, der sich geschworen hatte, nie ein Kind in diese böse Welt zu setzen: Drohende Atomkriege, Umweltverschmutzung. Überbevölkerung. Wer wollte das denn einem Kind zumuten? Er hatte Susanne nur an sich binden mögen, nachdem sie ihm versichert hatte, dass sie sich mit ihm auch eine Ehe ohne Kinder vorstellen könnte.

Und nun sass dieses Mädchen vor ihm, seine Tochter, und wirkte eigentlich ganz heiter und zufrieden, sogar ausgesprochen lebensfroh.

“Aber warum hat deine Mutter mir nicht geschrieben, dass sie schwanger war? Sie hat doch meinen Brief erhalten? Und meine Adresse hatte sie auch.”

“Sie hat es mir erklärt. Sie wollte nicht, dass du nur widerwillig die Verantwortung für mich übernimmst und dich womöglich verpflichtet fühlst, sie zu heiraten. Sie meint, dass das keine gute Basis für eine Ehe gewesen wäre.”

“Und wie hast du mich überhaupt gefunden?”

“Das war Zufall. Wie leben nämlich auch seit einigen Jahren hier in Düsseldorf, und Mutti hat eines Tages deinen Namen im Branchenverzeichnis entdeckt.” Jetzt wurde sie ganz ernst: “Aber es gibt immer die Möglichkeit, einen Menschen wiederzufinden, nicht wahr? Wo auch immer er sich aufhält. Ich hätte sogar eines Tages ein Detektivbüro beauftragt.”

Er las die Entschlossenheit in ihren Augen, aber dann fiel sein Blick auf die Uhr. Er erklärte Jenny, wobei er sich ziemlich unwohl fühlte, dass heute sein zweiter Hochzeitstag war und seine Frau auf ihn wartete.

Jenny sprang sofort auf: “Oh, da möchte sich dich wirklich nicht länger aufhalten. Aber wäre es vielleicht möglich, dass wir uns wiedersehen? Bitte!”

Er überlegte kurz: “Selbstverständlich werden wir uns wiedersehen, ich gebe dir Bescheid, ja? Bitte, lasse mir deine Telefonnummer da.” Vielleicht ein Abendessen in einem Restaurant, dachte er. Aber zuerst musste er Ordnung in seine Gedanken bringen.

Als sie die Telefonnummer auf dem Blatt Papier notiert hatte, das er ihr mit einem Kugelschreiber zugeschoben hatte, lächelte sie ihn an: “Danke, ich freu’ mich darauf. Ich freue mich sehr darauf! ” Sie war aufgestanden, gab ihm rasch einen Kuss auf die Wange, und schon war sie fort.
_ _ _

“Sie erwarten ein Kind, Frau Hardege.” Der Arzt sah Susanne über seine Brille hinweg lächelnd an.

Susanne empfand zuerst ein immenses Glücksgefühl, aber diese Freude erhielt gleich einen Dämpfer. Was würde Alex dazu sagen? Er, der keine Kinder in die Welt setzen wollte? Und wie konnte das überhaupt passieren? Sie nahm doch die Pille. Aber plötzlich erinnerte sie sich an eine gewisse Nacht. Sie musste etwas gegessen haben, das ihr nicht bekommen war und hatte sich erbrechen müssen. Ja, das war es wohl. Und sie erfuhr es ausgerechnet an ihrem zweiten Hochzeitstag! Wie sollte sie Alex bloss überzeugen, dass ein Kind glücklich sein konnte in dieser Welt? Dass das Leben früher auch nicht einfacher war?

Und nun sassen sich Alex und Susanne im Restaurant an einem hübsch gedeckten Tisch gegenüber, aber alles war anders, als sie es sich ausgemalt hatten. Sie vermieden es, sich anzusehen, sich zu berühren.

Susanne dachte traurig daran, dass Axel erst sehr spät nach Hause gekommen war. Er hatte sich entschuldigt, nicht einmal ein Geschenk für sie zu haben. Er wollte ihr die Ohrringe schenken, die sie so in einem Schaufenster bewundert hatte, aber der Juwelier hatte schon zugehabt. Ein Geschäftsbesuch sei ihm dazwischen gekommen, hatte er ihr erklärt, aber es klang nicht sehr überzeugend.

Aber auch Susanne, die immer so fröhlich, so ausgeglichen war, wirkte abwesend. Mal sah sie ihn lächelnd an, schien etwas sagen zu wollen, um gleich darauf den Blick abzuwenden und die Lippen fest zu verschliessen.

Axel hob das Glas: “Auf unseren zweiten Hochzeitstag. Ich liebe dich, Susanne.” Es klang seltsam hilflos.

“Ich liebe dich auch, Alex.” Ihre Stimme war leise, fast beschwörend.

Er trank auf einen Zug das halbe Glas aus, sie dagegen stellte das ihre nach einem kleinen Schluck wieder auf den Tisch zurück. “Alex, bist du eigentlich immer noch gegen ein Kind?” fragte sie vorsichtig.

Er zuckte zusammen. Warum diese Frage? Wusste sie womöglich von Jenny? Schroffer, als er beabsichtigt hatte, antwortete er: “Aber Susanne, ich dachte, wir wären uns da einig gewesen.” Und gleichzeitig kam er sich schäbig vor. Er war doch längst Vater!

Susanne schwieg, erschrocken über seine heftige Reaktion. Aber beim Anblick des roten Fleisches auf ihrem Teller fühlte sie plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Sie erhob sich rasch, murmelte eine Entschuldigung und stürzte zur Toilette.

Als sie endlich wieder zurück war, fragte er besorgt: “Geht es dir gut, Susanne?”

Sie log nicht einmal, als sie erwiderte: “Ich habe grässliches Kopfweh. Am liebsten würde ich nach Hause gehen und mich ins Bett legen. Es tut mir so leid, Alex, unser Hochzeitstag …” Am liebsten hätte sie geweint. Dieser Abend war eine einzige Katastrophe. Und doch fühlte sie diese immense Zärtlichkeit in sich, die Liebe zu dem Kind, das sie trug, und dessen Vater Alex war, der Mann, den sie aus tiefstem Herzen liebte, so sehr, dass sie sich bereit erklärt hatte, auf Kinder zu verzichten …

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Die Berührung war so zärtlich, richtig etwas verweifelt, dass sie ihm fast alles gesagt hätte, aber schon winkte er den Ober heran, erklärte, zahlte und holte Susannes und seine Weste …
_ _ _

Am nächsten Morgen summte gegen elf das Telefon auf seinem Schreibtisch. Axel hob ab und meldete sich.

“Hier ist Brigitte. Störe ich dich? Deine Sekretärin war so nett, mich durchzustellen, ich habe ihr gesagt, dass ich eine Freundin wäre.”

Brigitte! Was sagt man in einem solchen Fall? Wusste sie von Jennys Besuch? Er bemühte sich um einen neutralen Ton: “Selbstverständlich stört du mich nicht. Wie geht es dir?”

“Gut”, erwiderte sie heiter. “Jenny hat mir von eurer Begegnung erzählt. Ich hoffe, der Schock war nicht zu gross für dich? Vielleicht hätte ich dich vorbereiten sollen?”

“Mach dir keine Sorgen”, erwiderte er schwerfällig. “Für dich muss es ein noch grösserer Schock gewesen sein, als du merktest, dass du ein Kind von mir erwartetest.”

“Es ist ja alles gut gegangen. Verzeih, dass ich damals nicht auf deinen Brief geantwortet habe, aber du hattest mir ja lang und breit erklärt, dass du keine Kinder in diese böse Welt setzen wolltest. Ich wusste nicht, wie du es aufgenommen hättest. Und dann hatte ich Glück, als ich meinem Cord begegnete. Ja, ich hatte Glück.” Ein fröhliches, zärtliches Lachen: “Ich denke gern an unseren Sommer zurück, Alex. Du warst meine erste Liebe. Ich fand dich nur etwas ernst. So, jetzt möchte ich dich aber nicht länger aufhalten. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder?”

“Das wäre nett. Grüss deinen Mann von mir. Ich danke ihm für alles, was er für Jenny getan hat.”

“Er hat es gern getan. Die beiden vergöttern sich geradezu, zumal sie unsere einzige Tochter ist. Tschüss, Alex. Und bitte, grüsse deine Frau.”

“Danke, das werde ich tun. Tschüss, Brigitte.”

Er legte auf - und sah jetzt erst, dass Susanne in der Tür stand. Sie war sehr blass.
Er sprang auf, führte sie zum Sessel, holte ein Glas Wasser.

War sie schon lange da? Was genau hatte sie gehört? Es wurde allerhöchste Zeit, dass er ihr alles erzählte. Hoffentlich war es nicht schon zu spät …

Erst als er geendet hatte, wagte er es, sie wieder anzusehen. Sie lächelte. Er verstand überhaupt nichts mehr.

“Wundert es dich gar nicht, dass ich hier bin?” seufzte sie. “Ich muss dir nämlich auch etwas sagen, und so fällt es mir leichter: Wir werden ein Kind haben, Axel. Ich bin schwanger.”

Erst stand er ganz reglos da, dann ging langsam ein Lächeln über sein Gesicht: “Dein Unwohlsein gestern, das war es also?”

“Richtig. Jetzt trifft es dich ein zweites Mal. Ist das sehr hart?”

Er dachte an seine fröhliche Tochter und musste unwillkürlich lächeln: “Nein, und ich bin selbst darüber erstaunt. Wahrscheinlich fehlte mir bis jetzt nur ein bisschen Optimismus und Lebensfreude.”

“Noch etwas”, sagte sie weich, “ich würde Jenny sehr gern einmal kennenlernen. Am besten laden wir sie zu uns nach Hause ein, vielleicht mit Brigitte und Dr. Heise zusammen?”

“Das würdest du tun, Susanne? Du bist wirklich die Frau meines Lebens. Vielleicht sollten wir auch gleich ein Geschwisterchen für unser Baby einplanen? Es ist doch nicht schön, wenn ein Kind allein aufwächst.”

Nun lachte sie frei heraus “Es sind immer die Menschen, die zuerst dagegen sind, die plötzlich nicht genug bekommen können, das ist schliesslich bekannt!” Sie setzte sich auf seinen Schoss und schlang die Arme um seinen Hals: “Ich bin so froh darüber, und ich liebe dich. Alex, ich liebe dich von ganzem Herzen.”

“Ich dich auch, Liebste. Wartest du auf mich? Ich sage nur schnell Frau Wilkens Bescheid, dass ich heute frei nehme und nicht zu erreichen bin. Wir werden unseren Hochzeitstag nachholen, Susanne. Zuerst bekommst du deine Ohrringe, dann holen wir unser Essen nach – das heisst, wenn es dir gut genug geht.”

“Kein Problem, gestern war ja alles wie verhext, aber jetzt fühle ich mich richtig gut.” Und um es ihm zu beweisen, gab sie ihm einen langen, liebevollen Kuss …

ENDE

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Montag, 11. Februar 2013
Der Sommerhimmel in deinen Augen
Der Galeriebesitzer Rainer Holthaus ist unterwegs, um einen exzentrischen Künstler zu treffen. Als er in ein Unwetter gerät und seinen Wagen zu Schrott fährt, ist er gezwungen, in einem kleinen Hotel zu übernachten. Dort macht er eine erstaunliche Entdeckung …
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Angestrengt starrte Rainer Holthaus durch die Windschutzscheibe. Wie eine weisse Wand rauschte der Regen vor ihm herunter. Die Vernunft gebot, an den Strassenrand zu fahren und abzuwarten, bis das Unwetter vorbei war, aber es waren nur noch wenige Kilometer bis zu Anton Hoga, und der alte egozentrische Künstler war für seine Wutausbrüche und Stimmungsumschwünge bekannt. Er hatte es schon fertiggebracht, ein wichtiges Interview abzublasen, weil der Journalist nicht auf die Minute pünktlich war. Wieviel leichter würde es ihm fallen, ihm, Rainer, die Tür zu weisen. Oder sie ihm gar nicht erst zu öffnen. Nicht Hoga brauchte ihn, sondern er, Rainer, brauchte Hoga. Zumindestens behauptete das Iris. In der letzten grossen Szene, die sie ihm gemacht hatte, hatte sie ihm entgegengeschleudert, dass sie es satt habe, nie wirklich schön mit ihm verreisen zu können. Satt, dass er gerade genug verdiente, um eben über die Runden zu kommen. “Ich habe nie einen Mann gekannt, der sich so dämlich anstellt wie du! Mit 37 Jahren müsstest du es als Kunsthistoriker schon viel weiter gebracht haben. Du könntest Konservator in einem Museum sein, oder dich wenigstens um Künstler kümmern, die dem Zeitgeist entsprechen und mehr Geld einbringen als deine Schützlinge!” Sie war es, die den Termin mit Anton Hoga gemacht hatte. Sie kannte jemanden, der Hoga kannte. Iris war Kommunikationsmanagerin in einem Dienstleistungsunternehmen. Und verdiente dreimal so viel wie er. Rainer seufzte. Er mochte weder Hogas Kunst, noch den Künstler selbst …

Plötzlich glitt der Wagen in einer Kurve weg. Nach einer lähmenden Schrecksekunde versuchte er vorsichtig gegenzusteuern, aber die Strasse war wie ein glatter Spiegel. Er fuhr in Gebüsch, Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe, die zersplitterte. Plötzlich kippte der Wagen nach vorn. Rainer hörte das unangenehme Knirschen von zusammengedrücktem Metall. Danach war alles still …

Vorsichtig kroch er aus dem Wagen. Mit zitternden Knien richtete er sich auf. Glück im Unglück: ihm selbst schien nichts passiert zu sein. Aber das Auto! Iris nannte es ohnehin schon verächtlich eine Rostlaube. Bekümmert starrte er jetzt auf den Blechhaufen.

Im Handumdrehen war er durchnässt. Er kletterte aus dem Graben und stellte sich an der Strassenrand. Niemand kam vorbei, bei dem Wetter blieben wohl alle zu Hause. Seufzend machte er sich auf die Suche nach einer menschlichen Behausung …

Endlich kam er an eine Tankstelle und öffnete die Tür zum kleinen Geschäftsraum. Die Frau an der Kasse sah ihn erschrocken an: “Ja, was ist Ihnen denn passiert?” Sofort lief sie nach hinten und kam mit einem sauberen Handtuch zurück: “Hier, drücken Sie das gegen Ihre Stirn. Sie bluten ja. Ich rufe sofort einen Arzt!”

Im Kreiskrankenhaus wurde die Stirnwunde genäht. Ausser ein paar blauen Flecken und harmlosen Schürfwunden hatte er tatsächlich keine anderen Verletzungen davongetragen. Der Wagen war abgeschleppt worden, und er hatte Anton Hoga angerufen, um sich bei ihm zu entschuldigen. Hoga hatte ihn seinen Ärger spüren und sich nur mit Mühe einen neuen Termin abringen lassen. Morgen. Um dieselbe Zeit. Nein, später ginge es nicht!

Rainers Kraft reichte noch, um sich saubere Kleidung zu kaufen und ein Hotelzimmer zu suchen. Er erzählte der Wirtin von seinem Unfall, um sein Aussehen und das fehlende Gepäck zu erklären.

Das Hotel war einfach, umso mehr überraschte ihn die Schönheit des kleinformatigen Ölgemäldes in seinem Zimmer. Es stellte eine Sommerlandschaft dar, ein goldenes Weizenfeld mit rotglühendem Mohn vor der Wand eines dunklen Waldes, der Kühle auszuatmen schien. Er entzifferte die Signatur: Karen Ewert.
_ _ _

“Heirate mich, Karen! Herrgott, sieh dich doch um in deinem schäbigen Atelier. Du brauchst Platz. Und Material: Leinwand, gute Pinsel und Farben … Du wirst endlich ohne Sorgen malen können!”

Karen Ewert träumte einen Augenblick: Endlich ohne Sorgen malen können … Grosse Bilder auf guter Leinwand, mit guten Farben, ohne Zeitzwang, ohne Kompromisse. Sie hatte Visionen, die sie bis jetzt nicht hatte verwirklichen können. Doch dann verscheuchte sie energisch diese Gedanken. Sie sah den jungen Mann, der vor ihr stand, lächelnd an und schüttelte den Kopf: “Udo, das ist unmöglich. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Du bist zu jung. Such dir eine Frau in deinem Alter!”

“Aber du bist es, die ich liebe. Ich will dich”, erwiderte er heftig.

“Nach ein paar Jahren wirst du anders darüber denken, glaub mir.” Sie seufzte. Wie kam es, dass die Männer sich so heftig in sie verliebten, um sie nachher genauso heftig abzulehnen? Sie dachte an ihren Ex-Mann Tammo. Sein Wunsch, sie auf Händen zu tragen, hatte sich rasch in den Wunsch verwandelt, sie vollständig zu dominieren. Wenn sie sich in ihr Atelier zurückzog, warf er ihr vor, sich ihm zu entziehen. Er war eifersüchtig auf ihre Kunst. Aber um schöpfen zu können, brauchte sie ihren geheimen Garten, zu dem kein anderer, selbst der geliebte Mann nicht, einen Zugang hatte. Nur ein anderer Künstler konnte das verstehen. Oder ein Kunstliebhaber. Tammo war weder das eine noch wirklich das andere gewesen.

Sie fürchtete, dass bei Udo, abgesehen vom Altersunterschied, dieses Problem noch verstärkt auftreten würde: Er war ohne Mutter aufgewachsen. Sein Vater regierte mit eiserner Hand über das Keunertsche Industrie-Imperium und dachte nicht daran, seinem Sohn Verantwortung zu übertragen.

Und dann: Sie mochte Udo, aber sie liebte ihn nicht. “Udo”, sagte sie eindringlich, “noch bevor du eine Frau glücklich machen kannst, musst du deine eigenen Probleme regeln. Wenn du deinem Vater nicht die Stirn bieten kannst und willst, lass dir den Wind der grossen weiten Welt um die Nase wehen. Such dir woanders Arbeit, mach deine Erfahrungen, lerne dich selbst kennen. Nur so kannst deinem Vater zeigen, was in dir steckt. Sonst bist und bleibst du für ihn ein kleiner Junge.”

“Das hab ich mir auch schon gesagt”, erwiderte er trübe, “aber wenn ich weggehe, sehe ich dich nicht mehr.”

Sie gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange und schob ihn kurzerhand aus der Tür: “Geh jetzt, ich möchte arbeiten.”

Sie hatte gerade wieder angefangen zu malen, als es erneut klopfte. Verärgert öffnete sie.

Die blauen Augen der Frau, die vor Rainer stand, blitzten vor Zorn, mit beiden Händen hielt sie die dunklen Haare aus dem Gesicht. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen sinnlichen Mund. Unter dem farbbeklecksten Malkittel erriet man eine schmale Taille und wohlgerundene Formen. Plötzlich lächelte sie, und sofort verwandelte sich ihr Gesicht, wurde weich und liebenwürdig. Eine Vollblutfrau, dachte er. Mit Temperament, und Lust am Leben. Und welch eine Ausstrahlung!

“Verzeihen Sie, ich hielt Sie für jemand anderen.” Ihre Stimme war dunkel wie Samt.

“Für den jungen Mann, der die Treppe herunterstürmte und mich anschnauzte, dass Sie nicht gestört werden wollen?” grinste er.

Sie musterte ihn. Der Mann war gross und sportlich, hatte einfühlsame dunkle Augen und ein enormes Pflaster auf der Stirn. Ihr Ärger über die erneute Störung war seltsamerweise wie fortgeblasen. Sie stellte fest, dass sie nicht unempfänglich war gegen seinen Charme. Nachdenklich nickte sie: “Es tut mir leid, dass ich so grob sein musste mit ihm. Aber es war zu seinem Besten, das hoffe ich wenigstens. Was wünschen Sie, Herr …”

“Holthaus”, stellte er sich vor. “Rainer Holthaus. Ich bin Kunsthändler und möchte Sie fragen, ob Sie an einer Zusammenarbeit interessiert wären.” Eigentlich hatte er nicht mit der Tür ins Haus fallen wollen, hatte sich zuerst ihre Arbeiten ansehen und ausführlich mit ihr sprechen wollen, aber alle Vorsicht, alle Vernunft waren auf einmal beiseitegefegt.

“Kennen Sie denn meine Bilder?” Jetzt war sie es, die misstrauisch war.

“Ich wohne im Hotel zum Schwan, und in meinem Zimmer hängt eine Sommerlandschaft von Ihnen. Die Wirtin hat mir freundlicherweise Ihre Adresse mitgeteilt.”

“Und Sie mögen das Bild?”

“Wäre ich sonst hier?”

“Bitte, sehen Sie sich doch meine anderen Arbeiten an.”

Sie überzeugten ihn restlos. Selbst ihre “Brotarbeit”, wie sie es nannte, wenn sie sich nach den Wünschen gewisser Kunden richten musste, zeugte von ihrer künstlerischen Persönlichkeit. Er zog sein Scheckheft aus der Tasche: “Wieviel Vorschuss brauchen Sie, um, sagen wir mal, zehn grossformatige Bilder zu malen?”

Nach kurzer Überlegung nannte sie ihm eine möglichst bescheidene Summe: “Sie werden das Geld vielleicht nie wiedersehen”, warnte sie ihn.

Er schrieb einen Scheck über die doppelte Summe aus, wischte dabei die Sorgen um sein strapaziertes Bankkonto fort und überreichte ihn ihr zusammen mit seiner Visitenkarte: “Wenn die Bilder fertig sind, bitte, geben Sie mir Bescheid. Ich werde dann den Transport veranlassen.”

Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Karte: Rainer Holthaus’ Galerie, stellte sie fest, befand sich in München. Dann sah sie auf die Summe und murmelte verwirrt: “Das ist zuviel.”

“Sie müssen auch leben können, bis die Bilder fertig sind.”

Wenn er sich vorgestellt hatte, dass sie ihm dankbar um den Hals fallen würde, hatte er sich getäuscht. Mit gerunzelter Stirn fragte sie: “Was versprechen Sie sich davon, Herr Holthaus?”

“Ich helfe mir damit selbst. Weil ich diese Bilder nicht malen kann, möchte ich wenigstens dazu beitragen, dass sie das Licht der Welt erblicken.”

“Sie werden vielleicht enttäuscht sein.”

“Natürlich, das Risiko besteht, aber in diesem Fall zähle nicht ich, sondern Sie.”

Sie sah ihn immer noch prüfend an: “Also gut, helfen wir uns gegenseitig”, sagte sie dann, und das wunderbare Lächeln erschien wieder auf ihrem Gesicht. Dann wurde sie plötzlich wieder ernst: “Haben Sie sich verletzt? Das Pflaster auf Ihrer Stirn …”

“Ich hatte gestern einen Unfall. Meine Schuld. Ich jagte einer falschen Piste nach. Jetzt weiss ich, dass ich meine Seele verkauft hätte. Wissen Sie, manchmal macht das Schicksal seine Sache sehr gut.” Er verbeugte sich nur kurz und verabschiedete sich dann.

Sie brachte ihn bis zur Tür: “Ich weiss nicht, was ich sagen soll, aber … ich freue mich. Ich freue mich unbändig, in Ruhe und ohne dass mir jemand hereinredet, diese Bilder malen zu können, Herr Holthaus.”
_ _ _

Zurück im Hotel merkte er, dass er wieder seinen Termin mit Hoga verpasst hatte. Als er anrief, um sich ein zweites Mal zu entschuldigen, bedachte der alte Mann ihn mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken, ehe er den Hörer auf die Gabel schmiss. Als nächstes telefonierte Rainer mit Iris, um ihr alles zu erklären.

Zu Hause fand er ihren Abschiedsbrief vor: “Es hat keinen Zweck mit uns”, schrieb sie, “wir sind zu verschieden. Ich bin es jetzt leid. Adieu, Rainer. Und bitte, unternimm nichts, mein Entschluss ist gefasst. Ich komme nur noch einmal vorbei, um meine Sachen abzuholen.” Überrascht stellte er fest, dass es nicht einmal weh tat. Zwei Jahre hatten sie zusammen gelebt, zwei Jahre, in denen sie sich geliebt, aber genauso oft bekriegt hatten.

Vier Monate später, als er schon fürchtete, nie wieder etwas von Karen Ewert zu hören, stand sie in seiner Galerie.

“Hier bin ich”, erklärte sie. “Mit zwölf Bildern. Wir sind mit einem Lieferwagen gekommen, er steht draussen.”

Ein junger Mann stiess sich vom Wagen ab, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Der Mann, dem Rainer auf der Treppe begegnet war! “Udo Keunert”, stellte er sich vor.

“Udo war so freundlich, den Transport zu bewerkstelligen”, erläuterte Karen.

Es war, als erhielte Rainers Herz einen Dolchstoss: Dann waren die beiden also doch ein Paar geworden! Nun ja, einer Frau wie Karen lagen natürlich die Männer scharenweise zu Füssen.

Urplötzlich wurde ihm klar, dass er sich in sie verliebt hatte. Schon beim ersten Mal, als er sie sah. Und zwar verliebt wie noch nie in seinem Leben. Nein, auch bei Iris hatte er nicht ein solches Gefühl der Vertrautheit gehabt, dieser Seelenverwandtschaft, dieses Glücks, als hätte sein Herz Flügel bekommen. Umso heftiger war der Schmerz, dass er ihr nun diese Liebe nicht gestehen konnte.

Sie trugen zu dritt die Bilder hinein, stellten sie an die Wand und entfernten die schützende Verpackung. Rainer war so ergriffen, dass er sich räuspern musste: “Frau Ewert, ich kann nicht in Worten ausdrücken, was ich empfinde!”

“Sind sie … nicht gut?” Karen biss sich auf die Lippen.

“Nicht gut?” erregte er sich. “Im Gegenteil, es ist genau das, was ich erhofft hatte. Für mich sind das Meisterwerke!”

“Aber werden auch andere Menschen so denken? Ich habe da so meine Erfahrungen gemacht …”

“Das ist meine Arbeit”, erklärte er und fühlte eine nie gekannte Energie in sich aufsteigen: “Es ist jetzt an mir, den Kontakt herzustellen zwischen diesen Bildern und den Menschen, die für diese Kunst empfänglich sind.”

Karen wandte sich zu dem jungen Mann um und meinte besorgt: “Udo, du musst los!” Und an Rainer gerichtet: “Udo hat ein Vorstellungsgespräch hier in München. Für einen Posten im Ausland.”

Nachdem Udo sich rasch frisch gemacht hatte, brachte Karen ihn zum kleinen Lieferwagen. Als sie wieder in der Galerie zurück war, sagte sie: “Ich hoffe so sehr, dass es klappt. Diese zweijährige Auslandserfahrung wäre sehr wichtig für ihn.”

Rainer hoffte es auch. Aus anderen Gründen. Er war unbeschreiblich erleichtert, dass Karen und Udo nun doch nicht ein Paar waren.

“Ich werde in der Zeit der Neuen Pinakothek einen Besuch abstatten”, fuhr sie fort. “Gegen fünf Uhr holt Udo mich dort ab.”

“Darf ich Sie begleiten?” Rainers Herz klopfte bis zum Hals.

Ihre Augen hatten die Farbe eines Sommerhimmels, und ihr Lächeln war wie das Versprechen einer glücklichen Zukunft, als sie mit ihrer schönsten Samtstimme antwortete: “Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dass Sie es mir vorschlagen, Rainer!”

ENDE

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Samstag, 9. Februar 2013
Tausendundeine Nacht mittags um zwölf
Auf einem Kongress in Marrakesch begegnen Monika und Artur sich wieder. Sie hegen eine tiefe Abneigung gegeneinander, die in der Schule begann und während des Studiums andauerte …
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Dr. Monika Siebert sammelte die Blätter ein und verliess das Rednerpult. Die 33-jährige hübsche Wissenschaftlerin hatte einen Vortrag über die neusten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler gehalten. Der Konferenzsaal leerte sich rasch, es war Zeit für’s Mittagessen. Nur ein Mann blieb zurück, der nun auf Monika zuging und seine schlaksigen Einmeterneunzig zu einer komischen Verbeugung zusammenklappte: “Bemerkenswerter Vortrag, meine Liebe. Welch eine Überraschung, dass wir uns nach all den Jahren hier in Marrakesch wiederbegegnen!”

Monika blies sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und seufzte: “Auf die Überraschung hätte ich gern verzichtet, aber seinem Schicksal entgeht man wohl nicht. Du bist anscheinend das Kreuz, das ich in diesem Leben zu tragen habe.”

“So wie du das meine bist.” Er lachte.

Wütend dachte sie daran, dass er mehr als einmal während der auf den Vortrag folgenden Diskussion versucht hatte, sie mit spitzfindigen und, wie sie zugeben musste, wohlfundierten Bemerkungen aus dem Sattel zu heben. Aber morgen würde sie es ihm schon heimzahlen. Wenn er nämlich seinen eigenen Vortrag hielt. Jawohl.

“Wir könnten zusammen essen und Erinnerungen austauschen”, schlug er vor.

“Danke, ich hab’ was Besseres vor.”

Lieber als mit diesem Ekel verbrachte sie ihre Mittagspause in der wunderschönen und belebten Medina der alten marokkanischen Königsstadt. Kühl nickte sie ihm zu und ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu. Draussen war es heiss, obwohl schon September war. Sie entdeckte ein Taxi, winkte heftig und fing an zu laufen. Und plötzlich glitt sie aus. Noch im Fallen hörte sie ein unheilschwangeres Knacken. Gleichzeitig durchfuhr sie ein so scharfer Schmerz, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

“Monika, was ist passiert?”

Artur stand vor ihr. Schon wieder! “Hol einen Arzt”, fauchte sie, aber er kniete schon vor ihr nieder , untersuchte vorsichtig ihren Fuss. “Tut es weh? Hier?”

“Autsch, ja! Ich will einen Arzt!”

“Ich bin einer, falls dir das entfallen sein sollte”, erklärte er ungerührt.

“Taxi”, rief er den Umstehenden zu, dann wandte er sich wieder an Monika: “Das ist eine Fraktur, wir müssen ins Krankenhaus.”

Geschickt fixierte er den Bruch, dann griff er unter Monikas Axeln und Kniekehlen und hob sie auf.

Verwundert stellte er fest, dass sie viel kleiner und feingliedriger war, als sie immer auf ihn wirkte. Leicht wie eine Feder kam sie ihm vor. Unvermutet stieg ein Gefühl der Zärtlichkeit in ihm auf, das ihm jedoch völlig unangebracht erschien. Doch nicht bei Monika, dieser Kratzbürste!

Richtig bemerkte sie schon ironisch: “Ich hätte nie geglaubt, dass du es eines Tages schaffst, jemanden hochzuheben.”

“Tja, ich treibe seit ein paar Jahren richtig Sport”, erklärte er nicht ohne Stolz.

“Ausgerechnet du?” Trotz der Schmerzen musste sie kichern.

“Ja, ich”, konterte er verletzt. “Und wenn du noch einmal lachst, lasse ich dich fallen.”

Auch sie wurde wieder wütend: “Verdammt, ich hab dich nicht gebeten, mir zu helfen!”

“Und wie hättest du dich hier verständlich gemacht? Sprichst du etwa Französisch?”

“Auf Englisch wär’s bestimmt auch gegangen”, gab sie schnippisch zurück.

Es war, als hätte sich ihr Gewicht plötzlich verdoppelt. Ausserdem war ihm warm. Er fühlte, wie ihm der Schweiss am Körper hinunterlief. “Du mit deiner Arroganz”, knirschte er.

“Von Arroganz kannst du gerade reden! Und überhaupt, du kannst doch auch nicht Französisch. In der Schule hatten wir Englisch und Latein.”

Er verhandelte schon mit dem Taxifahrer. Auf Französisch. Umsichtig verfrachteten sie Monika auf den Hintersitz.

“Geht es so mit dem Fuss?” erkundigte Artur sich förmlich.

“Es geht”, nickte sie gnädig.

Artur setzte sich nach vorn zum Chauffeur. Vorsichtig fuhr das Taxi an.

“Also, wie kommt es, dass du plötzlich Französisch kannst?” insistierte Monika.

Er drehte sich um und zeigte ihr eine lange Nase “Ich hab’s gelernt, aus reiner Freude. Ätsch.”

Einen Augenblick sahen sie sich an wie zwei Kampfhähne, dann mussten sie lachen. “Wir benehmen uns wie Kinder”, seufzte er. “Kaum sehen wir uns wieder, graben wir das Kriegsbeil aus.”

“Diesmal hast du angefangen. Niemand hat mich während der Disklussion so scharf angegriffen wie du!”

“Das wird dir zu noch mehr Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen verhelfen. Du hast mir nämlich souverän Kontra gegeben”, grinste er.

“Tu’ nicht so, in Wirklichkeit wolltest du mich blamieren.”

“Wenn das bloss so einfach wäre!”

Er blieb bei ihr, als ihr Fuss geröntgt und eingegipst wurde. Nachher versuchte sie, ein paar Schritte mit den Krücken zu gehen, die Artur in der Zwischenzeit für sie aufgetrieben hatte. Es sah gefährlich wackelig aus, aber als er ihr helfen wollte, schob sie seine Hand fort: “Ich will’s allein schaffen, Artur.”

“Wie immer”, ärgerte er sich.

Im Hotel stellten sie fest, dass ihre Zimmer nebeneinander lagen. Artur half ihr, sich auf dem Bett auszustrecken, schob ein Kissen in ihren Rücken und stellte auf ihre Bitte das Telefon neben sie. Dann wandte er sich zum Gehen: “Wenn du mich brauchst, klopf an die Zimmerwand, ja?”
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Sogleich wählte sie Volkers Nummer. Er hatte es eilig: “Wie geht’s Liebling? Bitte, fass dich kurz, ich muss zu einer Besprechung.”

“Volker, mir ist etwas ganz Dummes passiert. Ich hab mir den Fuss gebrochen. Du hast recht, ich muss mich sehr ungeschickt angestellt haben. Sag, könntest du mich hier in Marrakesch abholen? Unmöglich? Du bist unabkömmlich in der Firma? Ich soll die Versicherung einschalten? Natürlich, du hast ja recht. Wozu bezahlen wir die Beiträge. Ich werde mich gleich darum kümmern, mach’ dir keine Sorgen. Ich …”

“Ich liebe dich”, hatte sie sagen wollen, aber Volker hatte schon aufgelegt.

Volker. Seit vier Jahren lebten sie nun schon zusammen, aber bis jetzt wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn um etwas Derartiges zu bitten: Sie hier abzuholen. Zwischen ihnen bestand ein stillschweigendes Abkommen, so wenig wie möglich auf dem anderen zu lasten. Sie machten beide Karriere. Sie in der medizinischen Forschung, er als Manager. Selbst für’s Heiraten fanden sie keinen freien Termin.
Was war mit ihr los? Woher kam der plötzliche Wunsch, mehr zu sein für einen Mann als die immer vernünftig reagierende, verständnisvolle Partnerin? Wieso kam sie sich auf einmal so einsam vor? Und ihr Leben so steril?

Nach einigem Nachdenken glaubte sie den Grund gefunden zu haben. Natürlich, sie stand noch unter dem Unfallschock! Und dann der Vortrag heute morgen. Der ganze Tag war ganz einfach ungeheuer anstrengend gewesen.

Es klopfte. Artur steckte den Kopf durch die Tür: “Ich wollte wissen, ob ich etwas für dich tun kann.”

“Danke, Artur, aber ich komme jetzt gut allein zurecht.”

Er kam herein, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich: “Warum hast du eigentlich diese Wut auf mich?”

“Und du auf mich?” Wieder dachte sie an seine Angriffe nach ihrem Vortrag.

“Stell dir vor, ich habe gerade darüber nachgedacht. Vor achzehn Jahren haben unsere Wege sich zum ersten Mal gekreuzt, stimmt’s?”

“Genau. Ich kam neu in die elfte Klasse, und ich erinnere mich noch heute an deine dämliche Überheblichkeit.”

“Das war Selbstschutz”, gestand er. “Im Wirklichkeit hatte ich Komplexe. Ich war mager, ein langer Lulatsch, überhaupt kein sportlicher Typ. Das hast du mir ja promt unter die Nase gerieben.”

“Und du hast mich damals mit meinen grossen Füssen aufgezogen”, konterte sie nachtragend. “Und dass ich so lange keinen Busen hatte. Platt wie ein Bügelbrett, waren deine Worte.”

“Ich glaubte, dass ich niemals Erfolg haben würde bei den Frauen. Und was noch schlimmer war, ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.”

“Dabei standen doch gerade dir alle Möglichkeiten offen”, erregte sie sich. “Du bist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Mit 18 bekamst du einen Sportwagen. Gott, hast du damit angegeben! Du warst das Paradebeispiel eines verwöhnten Papasöhnchens. Aber vor allem störte mich an dir, dass du so faul warst, dass du deine Chancen nicht nutztest. Im Gegenteil zu dir konnte ich nur auf mich selbst zählen. Meine Eltern waren gegen das Abitur und ein Studium. Weil ich ein Mädchen war. Ich sollte ihnen in der Gastwirtschaft helfen.”

“Faul war ich dann ja nicht mehr lange. Ich hab wie ein Irrer geschuftet, nur, um es dir zu zeigen. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich schliesslich ein augezeichnetes Abitur gemacht habe.” Er grinste über das ganze Gesicht, und auf einmal sah er ungeheuer liebenswert aus. Monika entschied jedoch, dass ihre Augen und Sinne ihr einen Streich spielen mussten: Artur Overkamp konnte nicht liebenswert sein!

“Wir haben es mit der gleichen, ausgezeichneten Durchschnittsnote geschafft”, fuhr Artur nichtsahnend fort. “Ich weiss noch, dass mich der Schlag traf, als wir uns schon im Herbst wiederbegegneten. Wir hatten uns für’s selbe Studium eingeschrieben: Medizin. Und das auch noch an derselben Uni. Und unser Wettkampf ging weiter. Mal warst du die bessere, mal ich. Eigentlich haben wir es ganz schön weit damit gebracht, findest du nicht?”

Sie nickte nachdenklich. Artur war dabei, sich als Herzchirurg einen Namen zu machen, und von ihr waren schon mehrere Beiträge in Fachblättern erschienen.

“Bist du zufrieden mit deinem Leben, Artur? Ich weiss nicht einmal, ob du verheiratet bist.”

“Nein, ich bin immer noch ledig. Und du?”

“Ich lebe mit einem Mann zusammen, einem Industriemanager.”

“Liebst du ihn?”

Sie blieb ihm zu ihrer eigenen Überraschung die Antwort schuldig. Bis jetzt hatte sie es geglaubt, jetzt war sie nicht mehr sicher. Schuld daran waren diese eindringlichen blauen Augen, die sie nicht losliessen.

Ein leichter Schwindel ergriff sie, und plötzlich spürte sie ein unglaublich süsses Ziehen in ihrem ganzen Körper. Erschrocken schluckte sie.

“Monika, ist dir klar, dass wir seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen haben? Es ist Essenszeit. Wir könnten uns etwas aufs Zimmer bringen lassen. Soll ich unten anrufen?”

Sie stellte fest, dass sie nichts sehnlicher wünschte, als den Abend mit Artur zu verbringen, aber morgen schon könnte es ihr leid tun, ihn so nah an sich hatte herankommen zu lassen: “Nein, Artur, iss du mit den anderen, ich esse hier oben, aber allein. Ich muss mich auch noch mit der Versicherung in Verbindung setzen, damit sie mich morgen zurückfliegen.”

Sie wollte sich von der Versicherung zurückholen lassen? Was tat denn dieser Manager, mit dem sie zusammenlebte? Konnte er sie nicht abholen? Wenn der Dummkopf nicht dazu imstande war, würde er, Artur, dafür sorgen, dass sie wieder heil nach Hause kam.

Plötzlich wurde ihm schmerzlich bewusst, wie schön sie war mit ihrem beweglichen Mund, der charaktervollen Nase und den ausdrucksstarken nussbraunen Augen, in denen so viel Wärme und Anteilnahme lag - wenn sie nicht gerade mit ihm stritt. Sein Blick glitt von ihrem langen, grazilen Hals zu den nicht sehr grossen, aber festen runden Brüsten unter dem leichten Kleid. Sie gefielen ihm. Unendlich. Es tat ihm leid, sie je mit einem Bügelbrett verglichen zu haben. Er spürte den unwiderstehlichen Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass es so viel anderes im Leben gab als den unsinnigen Krieg, den sie führten. Die Liebe. Und Kinder. Ein Haus mit einem Garten voller Vögel und Blumen. Einen Baum mit einer Schaukel …

Und zu allem Überfluss stellte er fest, dass es ihm nicht das geringste Vergnügen bereiten würde, morgen ohne sie seinen Vortrag zu halten. Für wen hatte er denn so viel Sorgfalt darauf verwendet, wenn nicht für sie? Weil er wusste, dass sie an dieser Tagung teilnehmen würde?

Sie schien seine Gedanken erraten zu haben: “Freu dich nicht zu früh. Deinen Vortrag höre ich mir noch an. Und mach dich bei der Diskussion auf etwas gefasst!”

“Wunderbar”, rieb er sich erfreut die Hände. “Ich hole dich also morgen früh ab. Wenn es sein muss, trage ich dich bis zum Konferenzsaal. Und wenn du dann immer noch nach Hause willst, fliegen wir zusammen zurück. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich alleine mit allem klarkommen lasse?”

Ihr war auf einmal richtig fröhlich zumute: “Bis morgen also. Und rechne nicht auf Gnade!”
_ _ _

Wie versprochen holte er sie am nächsten Morgen ab und wich nicht einen Millimeter von ihrer Seite, als sie auf ihre beiden Krücken gestützt langsam den Garten bis zum Konferenzgebäude durchquerte. Ihr Mut und ihre Art, die Schmerzen zu ignorieren, imponierten ihm.

Und als er dann seinen Vortrag hielt, sah er nur sie …

Atemlos und erhitzt standen sie sich nachher gegenüber. “Na, wie war ich?” lachte sie ihn an.

“Hervorragend!”

“Du auch”, sagte sie weich. “Und was machen wir jetzt?”

“Wir essen fürstlich zu Mittag. Ich lade dich ein!”

Sie sassen im blühenden Innenhof des Hotels, in dessen Mitte ein erfrischender Brunnen plätscherte. Leise arabische Musik liess eine Welt wie aus Tausendundeiner Nacht erstehen. Monika stellte fest, dass sie sich so wohl fühlte wie noch nie in ihrem Leben. Mehr noch, sie fühlte sich beschützt, geborgen, in Sicherheit.

Und das bei Artur! Und es gefiel ihr! Der junge marokkanische Keller brachte die gegrillten Hummer. Sie schmeckten köstlich. Dazu tranken sie einen himmlischen Sancerre.

“Nach wem heisst du eigentlich Artur?” wollte Monika wissen. “Ich meine, der Name ist doch nicht gerade sehr geläufig heute, obwohl ein legendärer König so hiess.”

“Ich heisse nach meinem Grossvater so. Früher mochte ich den Namen nicht, aber Opa war ein lebensfroher und warmherziger Mann, und heute wäre ich gern so wie er.”

“Aber das bist du doch schon, Artur.”

“Findest du das wirklich?”

Sie nickte bestimmt. Und staunte, dass Artur ihr jetzt auch noch lebensfroh und warmherzig vorkam.

Nach dem Nachtisch, der aus sonnenreifen, exotischen Früchten bestand, brachte er sie bis zu ihrem Zimmer. “Du möchtest dich sicher etwas ausruhen …”

Sie sah ihn lächelnd an: “Kommst du mit herein?” bat sie leise.

Er hob sie behutsam auf, trug sie zum Bett und legte sie darauf nieder, und als er sich hinunterbeugte und sie küsste, gewann er zu all den anderen Eigenschaften auch noch die eines ausserordentlich zärtlichen und leidenschaftlichen Mannes hinzu …

ENDE

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Donnerstag, 7. Februar 2013
Karneval in Nizza
Die junge Sophie Gerber wird von ihrem französischen Patenonkel nach Nizza in seine Prachtvilla eingeladen. Hier begegnet sie Alain, doch ihr Schicksal entscheidet sich erst beim Karneval ...
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"Natürlich fährst du", ermunterte Kristina ihre zögernde Freundin. "Eine Einladung nach Nizza, zur Karnevalszeit, und noch dazu von einem Industriekapitän, so etwas schlägt man doch nicht aus!"

"Aber ich kenne ihn doch gar nicht", wandte Sophie ein.

"Er ist dein Pate. Du kannst doch nichts dafür, dass er sich erst jetzt wieder an dich erinnert. Wie kommst du eigentlich zu einem französischen Paten?"

"Pierre Duteil hat die beste Freundin meiner Mutter geheiratet. Die beiden haben dann meine Patenschaft übernommen., aber Ingrid Duteil starb, als ich drei Jahre alt war. Onkel Pierre soll sehr unter ihrem Tod gelitten haben, und mich hat er natürlich darüber ganz vergessen. Nun haben meine Eltern ihn letztes Jahr besucht, und dabei hat er sich wieder an mich erinnert. Daher die Einladung."

"Willst du ihn dir nicht gleich angeln?" fragte Kristina mit genüsslichem Augenaufschlag.

Sophie lachte. "Er ist doch mein Pate, selbst wenn wir nicht verwandt sind miteinander, und ausserdem ist er schon etwas alt. Aber gut sieht er aus, sieh' mal!" Sie ging zu ihrem Schreibtisch, nahm ein Foto aus einem Briefumschlag und zeigte es der Freundin: "Er hat es mir geschickt, damit ich ihn am Flughafen erkenne."

Kristina spitzte bewundernd ihren Mund: "Graue Schläfen, ein vornehmes Gesicht ... du, das ist einer von den Kavalieren der alten Schule, die dir aus dem Mantel raus- und in den Mantel reinhelfen, die dir im Restaurant den Stuhl zurechtrücken und die dir Hand küssen. Toll! Hat er keinen Sohn?"

"Hat er, aber der macht ein Praktikum in den Vereinigten Staaten. Sag' mal, warum willst du mich unbedingt verheiraten?"

"Damit du die Wohnung räumst", lachte Kristina und betrachtete verliebt ihren Verlobungsring. Die Freundinnen teilten seit zwei Jahren eine Wohnung "wie es sie eigentlich gar nicht gibt", pflegte Kristina zu sagen. Preiswerte Miete, gute Lage, drei hübsche Zimmer und ein grosser, sonniger Balkon.

"Ach nee", tat Sophie empört, "ich dagegen rechne schwer damit, dass dein Sören bald etwas Passendes für euch beide findet und ich mich endlich hier ausbreiten kann!"

Sie lachten beide. Sie waren ja ein Herz und eine Seele, und das Geplänkel gehörte eben dazu.

"Wenn du noch einen anderen guten Grund brauchst", sagte Kristina, "dann denk daran, dass du Übersetzerin bist. Du bist es deinen Arbeitgebern schuldig, deine Französischkenntnisse mal wieder aufzufrischen."

"Okay, ich fahre ja", meinte Sophie, "und im Grunde freue ich mich ja auch darauf."
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Am Flughafen von Nizza erlebte sie jedoch eine Enttäuschung: Niemand erwartete sie. Während Sophie, das Erkennungsfoto in der Hand, unruhig in der Halle auf- und abging, kamen ihr grässliche Zweifel. Pierre Duteil erinnerte sich nicht mehr an seine Einladung! Er würde aus allen Wolken fallen, wenn sie jetzt plötzlich bei ihm auftauchte! Am liebsten hätte sie das nächste Flugzeug zurück nach Hamburg genommen, aber dann fiel ihr Blick auf ihren Koffer. Sie hatte sich für diesen Ausflug in die "grosse Welt" auf für ihre Verhältnisse geradezu ruinöse Weise neu eingekleidet, ausserdem wartete Kristina gespannt auf ihren Bericht. Nein, zurück konnte sie nicht mehr, und so beschloss Sophie nach einer dreiviertel Stunde vergeblichen Wartens, ein Taxi zu nehmen.

Das Taxi bog links ab und fuhr zum Hügel von Cimiez. "Hier leben die reichen Leute. Alte Paläste, grosse Villen. Geld, viel Geld", erklärte der Taxifahrer und hielt schliesslich vor einem imposanten Tor: "Voilà, Mademoiselle, wir sind angekommen."

Sophie drückte mutig auf den Klingelknopf neben dem Tor. Ein junger Mann in grüner Gärntnerschürze näherte sich von der anderen Seite, die Schere noch in der Hand, und fragte: "Vous désirez? Sie wünschen?"

"Ich bin Sophie Gerber. Monsieur Duteil erwartet mich", erwiderte sie auf Französisch.

Der junge Mann starrte sie an, schlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn und stöhnte: "Mon Dieu, was werde ich zu hören bekommen! Ich sollte Sie vom Flughafen abholen!"

Er öffnete rasch die Tür neben dem grossen Einfahrtstor und griff diensteifrig nach ihrem Koffer: "Bitte, kommen Sie herein, Mademoiselle Gerber. Ich werde Sie ins Haus führen."

Beeindruckt folgte Sophie dem Gärtner durch die grosse Marmorhalle und dann eine schöne Treppe mit geschwungenem Gelände hinauf. Der junge Mann öffnete eine Tür, liess ihr höflich den Vortritt und stellte ihr Gepäck ab.

"Ich nehme an, Sie möchten sich etwas frisch machen? Monsieur Duteil wird in etwa einer Stunde hier sein, er musste an einer wichtigen Beprechung teilnehmen und konnte Sie deshalb leider nicht selbst abholen. Und ich ..." er grinste sie mit entwaffnendem Charme an, " ...wenn ich viel Arbeit im Garten habe, vergesse ich gewöhnlich alles andere. Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung."

"Das kann ruhig unter uns bleiben", schlug Sophie vor und fügte freundlich hinzu: "Von mir aus können Sie wieder in den Garten gehen, Sie haben sicher noch etwas zu tun?"

"Vielen Dank, Mademoiselle." Er verbeugte sich höflich und schloss leise die Tür hinter sich.

Neugierig sah Sophie sich im Zimmer um. Sie entdeckte ein grosses französisches Bett mit einer aus Baumwollgarn gehäkelten weissen Überdecke, einen runden Mahagonitisch mit einem Blumenstrauss, zwei kleine Chinzsessel und ein angrenzendes Waschkabinett mit WC und Dusche. Sie trat ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein grosser Mimosenbaum blühte nicht weit von ihr an der Südseite des Hauses, und der Gärtner war dabei, die Rosensträucher zu beschneiden, die einen gepflegten Rasen zum Haus hin begrenzten. Sophie atmete mit Genuss die laue, mit Mimosenduft beladene Luft ein und freute sich auf einmal, hier zu sein. Sie beschloss, rasch zu duschen.

Eine halbe Stunde später durchquerte sie das immer noch stille Haus und trat schliesslich zögernd in den Garten hinaus. Der Gärtner war jetzt mit Jäten beschäftigt. Sie räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen; der Gärtner richtete sich auf, sah sie bewundernd an und sagte galant: "Zauberhaft sehen Sie aus, Mademoiselle."

"Vielen Dank", lächelte sie zurück, "Monsieur Duteil ist wohl immer noch nicht da?"

Er schüttelte bedauernd den Kopf. "Wollen Sie im Erkerzimmer auf ihn warten?"

"Darf ich hier bleiben?" fragte sie, setzte sich auf das Mäuerchen der Terrasse und fuhr fort: "Es ist so schön hier, so grün mitten im Februar. Und ich liebe Pflanzen. Leider habe ich selbst keinen Garten, nur einen Balkon."

Er wischte sich die Hände an seiner grünen Schürze ab, zog ein Foto aus der Tasche und reichte es ihr: "Ich frage mich, ob ich Sie überhaupt erkannt hätte am Flughafen", grinste er. "Sie haben sich mächtig verändert seitdem. Schauen Sie mal."

Sie betrachtete verblüfft die Erstklässlerin mit der grossen Schultüte im Arm, die schüchtern in die Kamera lächelte. "Tatsächlich", murmelte sie amüsiert, "es war wohl das letzte Foto von mir, das Monsieur Duteil bekommen hat."

Er steckte es wieder ein und machte sich erneut an die Arbeit, und diesmal half Sophie ihm. Sie waren noch einträchtig dabei, Unkraut zu zupfen, als eine grosse schwarze Limousine vorfuhr und einmal kurz hupte. Der junge Mann sprang erschrocken auf, sah so aus, als wollte er etwas sagen, verzichtete aber darauf, als die Wagentür klappte, und ging mit grossen Schritten auf das Haus zu.

Verwundert sah Sophie ihm nach. Sie überlegte noch, ob sie ihm folgen sollte, um sich die Hände zu waschen, da öffnete Pierre Duteil schon die Gartentür und kam lächelnd auf sie zu: "Du bist Sophie. Willkommen in Nizza und in meinem Haus."

Er küsste sie auf beide Wangen, betrachtete dann ihre erdigen Hände und schmunzelte: "Hat Alain dich wohl schon im Garten angestellt?"

Alain hiess also der Gärtner. "Ja", lachte Sophie, "wir haben zusammen Unkraut gejätet."

"Der Garten ist nun einmal seine Leidenschaft, wie die meine auch. Es ist uns gelungen, eine paar ganz seltene Pflanzen hier heimisch zu machen. Hast du Lust, einen Rundgang zu machen? Ich tue es immer, wenn ich aus der Bank komme, es entspannt mich."

Sie stimmte gern zu, und er griff nach ihrem Arm, um sie zu führen. Jeden Baum, jeden Strauch, jede Blume wusste er mit Namen zu nennen. Den lateinischen, den französischen und manchmal auch den deutschen. "Den hat mir meine Frau beigebracht, die Freundin deiner Mutter. Auch sie hat diesen Garten geliebt."

Er drückte ihren Arm und meinte entschuldigend: "Eine verlorene grosse Liebe tut ein ganzes Leben lang weh, selbst wenn die Zeit darüber hinweggeht und das Bild verblasst. Aber wir sollten von anderen Dingen sprechen. Sieh dir den blühenden Mimosenbaum an. Er ist der Vorbote des Frühlings. Gibt es etwas Schöneres mitten im Winter?"

Sie hatten sich langsam dem Haus genähert und betraten einen grossen Erkerraum. Sophie sah den Umriss eines jungen Mannes, der am Fenster stand und sich nun umwandte. Es war Alain, der Gärtner! Aber jetzt trug er graue Flanellhosen und einen gutsitzenden Blazer über einem offenen, sportlichen Hemd. Er warf der jungen Frau einen bittenden und zugleich amüsierten Blick zu und sagte liebenswürdig: "Guten Abend, Papa."

Wie Schuppen fiel es Sophie von den Augen. Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Warum hatte sie sie nicht eher bemerkt? Und gleichzeitig war sie wütend. Wie hatte Alain sie in dem Glauben lassen können, er sei der Gärtner! Und wieso war er hier? Warum war er nicht in Amerika?

Pierre Duteil beantwortete ahnungslos ihre letzte Frage: "Alain hat überraschend Urlaub bekommen. Das ist ein glücklicher Zufall, nicht wahr? Ich hatte nämlich schon Sorge, dass du dich allein mit mir langweilen würdest."

"Sophie, Papa, wie wäre es mit einem Aperitif," schlug der junge Mann vor.

Ein wenig später sassen sie bei einem Glas Bourbon, den Alain aus Amerika mitgebracht hatte, beisammen. Alain hatte ein Tellerchen schwarze Oliven aus der Küche geholt und erklärte Sophie: "Das ist eine Spezialität von Fanny, unserer Köchin. Sie bereitet sie nach einem alten Familienrezept zu."

"Wo ist Fanny überhaupt?" erkundigte sich Pierre Duteil.

"Sie besucht ihre Schwester im Krankenhaus. Ich hatte ihr vorgeschlagen, dass wir mit Sophie auswärts essen, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie hat Sophie zu Ehren schon einen Canard à l'orange vorbereitet. Fanny gehört mit zur Familie", erklärte er der jungen Frau. "Ihr Mann ist Gärtner, ein richtiger, der sich auch um unseren Garten kümmert. Aber wenn ich da bin, pfusche ich ihm gern ins Handwerk."

"Mit viel Sachkenntnis, wie ich gesehen habe", erwiderte sie etwas spitz. Ganz hatte sie ihm noch nicht verziehen, sie hinters Licht geführt zu haben.
_ _ _

"Bist du mir noch böse?" fragte er Sophie am nächsten Morgen, als sie gemeinsam durch die Altstadt von Nizza schlenderten. "Ich weiss, es war sehr unhöflich von mir, mich nicht gleich vorzustellen. Aber ich bin immer sehr stolz, für einen Gärtner gehalten zu werden. Management, Gärtner und Schauspieler, das waren meine Lieblingsberufe. Leider bin ich nur Manager geworden. Das andere muss ich nun als Dilettant ausüben." Er sah sie mit einem Lächeln aus den Augenwinkeln an und fügte noch hinzu: "Ich wusste ja auch nicht, welch eine Art Mensch du bist. Es ist mir ein Gräuel, mit arroganten Damen im Salon Konversation machen zu müssen, wenn ich statt dessen im Garten etwas tun kann. Aber ehrlich: Als du mir dann so spontan geholfen hast und gar nicht eingebildet warst, hatte ich meine Schauspielerei schon bereut. Es war nur plötzlich zu spät, um dir die Wahrheit zu gestehen."

"Also gut", lachte sie, "ich will nicht nachtragend sein. Der Tag ist auch zu schön dafür. Aber als Schauspieler hast du eine echte Gabe."

Er machte lächelnd eine Verbeugung, als dankte er für Applaus.

Lustig flatterte die Wäsche auf den Balkonen der rosa- und ockerfarbenen Häuser, ein Duft von Ratatouille und Olivenöl hing in der Luft. Das Viertel war hügelig, und die beiden jungen Leute erklommen Treppen, stiegen andere wieder hinunter, landeten in Sackgassen und auf stillen kleinen Plätzen, bis Alain erklärte, dass sie beide Hunger hätten, und Sophie in ein südländisches Restaurant führte.

Nach dem schmackhaften Essen gingen sie durch eine elegante Geschäftsstrasse. Vor einem Ledergeschäft blieb Sophie stehen. Ihre Riementasche war das einzige Stück an ihr, das nicht neu war, und man konnte sie getrost mit "abgewetzt" bezeichnen. Und hier im Schaufenster lag nun die Tasche ihrer Träume. Teuer, leider sehr teuer, wie sie nach einem Blick auf das Preisschild feststellte. Aber zum Teufel mit der Sparsamkeit, die würde sie sich jetzt gönnen.

Alain war neben ihr stehen geblieben, und sie sagte: "Ich habe nie eine schönere Tasche gesehen, die werde ich mir jetzt kaufen."

"Lass sie mich dir schenken, als Versöhnungsgeschenk!"

"Kommt nicht in Frage. Ausserdem bin ich dir doch gar nicht mehr böse." Und um sicher zu sein, dass er nicht doch darauf bestehen würde zu bezahlen, befahl sie: "Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder zurück!"

Sie liess sich von der eleganten Verkäuferin die Tasche vorlegen, strich über das feine Leder, öffnete sie und nickte: "Ich nehme sie."

Die Verkäuferin sah Sophie zweifelnd und etwas von oben herab an, nannte den Preis und betonte: "Sie ist wirklich sehr teuer."

Arrogante Person, dachte Sophie ärgerlich, liess sich aber nichts anmerken und schrieb nur kühl den Scheck aus.

Die Verkäuferin entschloss sich endlich, die Tasche einzupacken, und Sophie sah sich nach Alain um. Der junge Mann stand in der Tür, sah sie fragend an, und plötzlich kam Sophie eine Idee. Sie machte ihm ein Zeichen und säuselte: "Alain, bitte, tragen Sie doch das Paket."

Alains Augen leuchteten auf, er reagierte sofort und absolut beispielhaft. Eine knappe Verbeugung zu Sophie hin, ein herablassender Blick auf die verblüffte Verkäuferin, dann nahm er gnädig das Paket aus ihren Händen entgegen. Er öffnete Sophie die Tür, liess sie vorausgehen und schloss sie wieder hinter ihr. Erst ein paar Meter weiter fingen sie gleichzeitig an zu lachen: "Fabelhaft", brachte er schliesslich heraus, "Grosse Dame mit Chauffeur!"

"Nicht wahr?" lobte sie sich mit angemessener Bescheidenheit, "ich bin eine gelehrige Schülerin!"
_ _ _

Sie verstanden sich immer besser. Während Pierre Duteil seine Tage in der Bank verbrachte, machten sie in Alains kleinem Renault Ausflüge in die Umgebung. Wann merkte Sophie zum ersten Mal, dass sie sich in den gutaussehenden jungen Mann verliebt hatte? Vielleicht an dem Nachmittag, an dem sie an einer Steinballustrade lehnten und hinabsahen auf die roten Dächer von Nizza und die in der Sonne funkelnden Baie des Anges. Die junge Frau mochte nicht sprechen, die genoss den schönen Ausblick, und auch Alain wurde stiller und stiller.

Sie schwiegen lange, dann wandte Alain Sophie sein Gesicht zu, sah sie lange an und sagte: "Ich liebe dich, Sophie."

Diese unerwartete Liebeserklärung kam zu schnell, zu unerwartet. Sophie war so überrascht, dass sie ohne zu überlegen konterte: "Übst du eine neue Rolle?"

Alain fuhr sichtlich verletzt zurück, stiess sich von der Balustrade ab und ging wortlos zum Wagen zurück. Zu spät merkte Sophie, wie ernst er seine Worte gemeint hatte. Ratlos biss sie sich auf die Lippen. Sie empfand Mitleid mit dem jungen Mann und war ärgerlich auf sich selbst, auf ihre ungeschickte Bemerkung. Aber es war vor allem ein ganz neues Gefühl, das sich in ihr zu regen begann, als sie sich den Ausdruck seiner auf sie gerichteten Augen ins Gedächtnis zurückrief.

Langsam folgte sie ihm, setzte sich still neben ihn. Ohne sie anzusehen, sagte er: "Geschieht mir ganz recht. Es ist das erste Mal, dass ich etwas ganz ernst meine, und schon bekomme ich einen Korb!"

Sie hätte ihm gern gesagt, wie leid ihr ihre voreilige Antwort tat, aber dieses Geständnis wollte einfach nicht über ihre Lippen kommen.

Am nächsten Tag war Alain wieder ganz der alte, und Sophie konnte nur mit Mühe verbergen, wie enttäuscht sie darüber war. Sie besuchten die römischen Ruinen, fuhren von dort aus zum Mont Boron im Osten der Stadt. Die Sonne ging als blutroter Ball im Westen unter, tauchte die Felsen in rosa-violettes Licht.

Sophies Blick streifte über die mit Seekiefern, mit Oliven- und Zitronenbäumen bewachsenen Hügel, über die die knospenden Stechginster einen gelben Hauch legten. Inständig hoffte sie, dass Alain sich erneut ein Herz fassen würde, aber der hob schliesslich nur einen Stein vom Boden auf, wog ihn eine ganze Weile nachdenklich in der Hand und schleuderte ihn dann weit ins Tal. "Fahren wir?" fragte er dann und ging, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf den Renault zu.

Wortlos folgte sie ihm und stieg ein. Sie fuhren heim, ohne miteinander zu reden. Es war ein bedrücktes Schweigen.
_ _ _

Der berühmte Karneval von Nizza war der äussere Höhepunkt und gleichzeitig das Ende ihres Urlaubs. Während sich vor Sophies und Alains Augen der bunte Zug der blumengeschmückten Wagen unter einem lustigen Konfetti-Regen vorwärts bewegte, während begeisterte Kinder und fröhliche Erwachsene die Karnevalsgestalten in gestreiften Hosen und abenteuerlichen riesigen Pappköpfen mit Beifall überschütteten, während musiziert und gelacht, gegessen und getrunken wurde und sich über der Stadt ein azurner, wolkenloser Himmel spannte, fühlte Sophie, wie ihr das Herz immer schwerer wurde.

Morgen früh würde sie nach Hamburg zurückfliegen, und auch Alain wurde in ein paar Tagen in Amerika zurückerwartet. Es war möglich, dass er dort eine andere Frau kennenlernte. Eine Frau, die seine Liebeserklärung auf andere Weise entgegennehmen würde als sie. Mit keinem Wort hatte er ihren kurzen Wortwechsel an der Balustrade wieder erwähnt, und weil auch sie nicht darauf zurückgekommen war, musste er ja annehmen, dass er ihr gleichgültig sei.

Sie folgten eine Weile dem ausgelassenen Festzug, liessen sich von der Menschenmenge treiben, aber plötzlich standen sie aufatmend in einer ruhigen Seitengasse. Der fröhliche Lärm entfernte sich, verstummte. Noch ein paar Schritte, und sie befanden sich auf einem kleinen, sonnenüberfluteten Platz, in dessen Mitte eine Steinfontäne sprudelte.

"Warum hat dein Vater eigentlich nie wieder geheiratet?" fragte Sophie, um das Schweigen zu brechen.

"Weil er zu den Männern gehört, die nur einmal in ihrem Leben wirklich ihr Herz verschenken", antwortete er. "Das will nicht heissen, dass er nach Mamas Tod immer wie ein Einsiedler gelebt hat, aber heiraten wollte er nicht noch einmal, obwohl einige der Damen liebend gern die neue Madame Duteil geworden wären."

"Erinnerst du dich noch an deine Mutter?"

"Ich war erst fünf Jahre alt, als sie starb", sagte er nachdenklich. "Ich erinnere mich, dass sie wunderschöne blonde Haare hatte, wie du, nur, dass sie sie hochsteckte. Und Abends, wenn ich im Bett lag, sang sie mir deutsche Wiegenlieder vor."

Sie standen dicht nebeneinander an der Fontäne. Ein Vogel hatte sich auf dem steinernen Rand niedergelassen und trank aus dem überlaufenden Becken. Sophie spürte fast körperlich Alains Nähe, und eine süsse Schwere bemächtigte sich ihrer. Und endlich fand sie den nötigen Mut, um leise zu fragen: "Könnten wir noch einmal von vorn anfangen, Alain?"

Er wusste sofort, was sie meinte. Er sah sie lächelnd an und gab ebenso leise zurück: "Ich liebe dich, Sophie."

"Ich liebe dich nämlich auch", flüsterte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. Ganz zart nahm Alain es zwischen beide Hände und küsste sie dann leidenschaftlich auf den Mund.

"Wirst du auf mich warten?" fragte er, als sie eine Weile später eng umschlungen weitergingen. "In drei Monaten bin ich endgültig aus Amerika zurück. Und dann heiraten wir. Du möchtest doch, dass wir heiraten? Und du möchtest doch Kinder haben, denen du deutsche Wiegenlieder vorsingst, wenn sie im Bett liegen?"

Sie nickte glücklich zu jeder Frage und dachte flüchtig an Kristina, die ja nun zufrieden sein konnte, weil sie schliesslich doch die Wohnung behielt. Plötzlich war auch der Karnevalszug wieder da. Musik schmetterte in ihren Ohren; einige Kinder, die von ihren Müttern verkleidet worden waren, fingen an zu tanzen, und Alain zog Sophie in eine Weinstube, in der der Wirt gerade ein frischen Fass anzapfte.

"Magst du überhaupt in Nizza leben?" stellte Alain die letzte wichtige Frage. Jemand warf Sophie eine rote Rose zu. Sie steckte sie lächelnd an ihr Kleid und antwortete: "Ich liebe Nizza. Fast so sehr wie dich!"

ENDE

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Dienstag, 5. Februar 2013
Verliebt in einen Taugenichts
Wieder einmal ist Heiko versackt. Wieder einmal braucht er Geld - das seine Freundin Marion, eine erfolgreiche Rechtsanwältin, ihm wieder einmal „vorstreckt“. Ihr Kollege Mathias fragt sich, wie lange sie sich noch derart schamlos ausnutzen lassen wird …
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Marion Kamden hängte ihre Schultertasche um und griff nach den Wagenschlüsseln. Sie wollte gerade die Wohnung verlassen, als zwei Arme sie umfingen und sich eine stoppelige Wange an der ihren rieb: “Du willst doch nicht etwa ohne einen Kuss gehen?”

Einen Augenblick war sie versucht, zu verzeihen. Wieder einmal. Nach einer durchbummelten Nacht, verkatert, unrasiert und mit zerknitterter Schlafanzughose, sah Heiko immer noch umwerfend gut aus.

Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, wie ihre Versöhnungen gewöhnlich endeten.

“Wieviel?” fragte sie.

Er seufzte: “Wie du das sagst, Schatz! Also gut, könntest du mir 400 € vorstrecken? Ich habe leider ein paar Schulden gemacht.”

Sie schrieb rasch einen Scheck aus und legte ihn auf das Dielenschränkchen.

“Du bekommst sie zurück. Ehrenwort. Sobald ich Arbeit gefunden habe …”

“Apropos Arbeit”, unterbrach sie ihn nach einem raschen Blick auf die Armbanduhr: “Vergiss bitte nicht, dass Frank Wetzloh heute Abend zum Essen zu uns kommt.”

Heiko war ein ausgezeichneter Koch - wenn er wollte.

“Natürlich denke ich daran. Wie wär’s mit Lammkoteletts? Um den Rest kümmere ich mich natürlich auch.”

Marion war angenehm überrascht. Nun gab sie ihm doch einen Kuss und fuhr dann mit einem etwas leichteren Herzen in die Kanzlei. Es wurde höchste Zeit.

Im Vorübergehen steckte sie ihren Kopf in Mathias’ Büro. “Guten Morgen, Math. Tut mir leid, ich habe mich verspätet.”

Mathias Bendrat und sie kannten sich vom Rechtsstudium her. Vor zwei Jahren hatten sie eine Sozietät gegründet, die inzwischen gut lief.

Er sah sie prüfend an: “Hattest du wieder Ärger mit deinem Schützling?”

“Nun ja”, gab sie ungern zu. “Er war mal wieder die halbe Nacht draussen, und ich habe mir Sorgen gemacht.”

“Wann wirfst du ihn endlich ‘raus?”

“Es wird sicher alles besser, wenn er endlich Arbeit findet. Heute Abend kommt Frank Wetzloh. Er sucht einen Grafiker für seine Werbeagentur. Ich habe ihm ein paar Zeichnungen von Heiko gezeigt.”

“Seit Heiko bei dir wohnt, habe ich ihn nie zeichnen sehen.”

“Das stimmt. Er war nicht sehr motiviert in letzter Zeit, aber er hatte auch so viel Pech in seinem Leben.”

“Er ist ganz einfach faul”, unterbrach Mathias sie. “Warum fällt eine patente, erfolgreiche und attraktive Frau wie du auf eine solche Niete herein?”

“Mathias, bitte!” Ihre Stimme hatte etwas Flehendes.

Er besann sich sofort: “Verzeih, Marion. Ich kann’s nur nicht mit ansehen, wie du dich von diesem Kerl ausnutzen lässt.”

“So schlimm ist es doch gar nicht. Heiko hat auch gute Seiten”, verteidigte sie den Mann, den sie liebte.

Mathias verzog skeptisch das Gesicht, aber er brummte gutmütig: “Du weisst, ich bin da, wenn du mich brauchst.”

“Ja, ich weiss es. Danke, Mathias.”

Es fiel ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie dachte, dass Mathias nichts von ihren wahren Problemen wusste. Als Jugendliche hatte sie ihre unkleidsame Brille und die Pfunde, die sie zuviel auf die Waage brachte, gehasst. Sie hatte nie einen Freund gehabt.

Und dann, in der Oberstufe, war Heiko Larcher neu in die Klasse gekommen. Alle Mädchen hatten ihn umschwärmt. Auch sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt. Mit allen anderen war er ausgegangen, nur nicht mit ihr. Dabei hatte er neben ihr gesessen. Aber als sie Heiko vor einem Jahr zufällig auf einer Vernissage wiederbegegnete, hatte ihr seine unverholene Bewunderung gut getan. Sie trug jetzt Kontaktlinken, die überflüssigen Pfunde waren weg, und sie hatte es gelernt, sich gut zu kleiden und selbstsicher aufzutreten. Aber tief in ihr schlummerte immer noch das komplexbeladene junge Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Heiko war den ganzen Abend nicht von ihrer Seite gewichen. Er erzählte ihr, dass er sein Kunststudium abgebrochen hatte, weil er ein verlockendes Angebot einer Londoner Werbeagentur erhalten hatte. Nebenbei malte er, und ein Galeriebesitzer war so beeindruckt, dass er ihm eine Ausstellung in Aussicht gestellt hatte. Heiko kündigte in der Werbeagentur, um sich in Ruhe auf die Ausstellung vorzubereiten, und promt machte die Galerie pleite.

Sie hatten den Abend in einem kleinen, gemütlichen Restaurant fortgesetzt. Von da an hatten sie sich jeden Tag gesehen, und einen Monat später war er zu ihr gezogen. Seitdem tat sie alles, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen.

Obwohl Heiko versprochen hatte, sich um das Abendessen zu kümmern, ging sie etwas früher nach Hause.

In der Küche stand noch das schmutzige Frühstücksgeschirr. Keine Spur von Vorbereitungen. Nichts war getan, und Heiko war verschwunden! Zum Glück gab es ein japanisches Restaurant ganz in der Nähe, das weit und breit für seine Sushis bekannt war.

Frank Wetzloh ging kurz nach elf. Er bedankte sich für den reizenden Abend und bedauerte höflich, Heiko nicht angetroffen zu haben.

Wieder war ein Versuch gescheitert, und diesmal, fand Marion, war das Mass voll.
Schlafen konnte sie nicht. Sie war zu enttäuscht, zu wütend. Endlich hörte sie Heikos Schlüssel.

Schwankend stand er in der Tür und blinzelte ins Licht. Sie ging an ihm vorüber ins Wohnzimmer, warf eine Decke auf’s Sofa und erklärte: “So, du schläfst hier!”

Er warf sich der Länge nach auf’s Sofa, wobei er fast daneben fiel, und versuchte mit unsicheren Bewegungen, die Decke über sich zu ziehen: “Wie du willst”, murmelte er im Tonfall eines Mannes, dem bitteres Unrecht geschah.

“Heiko”, begann sie am nächsten Morgen. “In vier Stunden fliege ich nach Berlin. Wenn ich am Freitag Abend zurück bin, will ich dich nicht mehr hier sehen!”

Sie war selbst erstaunt, wie leicht sie sich während des Flugs fühlte. Richtig befreit von einer Last.
_ _ _

Drei Tage später stand sie unten im Haus und schloss den Briefkasten auf. Unter der Post lag der Wohnungsschlüssel. Heiko war also tatsächlich fort.

Etwas beunruhigt betrat sie die Wohnung. Aber alles war blitzsauber und tadellos aufgeräumt. Auf dem Küchentisch prangte eine wundervolle Azalee. Zwischen den lachsfarbenen Blüten steckte eine Karte: “Verzeih mir, Marion. Ich fürchte, ich war eine Zumutung für dich. In Liebe, Heiko.” Darunter ein P.S. : “Sobald es mir möglich ist, bekommst du dein Geld zurück.”

Sie sank auf einen Stuhl. Das war der nette Heiko, der da zum Vorschein kam. Tat sie ihm womöglich Unrecht? Was würde jetzt aus ihm werden? Die Tränen kamen von ganz allein.

Es klingelte. Vielleicht kam er schon zurück? Aber es war Mathias. “Guten Abend, Marion. Ich kam vorbei und sah Licht …”. Erschrocken sah er sie an: “Ist alles in Ordnung?”

“Ach, Math”, seufzte sie. “Heiko ist fort.”

“Das ist ja eine erfreuliche Nachricht”, meinte er ungerührt. “Aber er ist doch wohl nicht von selbst gegangen?”

“Ich hab ihn herausgesetzt.” Sie zog ihn in die Küche und zeigte auf den Tisch: “Statt böse zu sein, hat er mir diese Azalee geschenkt.”

“Von deinem Geld, nehme ich an. Marion, ich wollte dir schon längst etwas sagen …” Er stockte. Sie sah so traurig aus. Nein, er konnte ihr unmöglich sagen, dass er Nachforschungen angestellt hatte über die Zeit, in der Heiko, in London war. Er hatte zwar tatsächlich ein kurzes Praktikum in einer Werbeagetur absolviert, aber von einer festen Anstellung war nie die Rede gewesen. Und die Galerie, die angeblich seine Bilder ausstellen wollte, hatte nie existiert.

“Du hast das einzig Richtige getan”, tröstete er sie. “Hast du überhaupt schon zu Abend gegessen?”

“Kein Hunger.”

“Du musst etwas in den Magen bekommen!” Mathias zauberte mit dem, was er vorfand, eine leichte, schmackhafte Mahlzeit. Er sorgte dafür, dass Marion ass, dann räumte er die Küche auf und verabschiedete sich: “Schlaf gut, Marion. Wenn irgend etwas ist, ruf mich an. Auch nachts, hörst du?” Liebevoll besorgt sah er sie an.

Am nächsten Nachmittag holte er sie zu einem Spaziergang ab und lud sie zum Abendessen ein, und am Sonntag bestand er darauf, dass sie zusammen ins Grüne fuhren. Auch in der folgenden Zeit war er immer für sie da.

Eines Morgens kam er auf der Suche nach einer Akte in ihr Büro. Sinnend sah Marion ihn an. Mathias war nicht sehr gross, aber alles an ihm war solide. Er hatte ein angenehmes Gesicht, er war absolut zuverlässig, loyal, charakterfest. Ja, sie konnte sich vorstellen, dass er eine Frau sehr glücklich machen konnte.

“Also, ich selbst habe ja nur Pech in der Liebe. Aber du, warum bist du eigentlich immer noch nicht verheiratet?” rutschte es ihr heraus.

Er liess sich Zeit für die Antwort. Endlich meinte er: “Kannst du dir das wirklich nicht denken?”

Sie schüttelte verwundert den Kopf.

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. Er räusperte sich und sagte umständlich: “Ich empfinde für dich mehr als ich je für eine andere Frau empfunden habe, aber als ich es dir sagen wollte, war es zu spät. Du warst da schon Heiko wiederbegegnet.”

“Oh, verzeih, Mathias.” Sie küsste ihn zart auf die Wange, wusste nicht, was sie antworten sollte. “Ich bin … ach, Math, du bist der beste Freund, den ich je gehabt habe.”

Einen Augenblick schlossen sich seine Arme fest um sie, dann liess er sie los und brummte: “Genug Zeit verbummelt. Dabei stecken wir bis zum Hals in Arbeit.”
_ _ _

Es war ein Samstag Abend. Marion sah sich einen alten Spielfilm im Fernsehen an, als es klingelte. Sie öffnete - und erstarrte.

“Hallo, Marion”, lächelte Heiko.

“Wie geht es dir? Hast du Arbeit gefunden?” fragte sie, während sie mühsam versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

“Ich habe mein Auskommen.” Er reichte ihr einen Umschlag: “Ich möchte endlich meine Schulden begleichen.”

“Heiko, das ist wirklich nicht nötig. Du brauchst das Geld für einen neuen Anfang.”

“Bitte”, drängte er. “Du musst das Geld annehmen.” Er drückte ihr einfach den Umschlag in die Hand.

Von der Strasse kam ein kurzes Hupen.

“Ich muss los. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich oft so unmöglich aufgeführt habe. Ehrlich. Ich könnte versuchen, mich zu bessern, wenn du …” Es hupte ungeduldig ein zweites Mal. “Ist ja gut”, ärgerte er sich, “ich komm’ ja schon!”
Vom Fenster beobachtete sie, wie er in einen wartenden Luxuswagen stieg. Am Steuer sass eine Frau.

Marion öffnete den Umschlag und betrachtete nachdenklich den Scheck. Ausgestellt war er von einer Regina Wittelbach. Heiko arbeitete also gar nicht, er hatte nur eine neue Gönnerin gefunden.

Sie zerriss den Scheck in winzige Stücke und liess sie wie Konfetti in den Papierkorb rieseln. Sie wollte kein Geld von ihrer Nachfolgerin. Um nichts in der Welt. Sie stellte plötzlich fest, dass es nicht mehr schmerzte, dass es ihr sogar egal war, mit wem Heiko jetzt zusammen war. Sie erinnerte sich an die ungeduldigen Huptöne. Diese Regina Wittelbach war sicher viel reicher als sie, aber ebenso sicher auch sehr viel anspruchsvoller. Für Heiko schienen schwierige Zeiten angebrochen zu sein.

Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie war blind gewesen. Blind dem wahren Glück gegenüber. Es war die ganzen Jahre so greifbar nahe gewesen, aber sie hatte es nicht wahrgenommen. Sie sah jetzt Mathias so deutlich vor sich, dass sie das Telefon zu sich heranzog.

Nach dem ersten Klingelzeichen wurde abgenommen: “Hier Mathias Bendrat”, meldete er sich.

“Ich bin’s, Marion. Ich wollte dir nur sagen … Heiko war vorhin hier. Ich werde dir alles noch ausführlicher erzählen, aber ich habe gemerkt, dass ich nichts mehr für ihn empfinde. Jetzt fühle ich mich wirklich frei, und wenn du … ich meine … aber vielleicht hast du das ja gar nicht so ernst gemeint …?”

“Stop. Sprichst du von uns, Marion? Da kann ich dich beruhigen. Ich träume jeden Tag von dir, von uns. Wie es sein wird, wenn wir unsere Sozietät erweitern, wenn kleine Soziusse dazukommen, und wenn …” Er hielt ein und fuhr ernst fort: “Ich liebe dich, Marion. Damit hätte ich überhaupt anfangen sollen. Immer meine verdammten Schwierigkeiten, meine Gefühle zu äussern.”

“Bitte, sag es noch einmal. Zur Übung.”

“Ich liebe dich, Marion.”

So schön wie er hatte ihr das noch kein Mann gesagt. “Und ich liebe dich auch, Mathias”, antwortete sie innig. “Sehen wir uns morgen?”

“Ich komme zum Frühstück und bringe Brötchen mit!”

“Und ich koche Kaffee. Ist dir zehn Uhr recht?”

“Ich halte es nicht eine Minute länger als neun Uhr aus.”

Sie lachte. “Neun Uhr. Abgemacht!”

Auf einmal hatten sie sich so viel zu erzählen. Als sie eine Stunde später auflegten, trat Marion ans Fenster und betrachtete die Sterne. Tiefes Glück erfüllte sie. Morgen würde er bei ihr sein. Für immer. Mathias. Der Mann ihres Lebens …

ENDE

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Sonntag, 3. Februar 2013
So einfach ist das nicht!
Jahrelang hat der erfolgreiche Rechtsanwalt Harald Gläser seine Frau Barbara vernachlässigt. Als er erfährt, dass sie einen Liebhaber hat, fällt er aus allen Wolken. Aber er ist bereit, ihr zu verzeihen …
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André umarmte und küsste sie. Zärtlich strich er über ihre Wange: “Heirate mich, Barbara. Du bist die erste Frau, die ich wirklich liebe, die ich wirklich brauche.”

Einen Moment war sie zu überrascht, um zu reagieren. Dann löste sie sich sanft von ihm. “So einfach ist das nicht. Ich bin schon verheiratet …”

“Lass dich scheiden”, erwiderte er heftig. “Du bist nicht glücklich!”

“Aber ich war es einmal.”

“Und was ist mit uns? Sind wir nicht glücklich miteinander?”

Sie konnte es nicht fassen. André Limburg, der blendend aussehende Frauenschwarm, machte ihr, einer braven Hausfrau und Mutter einer Tochter, einen Heiratsantrag! Von wegen brav, dachte sie gleich darauf schuldbewusst. Hatte sie nicht sehnsüchtig darauf gewartet, dass ihr Mann Harald für ein paar Tage geschäftlich nach Berlin flog, damit sie die ganze Nacht bei ihrem Liebhaber verbringen konnte?

Vor sechs Monaten hatte alles angefangen. Vieles war zusammengekommen: Ihre 14-jährige Tochter Karen war für ein Jahr in London, besuchte dort die Schule und wohnte bei ihrer heissgeliebten Patentante, einer Cousine Haralds, die mit einem Engländer verheiratet war. Harald hatte seine Tochter in ihren Plänen voll unterstützt. Ihr Englisch auf diese Weise zu vervollkommnen könne nur von Vorteil für sie sein, hatte er gemeint. Barbara gab ihm recht, aber sie hatte sich nach Karens Abreise in ihrem grossen Haus ziemlich verloren gefühlt. Harald war ihr keine Hilfe gewesen – er war mit seiner Karriere beschäftigt. Er war es auch, der die Idee mit den Verschönerungsarbeiten hatte. Sie hätten jetzt die Mittel, um das Stadthaus von Grund auf renovieren zu lassen. Sie hätte freie Hand. Er hatte ihr vorgeschlagen, diesen bekannten Architekten, von dem die ganze Stadt sprach, mit den Arbeiten zu beauftragen. Diesen André Limburg.

André war gekommen, hatte sich das Haus angesehen und war begeistert gewesen. Barbara und er hatten viele Stunden gemeinsam über den Plänen gesessen. Er brachte ihr Blumen mit und machte ihr Komplimente. Seit langem hatte sie sich nicht mehr so lebendig und begehrenswert gefühlt. Als Harald wieder einmal in Berlin war, passierte es dann. Sie wurden ein Liebespaar. Barbara hatte inzwischen von Andrés Ruf als Playboy gehört. Sie hatte geglaubt, dass er ihrer bald überdrüssig werden würde. Nun war das Gegenteil eingetreten.

Aber was wollte sie? In ihrem Kopf herrschte Chaos. Leise sagte sie: “Ich kann jetzt keine Entscheidung treffen. Ich muss darüber nachdenken.”

“Und wie lange?”

Unsicher fuhr sie sich mit der Hand durch das dunkle Haar. “Das kann ich nicht sagen. Es ist besser, wenn wir uns in nächster Zeit nicht sehen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du mich heiraten willst, André!”

“Ich habe mich verändert. Jetzt will ich nur noch dich, Barbara.” Er wirkte auf einmal verunsichert. “Viele Frauen, denen ich früher sehr weh getan habe, würden sagen, dass es mir nur recht geschieht, wenn du mich zurückweist. Soll ich dich nach Hause bringen?”

“Ja, bitte.” Sie rang sich ein Lächeln ab. Er sollte nicht sehen, wie zerrissen und traurig sie sich fühlte.
_ _ _

Harald sass im Hotel an der Bar. Nach dem anstrengenden Tag brauchte er dringend einen Schlaftrunk. Als er das Glas an die Lippen hob, prostete ihm ein Mann vom anderen Ende der Bar zu. Er erkannte sehr schnell Lars Federau, einen Kollegen. Harald hatte von seiner Scheidung gehört. Armer Kerl, dachte er und genoss das Gefühl, dass zwischen ihm und seiner Frau Barbara alles in Ordnung war. Ausserdem vergass er nie, dass Lars ebenfalls Rechtsanwalt und einer seiner schärfsten Konkurrenten in Düsseldorf war.

Lars kam mit seinem Glas und setzte sich auf den freien Hocker neben Harald: “Wie geht’s dir denn?” fragte er mit schwerer Zunge.

“Gut, danke. Ich hab von deiner Scheidung gehört. Tut mir leid. Dabei habt ihr euch doch immer so gut verstanden, Claudia und du.”

“Ja. Wie Barbara und du.”

“Sicher. Aber Barbara und ich verstehen uns zum Glück immer noch.”

“Das Glück des Ahnungslosen”, meinte Lars trocken, trank sein Glas in einem Zug leer und bestellte ein neues.

“Findest du nicht, dass du langsam genug getrunken hast?”

“Keine Bange, das nimmt mir nicht die klare Sicht. Irgend jemand muss dir ja wohl die Augen öffnen.”

Harald musterte ihn skeptisch. “Was willst du damit sagen?”

“Barbara betrügt dich!”

Ungläubig lachte Harald auf. “Und jetzt wirst du mir gleich sicher auch noch sagen, mit wem?”

“Mit André Limburg. Er hat eure Villa renoviert, habe ich gehört. Tja, du hast dir deinen Konkurrenten selbst ins Haus geholt …”

“So ein Quatsch. Was erzählst du nur für einen Unsinn?”

“Du bist erstaunlich naiv. Barbara ist sehr schön. Sie ist eine wunderbare Frau. Und du vernachlässigst sie.”

“Wie kommst du eigentlich dazu, mir diese Lektionen zu erteilen?” brauste Harald nun auf. Aber sein Ausbruch tat ihm sofort leid.

Lars seufzte: “Sei froh, dass André seine Eroberungen nicht heiratet. Mit ein bisschen Glück kommt Barbara zu dir zurück. Wenn dir etwas an ihr liegt, verzeih’ ihr. Ich habe Claudia ihren Seitensprung nicht verzeihen können. Jetzt sind wir geschieden. Ich war so dumm zu glauben, dass das Geld, das ich verdiente, genügte, um sie glücklich zu machen. An deiner Stelle würde ich die erste Maschine nach Düsseldorf nehmen und versuchen zu retten, was zu retten ist.”

“Die Besprechungen hier sind nicht abgeschlossen, und es handelt sich um einen meiner wichtigsten Klienten!”

“Sind dir deine verdammten Klienten wichtiger als Barbara?”
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Harald hatte den Termin verschoben. Als er vor seinem Haus ankam, sah er im Schlafzimmer Licht brennen. Barbara war da! Alles, was er in diesem Augenblick spürte, war ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung.

Als er die Tür aufschloss, kam sie im Morgenmantel die Treppe hinunter. “Ich konnte nicht schlafen und habe deinen Wagen gehört. Wieso bist du denn schon zurück?”

Er versuchte, aus ihrem Gesichtsausdruck irgend etwas herauszulesen. Doch sie verriet mit keiner Miene, dass etwas anders war als sonst. Schliesslich meinte er müde: “Ich bin vorzeitig abgereist, weil ich bei dir sein wollte, Barbara.”

Plötzlich sah er, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Spontan nahm er sie in die Arme: “Alles wird gut, Liebste. Ich verzeih’ dir die Geschichte mit André.”

Sie wurde rot: “Woher … woher weisst du das?”

“Lars hat es mir gesagt. Ich habe ihn zufällig in Berlin getroffen. Aber du weisst vielleicht nicht, dass dieser André ein unverbesserlicher Don Juan ist. Er wird dir weh tun. Versprich mir bitte, dass du ihn nicht wiedersiehst.”

Barbara entzog sich ihm: “André hat mich gebeten, seine Frau zu werden.”

Er stand wie vom Donner gerührt da. André wollte Barbara heiraten? Seine Barbara? Alles war viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Schmerz, Wut und grenzenlose Eifersucht stiegen in ihm hoch.

“Harald, ich werde eine Weile fortfahren”, sagte Barbara leise. “Ich weiss mittlerweile nicht mehr, wer ich bin und wohin ich gehöre.”
_ _ _

Barbara hatte sich in einer kleinen Pension im Westerwald einquartiert. Um zu versuchen, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, machte sie jeden Tag lange Spaziergänge. In der ersten Zeit empfand sie vor allem wilden Schmerz, weil André ihr fehlte. Die Unterhaltungen mit ihm, sein Lachen, seine Zärtlichkeit, ihre leidenschaftlichen Umarmungen. Aber das zehrende Verlangen liess langsam nach, und die Vergangenheit wurde wieder lebendig. Harald und sie. Wie hatten sie sich geliebt! Die Heirat mit ihm war die Erfüllung all ihrer Träume gewesen. Sie hatten eine schöne, begabte Tochter. Natürlich hatte es auch Probleme gegeben, vor allem finanzielle. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie zu Hause Schreibarbeiten übernommen, damit sie über die Runden kamen. Als Harald dann gut verdiente, hatte sie auf seine Bitte hin mit der Arbeit aufgehört und ihm den Rücken für seine Karriere freigehalten.

Aber zum Schluss hatte Harald nur noch die Haushälterin in ihr gesehen. André hatte ihr immer gesagt, dass er sie begehrte, dass sie eine Traumfrau wäre. Plötzlich wusste sie, dass es genau diese Worte waren, die sie so gern aus Harald Mund gehört hätte. Nur machte Harald ihr schon lange keine Komplimente mehr.

Vielleicht würde es erneut zwischen Harald und ihr prickeln, wenn sie wieder die Frau wurde, die sie einmal gewesen war: unabhängig und selbstbewusst. Seit Jahren liebäugelte sie mit der Idee, ein Schreibbüro aufzumachen. Aus Bequemlichkeit oder auch aus der Angst heraus, am Ende damit scheitern zu können, hatte sie ihr Vorhaben nie in die Tat umgesetzt.

Es wurde Zeit, dass sie aufwachte. Zeit, dass sie sich endlich darüber im Klaren wurde, was ihr ihre Ehe noch wert war. Gut - Harald hatte sie in den letzten Jahren vernachlässigt. Aber sollte sie deshalb alles aufgeben, was sie miteinander verband? Zudem gab es Karen, bald würde sie zu Hause zurück sein. Sie brauchte ihre Eltern noch, und sie, Barbara, freute sich unbändig darauf. Sollte sie sich weiter einer Affäre hingeben, von der sie nicht wusste, ob sie eine Zukunft hatte? Nein, kam sie zu dem Schluss: sie würde mit Harald zusammenbleiben - mit dem Mann, mit dem sie seit fünfzehn Jahren verheiratet war.

Als sie Harald schrieb, dass sie sich für einen neuen Anfang mit ihm bereit fühlte und sich freuen würde, wenn sie hier zusammen ein paar Tage Urlaub machen könnten, schnürte ihr die Angst das Herz zu. Und wenn er es jetzt war, der sie nicht mehr wollte? Am Anfang war er sofort bereit gewesen, ihr zu verzeihen. Aber auch er hatte Zeit gehabt, um nachzudenken. Vielleicht war er zu dem Schluss gekommen, dass ihre Ehe nicht mehr zu retten war?

Aber Barbara wusste, dass es richtig gewesen war, sich diese Bedenkzeit zu nehmen. Vor vier Wochen wäre eine Versöhnung nur Flickwerk gewesen. Körperlich bei Harald, aber in Gedanken bei André - nein, das wäre nie gutgegangen.
_ _ _

Als sie drei Tage später von ihrem Spaziergang zurückkam, erblickte sie Haralds Wagen vor der Pension. Ihr Mann stand am Empfang und sprach mit der netten Pensionsinhaberin.

Barbara betrachtete ihn versonnen. Die etwas gebeugten Schultern, und das Haar, das sich zu lichten begann, durchzogen von den ersten grauen Strähnen. Ein warmes Gefühl aus Liebe und Zuneigung durchströmte sie.

In diesem Augenblick drehte Harald sich um. Lange blickten sie sich an, dann gingen sie langsam aufeinander zu.

“Danke, dass du gekommen bist”, sagte Barbara leise. Hoffnungsvoll forschte sie in seinen Augen.

“In den letzten Wochen ist mir klar geworden, wie sehr ich dich liebe”, sagte er und zog sie mit einem erstickten Laut an sich. “Ich kann ohne dich nicht leben, Barbara. Und ich habe dich viel zu lange vernächlässigt. Verzeih mir bitte. Das soll nun anders werden.”

Endlich fiel jede Anspannung von ihr ab. Sie lächelte vor Glück und schlang ihre Arme seufzend um seinen Hals. Fest presste Harald sie an sich. Nie wieder, das wusste er, würde er sie loslassen …

ENDE

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