Donnerstag, 14. März 2013
Zweimal Liebe nach Mass
Weil Larissa Bergdorf das ständige Wechselbad der Gefühle mit Julian nicht mehr aushalten konnte, hatte sie das Angebot der Bank angenommen, ein Jahr in Kanada zu arbeiten. Nach ihrer Rückkehr erlebt sie eine Überraschung …
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Nachdem Larissa als I-Tüpfelchen die neuen Gardinen im Wohnzimmer angebracht hatte, liess sie sich zufrieden seufzend auf's Sofa fallen, um das Resultat zu betrachten. Ja, sie würde sich wohl fühlen in ihrer hübschen Zweizimmerwohnung. Seit zwei Wochen tat sie nichts anderes als putzen, herumlaufen, einkaufen, einrichten. Neben ihrer Arbeit in der Bank, natürlich. Jetzt wurde es höchste Zeit, dass sie Kontakt zu ihren alten Freunden aufnahm. Sie schämte sich etwas, dass sie während des ganzen Jahres, das sie in Toronto verbracht hatte, nichts hatte von sich hören lassen. Zuerst wollte sie vergessen, und nachher hatte sie irgendwie nicht den Dreh gefunden. Als erstes wollte sie Clara anrufen. Sie zog das Telefon näher an sich heran und tippte die Nummer ein.

„Clara Thamm, ja bitte?“ meldete sich ihre Freundin.

“Hallo, Clara. Ich bin’s, Larissa.”

“Larissa! Ja, wo …”

“Ich bin in Hamburg zurück”, erwiderte sie rasch.

Stille entstand.

“Ich weiss, ich hätte von mir hören lassen sollen”, meinte Larissa schuldbewusst. “Du bist mir doch hoffentlich nicht böse?”

“Natürlich nicht, aber …”

Wieder entstand eine Pause, dann sagte Clara entschlossen: “Wir müssen uns sehen, Larissa. Ich schlage vor, wir essen zusammen bei Luigi. Ich lade dich ein. Soll ich für morgen Abend einen Tisch reservieren?”

“Ja, morgen passt mir gut. Du, ich freue mich …”

“Bis morgen, also”, unterbrach Clara sie rasch.

Larissa legte etwas verwundert auf. Ihre Freundin hatte sich so seltsam verhalten, ihre Stimme so anders geklungen …
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Luigi führte Larissa an den Tisch, an dem Clara schon auf sie wartete. Nach der Begrüssung bestellten sie Spaghetti à la Carbonara, gemischten Salat und Rotwein.

“Und vorher als Aperitif bitte einen Martini”, schloss Clara die Bestellung ab.

Als der Martini vor ihnen stand, entschuldigte Larissa sich noch einmal: „Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, dich die ganze Zeit ohne Nachricht gelassen zu haben. Es war … ich wollte vergessen.”

“Ich weiss, und das macht doch auch nichts. Es hätte … ich weiss nicht, ob …”

Verwundert dachte Larissa, dass es Clara nicht ähnelte, die Sätze nicht zu Ende zu bringen.

“Weisst du noch”, lächelte sie, “unsere Abende bei dir, wenn ich Liebeskummer hatte? Apropos, hast du etwas von Julian gehört?”

Es sollte beiläufig klingen, aber sie merkte plötzlich, wie ihr Herz klopfte. Julian. Der blendend aussehende Julian mit dem ganz besonderen Charme. Julian, der unheimlich zärtlich und liebevoll sein konnte, aber auch verletzend kühl und abweisend. Julian, für den Treue ein Fremdwort war. Weil sie das Wechselbad der Gefühle nicht mehr aushielt, hatte sie das Angebot der Bank angenommen, ein Jahr in ihrer Niederlassung in Toronto zu arbeiten. Jetzt wagte sie endlich, sich einzugestehen, dass sie ihn nicht vergessen hatte …

Clara drehte das Glas in den Händen und holte tief Atem: “Apropos Julian. Ich muss dir etwas sagen, Larissa. Julian und ich … wir … wir lieben uns.”

“Julian und du …” Larissa starrte ihre Freundin fassungslos an. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie versuchte, sich die ruhige, besonnene Clara und den blendenden Gesellschafter Julian zusammen vorzustellen. Und schaffte es nicht. Beim besten Willen. Schon äusserlich war Clara nicht der Typ Frau, für den ein Mann wie Julian den Kopf verliert. Sie war weder besonders hübsch noch sexy. Larissa schämte sich sofort dieser Gedanken, weil Clara so viele hervorrragende menschliche Qualitäten hatte. Aber dann übermannten sie wieder Schmerz und Eifersucht: Wie konnte Clara ihr das antun? Wie konnte sie einfach so ihre, Larissas, Nachfolge bei Julian antreten und dazu noch von Liebe sprechen?

“Ich bitte dich um Verzeihung”, sagte Clara und wagte es endlich, ihre Freundin anzusehen, “aber du hattest mir gesagt, dass alles aus ist zwischen euch, und ich hatte nicht einmal deine Adresse oder deine Telefonnummer, um es dir mitzuteilen.”

Obwohl Larissa sich erinnerte, dass sie das sogar noch krasser ausgedrückt hatte, nämlich, dass sie nichts mehr mit diesem Knallkopf am Hut hätte, war sie jetzt versucht, zu behaupten, das nicht wirklich ernst gemeint zu haben.

“Du liebst ihn doch noch, ja?” stellte Clara jetzt bekümmert fest. “Ich komme mir so schäbig vor dir gegenüber.”

“Wie hältst du es bloss mit ihm aus?” rief Larissa aus. “Julian konnte nie treu sein.”

“Ich glaube schon, dass er es jetzt ist”, erwiderte Clara.

Larissa verstand immer weniger. Wie hatte Clara diese Wandlung zustande gebracht? Oder trug sie aus lauter Verliebtheit Scheuklappen? Wie sie selbst am Anfang?

„Ich muss dir noch etwas sagen”, meine Clara und schob ihr Weinglas fort. „Ich erwarte ein Baby.“

„Von Julian?“ fragte Larissa ungläubig.

„Natürlich von Julian“, erwiderte Clara fast gekränkt. „Wir werden in einem Monat heiraten, und … Erinnerst du dich noch, was wir uns früher einmal versprochen haben? Dass wir gegenseitig unsere Trauzeugin sein würden? Ich würde mich sehr freuen, wenn das immer noch für dich gelten würde!“

Julians und Claras Trauzeugin sein? Die Zeugin ihres Glücks? Das war entschieden zuviel verlangt.

„Du nimmst es mir doch nicht übel, Larissa?“ fragte Clara leise. „Glaub mir, ich hab mich gegen diese Liebe gewehrt …“

Mit Anstrengung brachte Larissa hervor: „Aber Clara, es ist alles völlig in Ordnung. Wirklich.“

Aber nichts war in Ordnung. Sie hätte Julian so gern geheiratet und ein Kind von ihm gehabt. Er hatte sich immer geweigert! Was hatte Clara, was sie nicht hatte?

Bevor sie sich an diesem Abend trennten, bat Clara sie so inständig um ihre Adresse und Telefonnummer, dass Larissa ihr beides gab.
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Larissa hastete den Hausflur entlang, der zu ihrer Wohnung führte und hatte Schwierigkeiten, durch ihre Tränen hindurch etwas zu sehen.

Eine Tür ging auf, und ein Mann kam heraus. Er trug einen Müllbeutel in der Hand. Zum Glück war er gut verknotet, denn er fiel herunter, als er fest zugriff, um Larissa vorm Hinfallen zu bewahren, nachdem sie blind in ihn hereingerannt war.

„Hoppla“, grinste er, „warum so eilig?“ Er wartete, bis Larissa das Gleichgewicht wiedergefunden hatte und liess sie dann los.

„Können Sie nicht aufpassen?“ fauchte Larissa.

Er sah genauer hin und meinte gutmütig: „Ich verstehe. Stark behinderte Sicht. Alles in Ordnung?“

„Stellen Sie immer so dumme Fragen?“ schluchzte Larissa auf.

„Es ist mir herausgerutscht“, entschuldigte er sich zerknirscht. „Hören Sie, ich bin erst gestern hier eingezogen, in meiner Wohnung steht fast nichts an seinem Platz, aber der Kühlschrank ist angeschlossen, und der Wein hat die richtige Temperatur. Wenn Ihnen ein Glas Wein und meine Wenigkeit von irgend einem Nutzen sein können, stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Übrigens, mein Name ist Holger Schmitz. Ich bin Lehrer.“

„Larissa Bergdorf. Bankkauffrau.“ Jetzt hatte sie einen Schluckauf. Auch das noch.

Holger zog sein Taschentuch aus der Tasche und tupfte vorsichtig ihre Tränen ab. Dann hielt er ihr die Tür auf: „Ich verspreche, nicht zu beissen.“

Der Wein tat ihr gut. Und es tat ihr gut, in Holgers altem Ledersessel zu sitzen. Nachdem ihr von innen und aussen warm geworden war, erzählte sie Holger in knappen Worten, was vorgefallen war. Ganz objektiv, das hoffte sie jedenfalls. Und schloss: „Ich komme mir so schäbig vor, dass ich ihnen das Glück nicht gönne. Meine hässlichen Gefühle machen mir Angst. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten besser, wenn ich nach Toronto zurückgehe.“

Holger unterbrach sie nicht, schenkte nur ein wenig Wein nach. Er glitt tröstlich ihre Kehle hinunter. Eine Stunde später sagte sie: „Es ist sehr spät, und ich muss jetzt wirklich gehen. Danke, es war schön bei Ihnen. Die Unterhaltung hat mir gut getan.“ Sie stand auf - und das Zimmer drehte sich.

Holger sprang hinzu und stützte sie: „So viel haben wir doch gar nicht getrunken?“ meinte er etwas erstaunt.

„Ich … ich habe vorher schon. Mit Clara, beim Italiener“, erklärte sie und kicherte, weil sie sich erinnerte, dass Clara selbst höchstens ein Glas getrunken hatte, wegen des Babys.
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Der nächste Tag war zum Glück ein Samstag. Nachdem Larissa zwei Kopfschmerztabletten geschluckt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, erstand sie im Blumenladen gegenüber eine blassrosa Azalee. Den Blumentopf an ihre Brust gepresst, klopfte sie an Holgers Wohnungstür.

Fast augenblicklich wurde geöffnet. Holger musste dahinter gestanden haben.

„Guten Morgen und schönen Dank für gestern. Ich bin sehr beschämt, dass ich Ihnen so viele Umstände bereitet habe“, sagte Larissa und streckte ihm die Blumen entgegen.

„Die Azalee ist wunderschön, und es war mir ein Vergnügen, Sie wie ein kleines Mädchen ins Bett zu bringen“, schmunzelte Holger. „Ich bin gerade dabei, Frühstück zu machen. Möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“

Es duftete nach Kaffee und Toast, und die Kopfschmerztabletten hatten gewirkt. Sie hatte plötzlich Hunger: „Vielen Dank, gern“, lächelte sie.

„Ich habe gestern so richtig egoistisch nur über mich geredet. Bitte, erzählen Sie mir etwas über sich“, bat sie, während sie einen Toast mit Orangenmarmelade bestrich.

„Das ist schnell getan: Ich unterrichte Mathematik und Physik, spiele Geige und bin ansonsten mit 30 Jahren leider noch ungebunden.“

Sie sassen in der Küche am weissgescheuerten Holztisch. Die Azalee prangte auf dem Fensterbrett, und eine eindrucksvolle Reihe von blitzblank geputzten Kupferkasserollen und sonstigen Kochutensilien zierten die Wand über der Arbeitsfläche.

„Es sieht aus wie bei einem Hobbykoch“, lächelte Larissa beeindruckt.

„Womit Sie mein Laster durchschaut haben“, lächelte er zurück.

Sie betrachtete aufmerksam Holgers massig wirkende Gestalt mit den breiten Schultern und den paar Gourmet-Pfunden zuviel um die Taille, sein rundes Gesicht, die freundlichen und zugleich kritischen Augen hinter den Brillengläsern, den wuscheligen, hellbraunen Haarschopf und die knollige Nase. Sie stellte ihn sich vor einer Klasse von albernen und manchmal agressiven Halbwüchsigen vor. Und traute ihm die nötige Autorität zu. Mehr noch, Humor.

„Examen bestanden?“ fragte er mit einem Lachen in seiner Stimme.

Sie errötete ertappt und lachte ebenfalls: „Mit sehr gut!“

Nach dem Frühstück bot sie ihm ihre Hilfe an. Schliesslich hatte sie Übung im Umziehen. Sie rückten Möbel, räumten Geschirr ein, stellten Bücherregale auf …

Sie arbeiteten fast ohne Pause bis abends. Holger entschuldigte sich, aber Larissa beruhigte ihn: Die Arbeit lenkte sie ab. Darauf lud Holger sie zu einem Eintopf ein, der schmackhafter war als alles, was sie bisher in dieser Richtung gegessen hatte.

Am Sonntag ging es weiter. Abends sah es in der Wohnung schon richtig gemütlich aus, und nach dem von Holger zubereiteten Coq au vin und der Schokoladenmousse hätte sich sogar Lukullus die Finger abgeschleckt.

Nachher räumten sie noch einträchtig die Küche auf, dann brachte Holger sie bis zu ihrer Tür, bedankte sich noch einmal und wünschte ihr eine gute Nacht: „Ich freue mich, dass wir jetzt Freunde sind“, sagte er.

„Ich auch, Holger.“ Sie meinte es ehrlich. Ihre Wohnung, die ihr noch vor zwei Tagen so gut gefallen hatte, kam ihr auf einmal kalt und leer vor. Sie würde gleich diese Woche alles in die Wege leiten, um nach Toronto zurückzugehen. Ihr Anrufbeantworter blinkte, und sie drückte auf den Knopf.

„Hallo Larissa, hier ist Julian. Darf ich dich morgen Abend gegen acht besuchen kommen? Wenn du nicht kannst oder mich nicht sehen möchtest, was ich aber nicht hoffe, rufe mich bitte morgen früh im Büro an. Es ist die alte Nummer.“ Er wiederholte sie.

Wie ein elektrischer Stoss fuhr seine Stimme ihr bis ins Herz. Was wollte er? Ihr sein Glück mit Clara unter die Nase reiben? Oder ihr im Gegenteil unsittliche Vorschläge machen? Das Erste würde weh tun, und das Zweite kam nicht in Frage. Sie beschloss, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Aber am nächsten Tag hatte sie ihn bis zwölf immer noch nicht angerufen, und als sie es nachmittags versuchte, war er in einer Besprechung. Abends wollte sie wenigstens Holger bitten, herüberzukommen. Mit ihm würde sie sich sicherer fühlen.

Aber Holger war nicht da. Richtig, er hatte ihr gestern gesagt, dass heute ein Elternabend in der Schule stattfand. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als Julian allein gegenüber zu treten. Und zu versuchen, ihre Gefühle zu beherrschen.

Als es klingelte, gelang es ihr, mit ruhiger Stimme zu fragen, wer da sei.

„Ich bin's. Julian.“

„Komm herauf.“ Sie drückte auf den Summer.

Dann standen sie sich gegenüber. Beide etwas befangen. Er sah so gut aus wie eh und je und trotzdem etwas anders.

„Ich habe ein paar Schnittchen vorbereitet“, sagte sie.

„Und ich habe eine Flasche Wein mitgebracht“, lächelte er und überreichte sie ihr.

Als sie am Tisch sassen, sagte er: „Clara und ich fanden es besser, dich getrennt zu sehen. Aber vielleicht ist es eine schlechte Idee?“

„Nein“, sagte sie. Und fügte selbstkritisch hinzu: „Ich fürchte, ich habe mich Clara gegenüber nicht sehr fair verhalten. Es kam so … überraschend. Wohlverstanden mache ich euch nicht den geringsten Vorwurf. Zwischen uns beiden war schliesslich alles klar.“

„Es ist bestimmt nicht so einfach“, meinte er.

Schon an dieser Bemerkung konnte sie ermessen, wie tief die Wandlung war, die in ihm vorgegangen war.

„Als du mit mir Schluss gemacht hast“, fuhr er fort, „ging es mir schlecht. Mir kam zu Bewusstsein, dass ich meine Partnerinnen unglücklich machte und selbst nicht glücklich dabei war. Ich habe mich damals viel mit Clara unterhalten. Es war das erste Mal, dass ich wirklich offen war zu einer Frau. Vielleicht, weil ich zu Anfang in Clara gar keine Frau sah, sondern mehr einen Kamaraden. Bis dahin traute ich den Frauen nicht. Ständig fürchtete ich, dass sie mir Fallen stellen und Fesseln anlegen könnten. Ich begehrte sie, hatte aber keine Ahnung, was Liebe ist. Kurz, ich war entsetzlich unreif. Clara hat mir geholfen, klar in mir zu sehen. Sie hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.“

„Ja“, murmelte Larissa. “Sie war auch immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte.“

Dann überschwemmte sie wieder Bitterkeit. „Wie kam das denn so plötzlich mit dem Kind? Du wolltest doch nie eins haben!“

„Das hing mit meiner Angst vor den Fallen und Fesseln zusammen. Als mir klar wurde, dass ich mir ein Kind von Clara wünschte, wusste ich, dass ich sie liebte. Ich sage das nicht, um dich zu kränken, Larissa. Und ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich habe dir oft weh getan. Es lag nicht an dir, sondern an mir, dass es zwischen uns nicht geklappt hat.“

Es gelang ihr, zu lächeln: „Es war mein Fehler, dass ich nicht verstanden habe, was dich quälte. Ich wünsche Clara und dir viel Glück.“

Julian schüttelte den Kopf, als sie ihm noch ein Schnittchen anbot: „Sie haben vorzüglich geschmeckt, aber ich denke, Clara wartet auf mich. Larissa, Clara und ich möchten dich so gern als Freundin behalten. Du wirst doch unsere Trauzeugin sein? Und später die Patin unseres Kindes?“

„Ich weiss nicht, Julian“, erwiderte sie ehrlich. „Ich denke, ich werde nach Kanada zurück gehen.“

„Doch nicht etwa unseretwegen?“

„Nicht euretwegen. Meinetwegen“, erwiderte sie.

„Das kommt aufs Gleiche heraus. Bitte, überleg es dir. Wir brauchen dich!“

Sie standen in der Diele, und plötzlich nahm Julian sie in die Arme und drückte sie fest an sich: „Glaub mir, ich bin nicht stolz auf mich, wie ich früher war. Ich weiss erst heute, was wahre Liebe ist. Ach, verdammt, ich will nicht, dass du jetzt weinst!“

„Ich weine nicht“, erwiderte sie fast grob. „Grüss Clara von mir!“ Rasch schob sie ihn zur Tür hinaus und schloss sie hinter ihm.

Larissa hatte sich energisch die Nase geputzt, hatte die Küche aufgeräumt und geduscht und wollte gerade mit einem Roman ins Bett gehen, als es leise klopfte.

„Störe ich?“ fragte Holger, als sie aufmachte.

„Natürlich nicht, komm rein.“ Sie war auf einmal sehr froh, dass er da war.

„Was hast du heute erlebt?“ fragte Holger.

„Du zuerst“, forderte sie ihn auf.

Nachdem Holger von der Elternversammlung erzählt hatte, berichtete sie ihm von Julians Besuch. Plötzlich nahm er seine Brille ab, holte ein kleines Tuch aus seiner Tasche und putzte sie. Seine Augen wirkten sehr nah und irgendwie verletzlich ohne die Brille.

„Willst du immer noch nach Toronto zurück?“ fragte er leise.

„Ja.“

„Wenn mir nur etwas einfiele, damit du hierbleibst!“

Vorsichtig setzte er seine Brille wieder auf und lächelte ihr zu. Sie spürte auf einmal die ruhige und trotzdem sensible Kraft, die von ihm ausging, und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Hier war er doch, der Mann zum Lieben, zum Lachen, zum Schmusen und Reden. Der Mann, den das Schicksal für sie massgeschneidert hatte. Der Typ Mann, für den sie bis jetzt blind war. Genau wie Julian jahrelang blind gewesen war für eine Frau wie Clara.

„Möchtest du wirklich, dass ich hierbleibe?“ fragte sie.

Er grinste: „Es hätte schon mal den Vorteil, dass ich dann vielleicht auch zur Hochzeit eingeladen würde. Ich mag Hochzeiten, weißt du?“

Trotz der später Stunde griff sie zum Telefon und wählte Claras Nummer.

Als sie nach zehn Minuten auflegte, lachte sie: „Das hast du davon, jetzt bist du auch Trauzeuge.“

Ernst erwiderte er: „Mit dir! Etwas Schöneres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und später müssen die beiden sich dann revanchieren.“

„Hoppla, nicht so schnell“, lächelte sie, aber dann verstummte sie. Weil sie in seinen Augen die schönste Liebeserklärung las, die sie je erhalten hatte. Gefolgt vom schönsten Kuss ihres Lebens …

ENDE

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Dienstag, 12. März 2013
Geld oder Glück
Victor Jahns könnte seine kleine Möbelfabrik vor dem Konkurs retten, wenn er die schöne Unternehmerstochter Tricia heiratet. Aber dann steht eines Tages die resolute Sandy in seinem Büro und hat eine Idee …
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Das trillernde Telefon auf seinem Schreibtisch riss Victor aus der Versunkenheit. Er nahm den Hörer ab und meldete sich: “Hier Victor Jahns.”

“Um Himmels Willen, was machst du? Weisst du, wie spät es ist?” Tricias Stimme klang unangenehm hoch, aber ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, dass sie allen Grund hatte, ärgerlich zu sein. Siedendheiss fiel ihm ein, dass heute im Sülwaldschen Haus eine Abendgesellschaft stattfand, zu der er eingeladen war.

“Verzeih, Liebes, in einer halben Stunde bin ich da!” Er sah noch einmal die Zeichnungen an, die er angefertigt hatte. Zeichnungen von Möbeln, die er gern in seinem Betrieb angefertigt hätte, wenn, ja, wenn es noch eine Zukunft für ihn gegeben hätte. Er nahm seine Weste und ging durch die menschenleere Werkstatt nach draussen. Das efeubewachsene Wohnhaus lag auf demselben Grundstück. Rasch duschte er, rasierte sich frisch und warf sich in Schale. Im Spiegel sah er einen gutaussehenden, hochgewachsenen Mann, der vielleicht ein wenig zu ernst dreinschaute.

Ehe er den Wagen startete, wandte er sich noch einmal nach dem Haus um, das unter dem Schutz der beiden Eichen dalag, die sein Grossvater gepflanzt hatte. Manche Rosenstöcke stammten noch aus der Zeit seiner Grossmutter. Vor zwei Jahren passierte das Drama: Victors Eltern verunglückten tödlich. Mit 28 Jahren stand Victor ganz allein vor der Aufgabe, den Familienbetrieb weiterzuführen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er gescheitert war, und es war kein Trost zu wissen, dass die Zeiten schwer waren für ein solches Unternehmen.

Er hatte noch die dröhnende Stimme seines zukünftigen Schwiegervaters im Ohr: “Mein Junge, als Betriebswirt solltest du wissen, dass eine derart arbeitsaufwendige Produktion keine Zukunft hat. Deine Möbel sind zu teuer!”

“Aber sie sind ihr Geld wert,” hatte er eingewandt. “Solche Möbel werden von Generation zu Generation weitervererbt.”

Herr Sülwald hatte gelacht: “Heute wollen die Leute lieber mal was Neues. Möbel wie die, die ich in meiner Firma herstelle. Daran verdienen wir. So funktioniert die Wirtschaft, mein Lieber.”

Vielleicht sollte er froh sein, dass Tricias Vater seinen Betrieb kaufen wollte, zumal er ja versprochen hatte, keine Kündigungen auszusprechen. Alle sollten im Sülwaldschen Unternehmen unterkommen. Die gesicherte Zukunft seiner Angestellten war Victor mindestens so wichtig wie das angenehme Leben, das er Tricia auf diese Weise ermöglichen konnte.

Herr Sülwald hatte betont: “Ich gebe dir gutes Geld für deinen Laden. Dafür kauft ihr euch eine schöne Villa, Tricia und du. Und ich stelle dich für ein anständiges Gehalt in meiner Firma ein.”

Tricia kam ihm in der Halle entgegen. Sie trug ein fliessendes, gletscherfarbenes Haute Couture-Kleid, das genau zur Farbe ihrer kunstvoll umrandeten Augen passte. Ihr Mund schimmerte verführerisch rot, ihr blondes Haar war hochgesteckt, was ihren schlanken Hals und ihre gebräunten Schultern vollkommen zur Geltung brachte. Die schöne Tricia brachte es fertig, gleichzeitig schutzbedürftig und unnahbar zu erscheinen, und wieder einmal schwor er sich, sie glücklich zu machen. Sie reichte ihm ihre parfümierte Wange zum Kuss und klagte: “Was hast du denn so lange gemacht?”

“Ich hab’ über mein Unternehmen nachgedacht.”

Sie zuckte die Achseln. “Wozu? Es wird doch sowieso geschlossen. Jetzt komm, sie haben schon angefangen zu tanzen!”

Erst um halb drei lag er in seinem Bett, nach einem kleinen Streit mit Tricia, die nicht einsehen wollte, warum er nicht bei ihr blieb, das heisst, im Haus ihrer Eltern. Er hatte Tricia mehr als einmal vorgeschlagen, bei ihm zu wohnen oder eine gemeinsame Wohnung zu mieten, die allerdings nicht sehr teuer sein durfte. Tricia hatte beides abgelehnt. Trotz seiner Liebe zu ihr erfüllte ihn auf einmal eine tiefe Traurigkeit.

Er dachte daran, wie er sie vor einem Jahr kennengelernt hatte. Sie stand am Strassenrand neben ihrem verunglückten Wagen, war selbst wie durch ein Wunder unversehrt. Nachdem Victor dafür gesorgt hatte, dass der Wagen in die nächste Werkstatt abgeschleppt wurde, hatte Tricia ihn gebeten, sie zur Party zu begleiten, zu der sie eingeladen war. Dort hatten sie sich ineinander verliebt. Wenig später hatte Tricia ihn ihren Eltern vorgestellt. Er wurde mit offenen Armen aufgenommen. Herr Sülwald vertraute ihm an, dass sein Töchterchen bisher wenig Glück mit Männern hatte: “Alles Nieten, Schmarotzer und Mitgiftjäger!”

In gewisser Weise fühlte er sich selbst als Schmarotzer, denn sein Schwiegervater würde ihm ja finanziell unter die Arme greifen, damit er Tricia eine angenehme Existenz bieten konnte, aber er würde hart dafür arbeiten, selbst wenn es ihn bedrückte, in Zukunft die seelenlosen Möbel seines Schwiegervaters herstellen zu müssen. Er wusste, dass es den Tischlern seines Betriebs genauso ging, aber dass auch sie darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Wenige Stunden später atmete er in der Werkstatt das Duftgemisch aus Holz, Klebemitteln, Lacken und Holzschutzmitteln ein, das ihn schon in seiner ganzen Kindheit begleitet hatte. Er wechselte gerade ein paar Worte mit einem Tischler, als er ans Telefon gerufen wurde.

“Victor Jahns”, meldete er sich.

“Sandy Franke”, erwiderte eine fröhliche Stimme. “Dürfte ich Ihnen einige Entwürfe vorlegen?”

“Entwürfe für Möbel?” erkundigte er sich.

“Nein, ich bemale sie. Schänke, Truhen, Kommoden …”

“So etwas haben wir nie gemacht”, zögerte er.

“Könnten Sie aber doch. Ich habe zufällig eine Kommode gesehen, die aus Ihrer Werkstatt stammt. Sie ist hervorragend gearbeitet.”

“Und kostet ein kleines Vermögen”, meinte er bitter. Er wollte ihr sagen, dass sein Unternehmen nicht mehr lange bestehen würde, aber sie drängte: “Ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein!”

“Gut”, kapitulierte er, “ich erwarte Sie.”

Sofort machte er sich Vorwürfe. Sie würde den Weg umsonst machen. Er nahm sich vor, ihr wenigstens die Auslagen zu ersetzen.

Pünktlich eine halbe Stunde später stand sie in seinem Büro. Sie war mittelgross und auf eine zupackende Art schlank. Aus haselnussbraunen Augen sah sie ihn aufmerksam an. Sie hatte ein natürliches, frisches Gesicht und langes, lockiges Haar. Jetzt blickte sie auf seinen mit Papieren übersäten Schreibtisch: “Wo kann ich meine Mappe hinlegen?”

“Hören Sie, ich hätte Sie nie kommen lassen dürfen. Der Betrieb wird nämlich bald schon zumachen.”

“Zumachen? Für immer? Das werden Sie doch wohl nicht zulassen?” Sie klang empört.

“Ich muss wohl.”

“Aber jetzt bin ich hier, und Sie können sich doch genausogut meine Arbeiten ansehen?” Sie schob einfach selbst vorsichtig die Papiere beiseite und legte die grosse grüne Mappe auf den freien Platz. Blatt für Blatt legte sie ihm ihre Entwürfe und die Fotos der von ihr bemalten Möbel vor, und er war gegen seinen Willen beeindruckt. Er hatte schon bemalte Bauernschränke und Truhen gesehen, aber nie so phantasievoll und in so wunderbaren Farben.

“Die Möbel, die ich bemalt habe, waren nicht so schön wie die, die Sie herstellen. Ich musste mich aus Geldmangel mit preiswerterem Material begnügen, aber ich hab immer Käufer dafür gefunden. Wenn ich jetzt Ihre Möbel bemalen darf, dann bin ich sicher, dass … dass diese Partnerschaft für uns beide von Nutzen sein wird.” Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, und er spürte auf einmal eine tiefe Freude, wie sie ihn seit langem nicht erfüllt hatte.

“Kommen Sie”, sagte er kurz entschlossen.

In der Werkstatt fanden sie eine Truhe. Verliebt fuhr Sandy über das rohe Holz, roch daran: “Hmm, Zedernholz. Genau das richtige Material für eine Truhe, es hält die Motten fern.”

“Bemalen Sie sie”, lächelte Victor, und spontan fuhr er fort: “Bald wird mir hier nichts mehr gehören, aber diese Truhe, die schenke ich ihnen, Sandy.”
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Sie fanden einen Raum, in dem Sandy ungestört arbeiten konnte. Manchmal kam Victor, um ihr zuzusehen. Oft bemerkte Sandy nicht einmal seine Gegenwart. Aber jemand anderes bemerkte die ihre: Als Tricia ein paar Tage später Victor abholte und Sandy entdeckte, kam sie in Victors Büro gestürmt: “Wer ist diese Person, die da eine Truhe bemalt?”

“Eine Künstlerin. Sie heisst Sandy Franke.”

“Warum hast du ihr Arbeit gegeben?”

“Weil es mir gefällt, was sie macht.”

“Und die Truhe willst du natürlich nachher verkaufen?”

“Ich hab sie ihr geschenkt.”

Tricia schnappte nach Luft: “Das kannst du nicht. Du weisst, dass Papa von seinen Anwälten den Kauf deines Betriebs vorbereiten lässt!”

“Noch gehört er mir, Liebes.”

“Und wie kommt es, dass ich nichts von dieser … Frau weiss?”

“Tricia, du hattest keine Zeit in dieser Woche. Du hast es mir selbst gesagt. Komm, ich stell dir Sandy vor.”

“Sandy? Du nennst sie schon beim Vornamen?”

“Ja, sie mich auch”, sagte er ehrlich. Irgendwie hatte es sich so ergeben, und es war ihm ganz natürlich erschienen.

Tricia übersah Sandys Hand, die diese sorgfältig mit einem terpentingetränkten Lappen gesäubert hatte.”Es freut mich, Sie kennenzulernen”, sagte Sandy trotzdem freundlich.

Tricias Augen waren kalt: “Dieser Betrieb wird bald meinem Vater gehören, Fräulein …”

“Franke”, halfen Victor und Sandy wie aus einem Mund aus.

“Komm schon Tricia, Sandy weiss es”, meinte Victor versöhnlich.

“Ich finde es jammerschade, wenn eine solche Qualitätsarbeit nicht mehr hergestellt wird.” Sandys Stimme war klar und fest.

“Mein Vater kauft den Berieb aus reiner Gefälligkeit, er zahlt einen guten Preis dafür, nur um ihn stillzulegen.”

“Und wem kommt das Geld zugute?”

“Meinem Verlobten und mir, natürlich. Aber ich weiss gar nicht, warum ich Ihnen hier Rede und Antwort stehe. Komm, Victor, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir sind nämlich heute Abend eingeladen, Fräulein Franke.”
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“Das war also Ihre Verlobte?” fragte Sandy am nächsten Tag.

“Sie ist nicht immer so”, verteidigte Victor sie.

Sandy antwortete nicht, wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Nach einer Weile meinte sie: “Wenn ich Sie wäre, würde ich diesen Betrieb niemals verkaufen. Gehen die Geschäfte denn wirklich so schlecht?”

“Wir kommen nur noch so eben über die Runden, und es geht abwärts. Es ist abzusehen, wann ich die Gehälter nicht mehr zahlen kann. Tricias Vater hat zugesagt, die ganze Belegschaft in seinem Betrieb unterzubringen. Mich inklusive.”

“Und daran glauben Sie?”

“Ich habe keine Wahl.”

Sandy schüttelte den Kopf: “Warum kämpfen Sie nicht? Ich glaube fest daran, dass bessere Zeiten für Ihren Betrieb kommen werden. Immer mehr Leute wollen keine Wegwerfware mehr.”

Er zuckte die Achseln. “Selbst wenn, Tricia will nicht warten. Sie möchte nicht einmal in meinem Haus wohnen.”

“Aber es ist wunderschön!”

“Wunderschön, aber stark renovierungsbedürftig. Tricia möchte eine moderne Villa mit allem Komfort.”

“Sie werden das bereuen”, sagte Sandy fest.

Er wusste plötzlich, dass sie recht hatte. Aber er trug Verantwortung für Tricia. Und für seine Angestellten. Sandy war jung, steckte voller Pläne und Illusionen. Verglichen mit ihr fühlte er sich uralt, von der Verantwortung erdrückt. Nein, er musste Herrn Sülwald dankbar sein für sein Angebot.

Einen Monat später gab Tricia eine grosse Fete zu ihrem 26. Geburtstag. Sie hatte in letzter Zeit wenig Zeit gehabt für Victor, und wenn sie sich sahen, war sie merkwürdig kühl. Victor grübelte, was er falsch gemacht hatte. Mehrere Male hatte er vergeblich versucht, mit ihr zu sprechen, um eventuelle Missverständnisse auszuräumen. Der Geburtstag, das wurde ihm gleich klar, als er die Halle der Sülwaldschen Villa betrat, war besonders ungeeignet, um Zwiesprache zu halten. Er hatte in einem Strauss roter Rosen eine Schachtel mit einer Kette versteckt, dessen Glieder aus goldenen Herzen bestanden. Ihm war bewusst, dass Tricia viel kostbareren Schmuck besass, aber die Herzen sollten ihr sagen, dass er sie liebte.

Tricia gab den Strauss sofort an das Mädchen weiter.

“Es steckt was drin”, sagte er.

Sie fand die kleine Schachtel, öffnete sie aber nicht, sondern legte sie achtlos beiseite.

“Tricia”, sagte er. “Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich liebe dich!”

Auf einmal lächelte sie weich, aber das Lächeln galt nicht ihm. Ihre Augen gingen an ihm vorbei. Victor drehte sich um. Ein elegant gekleideter, blendend aussehender Mann stand dort. Er näherte sich Tricia, nahm sie in die Arme und küsste sie - und Tricia erwiderte hingebungsvoll seinen Kuss. Victor stand da wie erstarrt. Was hatte das zu bedeuten? Was ging hier vor sich?

“Geh’ schon mal rein, ich komme gleich”, wies Tricia ihren Kavalier an und wandte sich dann an Victor. “Es tut mir leid, Victor, aber … wir haben uns beide geirrt.”

“Tricia, ich habe mich nicht geirrt.”

“Aber ich”, erwiderte sie bestimmt. “Robert kann mir problemlos ein sorgenfreies Leben bieten. Sieh dir das Armband an, das er mir geschenkt hat!”

Victor warf einen Blick auf den rubinbesetzten Platinreifen und dachte mit einem Ziehen im Herzen an seine bescheidene Kette. Jetzt wünschte er, sie möge die Schachtel nie öffnen. Sie würde sich über sein liebevoll ausgesuchtes Geschenk lustig machen. “Ja dann”, sagte er und holte tief Luft, während Enttäuschung und Qual seine Brust zerrissen, “dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir Glück zu wünschen.”

“Danke, Victor”, lächelte sie erleichtert. “Du verstehst sicher auch, dass Papa unter diesen Umständen nicht mehr deinen Betrieb kaufen wird?”
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Sandy war noch da, als er die Werkstatt betrat. Die Truhe war ein kleines Wunderwerk geworden, sie war jetzt dabei, einen Schrank zu bemalen. Der vertraute Geruch von Holz und Terpentin war wie Balsam für sein wundes Herz.

“Schon wieder zurück?” fragte sie und sah ihn aufmerksam an: “Ist etwas … passiert?”

Auf einmal war ihm leichter zumute. Es war vielleicht ein Glück, nein, es war sicher ein Glück, dass er sein kleines Unternehmen behielt: “Tricia hat sich mit jemandem anderen verlobt. Mit jemandem, dem man kein Geld geben muss, um die eigene Frau standesgemäss zu unterhalten.”

Sandy stand in ihrem farbbeklecksten Kittel vor ihm, und ihre Augen blickten ganz sanft: “Tut es sehr weh?” fragte sie leise.

Er reckte sich, schüttelte den Kopf und lachte ein bisschen: “Nein, nicht so sehr, wie ich fürchtete.”

Er merkte plötzlich, dass ihre Begeisterung und Energie ihn angesteckt hatten: “Bitte, bemal’ noch ein paar Möbel. Wir stellen sie auf der nächsten Messe aus, zusammen mit ein paar anderen Möbeln aus der Werkstatt. Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht mit vollen Auftragbüchern zurückkommen würden.”

Sie blitzte ihn vergnügt an: “Als dynamischer Unternehmer gefällst du mir viel besser als als Tricias ergebener Verehrer. Auf mich kannst du zählen!”

Und zum ersten Mal kam ihm die Ahnung, dass das wirkliche Glück vor ihm stand. Zum Greifen nah …

ENDE

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Freitag, 8. März 2013
Ein Mann zuviel für Isabel
Schon in der Schule war der flotte Harro heftig umschwärmt, und Max spielte stets die zweite Geige. Wird das so bleiben?
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Max Kempen umfasste Isabels zierliche Gestalt mit einem zärtlichen, beschützenden Blick. “Ich möchte mich von dir verabschieden. Morgen früh geht’s los.”

Isabel lächelte ihm zu: “Du, das finde ich riesig nett, dass du noch vorbeigekommen bist. Wie lange wird die Bodenuntersuchung denn dauern?”

“Wir rechnen mit zehn Tagen.” Der junge Geologe folgte Isabel, die ihm vorausging, ins Wohnzimmer. Es bereitete ihm immer unsagbare Freude, aber auch eine geheime Qual, der jungen Frau nahe zu sein. Er liebte sie seit der Abiturklasse, aber schon damals war er nur der zweite in ihrem Herzen gewesen, der Kumpel, der gute Freund. Den ersten Platz hatte Harro Friedrichsdorf eingenommen. Max war oft versucht gewesen, ihr zu sagen: “Lass die Finger von Harro! Er wird dich nicht glücklich machen.” Aber würde sie auf ihr hören? Ausserdem konnte sie vielleicht denken, er wolle Harro in ihren Augen nur schlecht machen, um sie für sich zu gewinnen.

Das Ganze war um so schwieriger, als Harro seit zwei Jahren ein unsichtbarer Gegner war, geradezu verklärt in Isabels Erinnerung. Er war als Bauingenieur im Ausland tätig und schickte nur ab und zu eine Mail mit nichtssagenden Grüssen, aber das genügte, um sich in Isabels Gedächtnis zurückzubringen.

Isabels Wohnzimmer war hell gestrichen. Um ihren Schreibtisch herum waren Kinderzeichnungen an die Wand geheftet, ungeschickt, aber mit Liebe von ihren kleinen Schülern für sie gemalt. Isabel unterrichtete in einer Grundschule.

Max betrachtete eins der Bilder, das er noch nicht kannte. In der Mitte prangte ein Haus mit rauchendem Schornstein, davor stand eine Frau, die Isabels langes braunes Haar hatte, mit einem Mann und einem Kind. Alle drei sahen fröhlich aus und waren von bunten Blumen umgeben. Links pickten zwei etwas missglückte Hühner Körner vom Boden auf.

“Das hat Rolfi mir geschenkt”, erklärte Isabel, die seinem Blick gefolgt war. “Er findet, dass ich einen Mann und ein Kind haben sollte.”

Da dachte Max plötzlich: Vielleicht ist es nur Feigheit, wenn ich ihr nichts sage. Wie soll Isabel wissen, dass ich sie liebe, wenn ich nie etwas sage? Er atmete tief ein, nahm seinen ganzen Mut zusammen und brachte heraus: “Ich würde gar zu gern dieser Mann sein, Isabel. Ich … ich liebe dich schon seit langem!”

Es war gesagt, aber er fühlte sich nicht wohler. Er hatte Angst vor Isabels Antwort, Angst, sie in Verlegenheit zu bringen.

Sie hatte den Kopf gesenkt. Schalt sich ob ihrer Ungeschicklichkeit. Warum hatte sie ihm das Bild erklärt? Sie hatte sein Geständnis ja förmlich herausgefordert. Sie ahnte längst, dass er sie liebte. Armer, lieber, lieber Max. Sie kannte ihn so gut, brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er breite, zuverlässige Schultern hatte, ein rundes, gutmütiges Gesicht, braune Augen und lockiges, jungenhaft zerzaustes Haar. Ihr Verstand sagte ihr auch, dass Max eine Frau sehr glücklich machen konnte, und sie horchte in sich hinein, um ein Echo auf seine Liebeserklärung zu finden. Aber sie empfand nur Freundschaft für ihn. Alles andere, die leidenschaftlichen Gefühle, die Freude und auch die Pein, gehörten zu Harro. Alle Mädchen hatten für Harro geschwärmt, aber er hatte sie zur Freundin gewählt, und sie hatte sich ausgezeichnet gefühlt. Ein Gedanke kam ihr allerdings: Manchmal hatte sie die Augen fest verschliessen müssen, weil Harro es mit der Treue nicht so genau nahm. Doch sie schob ihn rasch beiseite. Die Sehnsucht nach ihm war so stark …

Jetzt sah sie Max wieder an. Sie wollte ihn nicht verletzen, wollte diesen treuen Freund nicht verlieren. Was sollte sie ihm nur antworten?

Aber da sagte er schon hastig: “Sprich nicht, Isabel! Ich rede ja Unsinn. Vergiss es. Ich muss auch wieder rüber, um meine Sachen zu packen.”

Sie begleitete ihn bis zur Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange: “Du bist mein bester Freund. Viel Glück bei der Prospektion, ich hoffe, ihr findet etwas!” Ihre Augen baten um Entschuldigung.
Er drückte sie einen Augenblick wortlos an sich und liess sie dann sanft wieder los.
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Max war seit einer Woche fort, und Isabel fühlte sich einsam. Morgens unterrichtete sie, nachmittags bereitete sie den Unterricht für den nächsten Tag vor, korrigierte Hefte. Aber wenn sie nichts mehr zu tun hatte, fehlte ihr Max. Seit er vor einem Jahr ebenfalls in dieses Apartementhaus gezogen war, hatten sie sich fast jeden Tag gesehen, wenn er nicht für die Firma, die ihn eingestellt hatte, auf Reisen war, um nach neuen Rohstoffvorkommen zu suchen.

An diesem Abend konnte sie sich nicht entschliessen, Abendbrot zu machen. Sie blätterte zerstreut in einer Zeitschrift, als es klingelte. Sie erwartete niemanden. Etwas beunruhigt drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage: “Wer ist da, bitte?”

“Wer schon? Ich natürlich, Harro!” Die Stimme klang so selbstsicher, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Isabels Herz tat einen Hopser, als wäre sie in einem Fahrstuhl, der nach unten saust. “Ich mach’ auf, Harro. Komm rauf!”

Als er aus dem Fahrstuhl trat, wurden ihre Knie weich. Wie gut er aussah, so braungebrannt!

Er lächelte auf sie herab: “Wie geht’s dir, Mädchen?”

Sie hatte sich diesen Augenblick so oft ausgemalt, war in Gedanken so oft in seine Arme gesunken. Aber ein Rest von Stolz hielt sie davon ab. Sie gab sein Lächeln zurück und antwortete: “Danke, gut. Du siehst übrigens auch gut aus. Und wo kommst du so plötzlich her?”

“Direkt aus Nordafrika, meine Liebe, und mein erster Weg führt zu dir!”

Sie trat beiseite, um ihn hereinzulassen. Ihr Herz spielte immer noch verrückt. Sie hoffte, dass er es nicht merkte.

Er schloss die Tür, nahm sie in die Arme und küsste sie auf eine Weise, dass sie zu verfliessen glaubte. Sie wünschte, dass diese Umarmung ewig dauern würde, aber schon liess er sie los: “Mach’ dich hübsch, Isabel. Ich führe dich ganz gross aus!”

Sie spürte eine schmerzende Enttäuschung, weil er ausgehen wollte, statt mit ihr hierzubleiben. Aber sie hatte immer getan, was Harro wollte, und gehorchte auch jetzt. Während er im Wohnzimmer eine Zigarette rauchte, die Augen leicht zusammengekniffen, zog sie sich um. Sie sagte sich, dass er recht hatte, nichts zu überstürzen, dass ja die ganze Nacht vor ihnen lag. War es nicht köstlich, den Augenblick, in dem sie sich wirklich wiederfinden würden, auf diese Art hinauszuzögern?

Sie wählte das schwarze Kleid, das ihre Figur so gut zur Geltung brachte. Harro hatte ihr einmal gesagt, dass Schwarz ihre Farbe sei. Schwarz zu ihren kastanienbraunen Haaren! Die bürstete ihr Haar und steckte es zu einer komplizierten Frisur auf. Dann umrandete sie ihre Augen, tuschte die Wimpern, trug Lidschatten und Rouge auf und zog ihre Lippen nach. Eine völlig veränderte Frau sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Ihre kleinen Schüler würden sie nicht wiedererkennen. Max auch nicht. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Harro mochte sie so am liebsten, und er sollte stolz auf sie sein.

Er hatte einen Tisch im besten und teuersten Restaurant der Stadt reserviert, und er genoss es sichtlich. “Ein Gutes haben diese Auslandsaufenthalte: Ich kann mir einigen Luxus leisten”, stellte er befriedigt fest.

Eine junge Frau, die nicht weit von ihnen entfernt mit ihrem Begleiter an einem anderen Tisch sass, sah immer wieder zu ihnen hinüber, versuchte vergeblich, Harros Blick einzufangen. Isabel merkte es, doch sie war es so gewöhnt. Harro machte immer Eindruck auf andere Frauen.

Aber plötzlich stand die Frau auf und kam an ihren Tisch: “Harro, welch eine Überraschung! Du bist wieder zurück!” gurrte sie mit verführerischer Stimme.

Harro hob den Kopf, und ein erfreutes Lächeln ging über sein Gesicht: “Cornelia! Komm, setz’ dich einen Moment zu uns!”

Das liess Cornelia sich nicht zweimal sagen, sie nahm Platz.

“Cornelia - Isabel”, machte Harro ziemlich lässig die beiden Frauen miteinander bekannt.

Cornelia nickte kurz und kühl in Isabels Richtung und wandte sich sofort wieder Harro zu: “Wo hast du denn zuletzt gesteckt?”

“Nordafrika.” In dem knappen Wort lagen Sonne, Wüste, Abenteuer.

Isabel hatte freundlich zurückgenickt. Harro mochte es nicht, wenn sie Verunsicherung oder gar Eifersucht zeigte. Situationen von früher fielen ihr ein. Sie wusste, dass sie liebenswürdig sein und versuchen musste, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, indem sie geistreicher und amüsanter war als ihre Rivalin.

Sie suchte nach einer Bemerkung, mit der sie Harro zum Lachen bringen konnte, und fand sie. Er lachte, wandte sich aber gleich wieder Cornelia zu.

Früher war Isabel sehr begabt gewesen für dieses Spiel, aber etwas musste sich seitdem geändert haben, denn sie fand es auf einmal gar nicht mehr lustig. Wie aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters sah sie alle drei hier am Tisch sitzen: zwei junge Frauen, die darin wetteiferten, einem Mann zu gefallen. Die Spielregel war einfach. Die Bessere würde gewinnen. Harro war der Preis.

Isabel war jetzt vollständig ernüchtert, verstand sich selbst nicht mehr. Was hatte sie hier überhaupt zu suchen? Warum machte sie diesen demütigenden Wettbewerb mit, in dem es immer nur einen Sieger gab, nämlich ihn? Und Harro, was empfand er für sie? Das war doch keine Liebe. Liebe, das war etwas anderes, Uneigennützigeres. Liebe, das war so … wie Max sie liebte. Sie sah sein gutes Gesicht vor sich, fühlte Sehnsucht.

Langsam faltete sie ihre Serviette zusammen, legte sie neben ihren Teller. Cornelia würde den Sieg durch Aufgabe davontragen. Von der Aufgabe merkte Harro nichts, er lachte gerade laut über Cornelias letzte Bemerkung, sah sich nicht einmal nach ihr, Isabel, um, weil sie nichts mehr sagte.

Sie nahm ihre Handtasche, stand auf und ging mit steifen Schritten dem Ausgang zu. Nur Cornelias glitzernder Blick folgte ihr ein paar Sekunden. Es lag ein geheimer Triumph in ihren Augen.

Isabel kam an dem Tisch vorüber, an dem Cornelias Begleiter nun schon eine ganze Weile allein sass. Er sah traurig aus, und sie hätte ihm gern etwas Tröstliches gesagt. Vielleicht, dass es nicht lohnte, wegen einer Frau wir Cornelia unglücklich zu sein. Da traf sie wie ein Blitz die nächste Erkenntnis. Auch Max war unglücklich. Ihretwegen. Und auch sie war eigentlich seiner Liebe nicht wert.

Sie liess sich von einem Taxi nach Hause fahren, verbannte das schwarze Kleid in die hinterste Ecke des Schrankes. Sie mochte helle, fröhliche Farben doch viel lieber! Sie schminkte sich ab, stellte sich unter die Dusche. Seltsamerweise fühlte sie sich überhaupt nicht traurig, eher wie von einer Last befreit. Sie schämte sich nur, dass sie das alles so lange mit sich hatte machen lassen, nur um Harro zu gefallen.

Am nächsten Tag, als sie von der Schule nach Hause kam, fand sie einen handgeschriebenen Zettel im Briefkasten: “Was war denn los mit dir? Warum warst du so plötzlich verschwunden? Wir können uns nicht mehr sehen, ich muss heute schon wieder fort.” Harro hatte nicht einmal unterzeichnet, aber sie glaubte, seine Stimme zu hören. Sie klang vorwurfsvoll und beleidigt. Sie hatte ihn um einen Spass gebracht, um das Gefühl, begehrt und umkämpft zu werden. Und jetzt erkannte sie ihn als das, was er war: ein charmanter, aber rücksichtsloser Geniesser. Aber waren die Frauen denn nicht selbst schuld daran, wenn er so war? Sie machten es ihm zu leicht!

Sie knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Vielleicht würde er ja eines Tages der Frau begegnen, die ihn die Liebe lehren würde. Sie wünschte es ihm, aber sie wusste, dass nicht sie es sein würde.
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Abends klopfte es an ihre Tür: “Ich bin es, Max.”

Sie sprang auf und öffnete ihm: “Oh, Max, du bist schon wieder da?” Tiefe Freude erfüllte sie in diesem Augenblick.

Er lächelte ihr etwas unsicher zu: “Es ging schneller, als wir angenommen hatten. Die anderen wollten noch übers Wochenende bleiben, um sich die Umgebung anzusehen, aber ich bin doch lieber zurückgekommen.” Er brach ab, als fürchtete er, schon zuviel gesagt zu haben.

Isabel war es, als sähe sie ihn mit ganz neuen Augen - und auch mit einem neuen Herzen. Einem Herzen, das endlich frei war. “Ich bin so froh, dass du da bist”, sagte sie leise.

“Ist das wirklich wahr?”

Sie würde Max alles erzählen, nahm sie sich vor. Nachher. Jetzt ging sie nur einen Schritt auf ihn zu. Er stellte keine Fragen, er öffnete ihr seine Arme, schloss sie warm und schützend um sie. Sie fühlte durch den Stoff seines Hemdes, wie sein Herz klopfte, und ihr Herz antwortete ihm endlich. Sie spürte das Echo in ihrem ganzen Körper …

ENDE

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Mittwoch, 6. März 2013
Ein Schlips zum Verlieben
Sandra findet, dass ihr neuer Nachbar Jost Herding einsam und traurig aussieht, und auch etwas bieder und langweilig. Sie beschliesst, sich um ihn zu kümmern. Auf rein freundschaftlicher Basis, denn ihr Herz gehört ja schon einem anderen ...
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„Guten Tag, Frau Gersch.“

Sandra erkannte ihren neuen Nachbarn wieder. Er liess ihr an der Haustür höflich den Vortritt.

„Hallo, Herr Herding!“ grüsste Sandra fröhlich zurück. Jost Herding war vor einer Woche in die Wohnung nebenan gezogen. Seine guten Manieren gefielen ihr, aber seine äussere Erscheinung ...! Während sie zusammen im Fahrstuhl hochfuhren, musterte sie ihn verstohlen. Er schien nur klassische Anzüge, weisse Hemden und Opa-Schlipse zu besitzen. Sein dichtes Haar trug er straff zurückgekämmt. Er wirkte langweilig und bieder, fand Sandra, und sehr mitteilsam schien er auch nicht zu sein. Sehr glücklich auch nicht.

Sandra hatte ein gutes Herz und interessierte sich für ihre Mitmenschen. Dieser Mann brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, entschied sie. Freundlich fragte sie: „Wie gefällt Ihnen Hamburg, Herr Herding?“

„Recht gut, es ist nett, dass Sie fragen.“

Seine Antwort ermutigte sie. „Langweilen Sie sich nicht?“ fragte sie weiter. „Ich meine, man kann sich ziemlich allein fühlen so am Anfang in einer fremden Stadt.“

„Ach, mein Job wird mich schon genug in Anspruch nehmen“, meinte er.

Sandra beschloss, hartnäckig zu bleiben: „Na, wenn Ihr Beruf Ihnen abends etwas Zeit lässt, kommen Sie doch zu einem Glas Wein herüber. Wir sind doch Nachbarn und sollten uns vielleicht etwas besser kennenlernen.“

Als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, war ihr einen Augenblick sehr unbehaglich zumute. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Das hatte sie nun von ihrem Kümmerertrieb ...
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„Sie meinen, ich sollte mich anders anziehen?“ Jost Herding sah ziemlich ratlos an sich herunter. Dabei hatte er extra das Hemd gewechselt und eine andere Krawatte umgebunden, ehe er zu seiner hübschen Nachbarin hinüberging.

Zwei Gläser Wein hatte Sandra gebraucht, um mit der Bemerkung herauszurücken. „Wenn es schon ein Anzug sein muss, dann sollten Sie ihn wenigstens etwas heller wählen. Sie könnten auch mal einen Pullover zum Hemd anziehen, und zum Beispiel den Pullover um die Schulter knoten. Und schwarze blankgeputzte Schuhe müssen es auch nicht unbedingt sein.“

„Wissen Sie, in meinem Beruf ... Ich bin jetzt der jüngste Rechtsanwalt in einer sehr seriösen Sozietät. Na ja, ich war halt immer sehr seriös ...“

Sandra trank noch einen Schluck: „Arbeiten Sie denn immer? Gehen Sie nie aus?“

„Ich kenne niemanden hier“, zögerte er.

„Das wird sich bald ändern“, tröstete sie ihn. Damit es keine Missverständnisse gab, setzte sie hastig hinzu: „Mein Freund ist gerade in Berlin, ich habe also Zeit.“ Auch falsch! Das klang ja so, als ob sie einen Ersatz für Hajo suchte, oder?

Überstürzt fuhr sie fort: „Morgen ist Samstag und ich habe frei. Wir könnten zusammen in die Stadt gehen, dann zeige ich Ihnen, was ich meine. Ich bin sicher, dass Sie viel mehr aus Ihrem Typ machen könnten.“

Ja, das würde Spass machen, und es war genau das Richtige, um sie von ihren Gedanken an Hajo abzulenken. Hajo Wolf, hochgewachsen, gutaussehend und sportlich, ihr absoluter Traummann, brachte nun schon seit über einem Jahr in Herz zum Klopfen. Er hatte noch nicht von Heirat gesprochen, aber das mochte daran liegen, dass er als Unternehmensberater sehr beschäftigt war. Er war noch dabei, sich einen Platz an der Sonne zu schaffen.
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Jost stand etwas linkisch vor dem Spiegel, und sein Anblick, der Anblick eines unbeholfenen Mannes in einem Herren-Bekleidungsgeschäft, rührte Sandra irgendwie. Geduldig hatte er sich von ihr und der blonden Verkäuferin beraten und einkleiden lassen: Freizeithose, dezent kariertes Hemd, heller Pullover.

Jetzt beobachtete sie, wie die junge Verkäuferin mit den getuschten Wimpern klimperte und Jost bei jeder Gedelenheit anlächelte. Sie flirtete mit ihm! Der erste Erfolg, selbst wenn Jost nichts davon zu merken schien.

„Toll sehen Sie aus“, sagte die Verkäuferin zum Schluss.

„Ja, wirklich gut“, bestätigte Sandra zufrieden.

Jost Herding bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken mit seiner Kreditkarte. Die neuen Sachen hatte er gleich anbehalten, sein Anzug wurde in eine Tragetasche gesteckt. Und der anschliessende Schuhkauf - Slipper aus weichem braunen Leder, war dann schnell erledigt.

Als sie ein Café betraten - Jost Herding hatte darauf bestanden, Sandra zum Dank einzuladen - bemerkte sie die Blicke einiger Damen, die ihm folgten. Die Alterskategorie kam noch nicht ganz hin, die Damen waren mindestens zehn Jahre älter als ihr Schützling, aber das lag an der Frisur, entschied Sandra. Sie wartete, bis die beiden Kännchen Kaffee mit dem Stück Kuchen vor ihnen standen und meinte dann: „Jost, Sie sollten sich einen flotteren Haarschnitt zulegen.“

„Hmm.“ Er schien zu überlegen. Dann überrumpelte er sie mit einem Lächeln: „Und wenn wir mal nicht mehr von mir, sondern von Ihnen sprechen? Bitte, erzählen Sie mir doch etwas über sich. Was tun Sie beruflich, was mögen Sie, und was mögen Sie nicht? Abgesehen von meinem Aussehen?“

Er hatte Humor, stellte sie überrascht fest. Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut. „Also, ich arbeite in einem Reisebüro. Meine Hobbys sind Bücher, Reisen und Fremdsprachen.“ Und Kinder, hätte sie beinahe hinzugefügt, für Kinder würde sie sogar leichten Herzens das Reisen aufstecken, aber das hatte hier wohl nicht seinen Platz.

„Und Sie sind bezaubernd.“

Sie sah ihn verwundert an. Genügte es denn schon, in anderer Kleidung herumzulaufen, um einen reservierten Mann in einen Draufgänger zu verwandeln? Es bestand allerdings die Möglichkeit, dass sie sich von Grund auf in ihm geirrt hatte. Der Gedanke war verwirrend und etwas peinlich.

„Das Kompliment darf ich Ihnen doch machen, obwohl Sie einen Freund haben?“ In seiner Stimme klang tatsächlich Bedauern mit. Jetzt musste sie aufpassen, dass er keine falschen Schlüsse zog. Schliesslich wollte sie ihm nur helfen. Und zwar nur das.

Rasch sah sie auf die Uhr: „Es tut mir leid, Jost, aber ich muss nach Hause. Vielleicht möchten Sie ja noch etwas in der Stadt bleiben?“

„Selbstverständlich begleite ich Sie.“ Schon winkte er der Bedienung, um zu zahlen.
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Die folgenden beiden Wochen grüsste sie absichtlich nur kurz, wenn sie sich begegneten. Der neue Haarschnitt stand ihm richtig gut, konnte sie dabei feststellen. Damit sah er jetzt selbst in seinen alten, langweiligen Anzügen viel besser aus, und das freute sie. Sie konnte dieses positive Gefühl gut gebrauchen, denn ihr restliches Leben glich in diesen Tagen eher einer Tragödie.

Sie hatte mit Hajo gesprochen. Hatte ihm gesagt, dass sie mit bald 27 Jahren gern eine Familie gründen würde. Worauf Hajo einige dumme Sprüche vom Stapel gelassen hatte, die er wohl witzig fand: „Hoffentlich nicht mit mir? Doch? Deine biologische Uhr fängt aber früh an zu ticken, Liebling. Gewöhnlich passiert das bei euch doch erst so um die 35. Von dir hätte ich das sowieso nie gedacht, du bist doch alles andere als ein Hausmütterchen-Typ!“

„Was ist denn deiner Meinung nach ein Hausmütterchen-Typ?“ hatte sie spitz gefragt.

Er brauchte nicht lange zu überlegen: „Hausmütterchen sind mollig und unscheinbar. Mütterlich, eben.“

Hajo kam ihr doch tatsächlich mit diesen blöden Klischees!

Sie wollte es jetzt genau wissen: „Hajo, kannst du dir im Prinzip eine gemeinsame Zukunft zwischen uns vorstellen?“

„Ich entscheide nicht gern mit einer Pistole vor der Brust, Schätzchen. Gib mir etwas Zeit, okay?“

Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

In Gedanken versunken durchquerte sie die Eingangshalle des Appartmenthauses. Jost stand vor dem Fahrstuhl, aber nicht allein. Er war in Begleitung einer äusserst attraktiven Frau. Kastanienfarbenes Haar, grüne Augen, endlos lange Beine. Sie grüssten Sandra mit einem freundlichen Lächeln. Sandra grüsste zurück. Oben verschwanden die beiden in Josts Wohnung.

Jetzt hatte Jost also eine Freundin! Sandra ertappte sich dabei zu horchen, was nebenan geschah, aber die Wände waren tadellos isoliert. Seufzend stellte sie schliesslich den Fernseher an ...

Am nächsten Morgen begegnete sie Jost wieder im Aufzug. Er war allein. Sollte sie ihn nach seiner Begleiterin fragen? Oder war das indiskret? Ihr war, als blinzle Jost ein paarmal zu ihr hinüber, aber dann hielt der Lift. Der Augenblick war verpasst ...
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Zwei Tage später ging es ihr noch schlechter, sofern das überhaupt möglich war. Denk nicht daran, dass heute dein Geburtstag ist, ermahnte sie sich. Und denk vor allem nicht mehr an das Telefongespräch gestern Abend mit Hajo. Sie hatte sich ein Herz gefasst und ihn angerufen. Um ihn sagen zu hören, dass er daran dächte, nach Frankfurt umzuziehen. Er könne ihr natürlich nicht zumuten, seinetwegen ihre interessante und gut bezahlte Arbeit aufzugeben, um ihm nach Frankfurt zu folgen, nicht wahr? Nach einem raschen: „Adieu, Sandra, ich wünsche dir alles Gute“, hatte er aufgelegt. Ohne sie zu Wort kommen zu lassen.

Noch einmal davongekommen ...! So beglückwünschte er sich jetzt sicher. Er verdiente keine einzige ihrer Tränen, aber es tat weh. Ja, es tat weh, sich wieder einmal derart geirrt zu haben. Sie dachte an Claus, den sie vor ein paar Jahren geliebt hatte. Auch er war ein gutaussehender Windhund gewesen.Was war mit ihr los? Hatte sie einen Webfehler? Wo war der Mann, mit dem sie glücklich werden konnte?

Es klopfte an ihre Tür. Als sie öffnete, stand Jost davor. In hellblauem Hemd und flottem Schlips mit fröhlichen Margeriten darauf. Sehr mutig für einen Mann wie Jost, dachte Sandra und musste schmunzeln.

„Störe ich?“ fragte er vorsichtig.

„Natürlich nicht, kommen Sie herein.“ Sie freute sich, ihn zu sehen.

Er stand im Wohnzimmer und sah sich anerkennend um: „Ich habe Ihnen das letzte Mal nicht gesagt, wie hübsch und gemütlich es bei Ihnen ist.“

Ja, es war hübsch bei ihr: die hellen Möbel, die Vorhänge mit dem zarten Blumenmuster. Ein echter, wenn auch ziemlich abgewetzter Perserteppich, den sie, genau wie das alte Rosenthalgeschirr, auf dem Flohmarkt gefunden hatte.

Jetzt zauberte er einen Blumenstrauss hinter seinem Rücken hervor: Zartrosa Rosen. Bei ihrem Anblick stiegen ihr heiss die Tränen in die Augen: „Danke, sie sind wunderschön“, sagte sie, als sie sie in eine Vase stellte. Spontan schlug sie vor: „Bleiben Sie zum Abendessen? Ich habe genug für zwei.“ Trotz aller Vernunft hatte sie gehofft, dass Hajo kommen würde. Dann fiel ihr Josts Freundin wieder ein. „Für drei würde es sicher auch reichen.“

„Danke, eine Portion genügt mir“, lachte Jost. „Darf ich den Wein dazu beisteuern?“

Er durfte. Und holte zwei Flaschen ausgewählten Burgunder von nebenan. Es wurde ein richtiges Festessen, rasch mit Hilfe von Jost, in ihrer kleinen Küche gezaubert. Und eingenommen am hübsch gedeckten runden Tisch in der Essecke.

„Jost, heute ist mein Geburtstag.“ Irgend jemandem musste sie es einfach erzählen.

„Ihr Geburtstag? Und Sie sind ganz allein?“

„Das bin ich ja nun nicht mehr.“ Sie lächelte tapfer.

„Ich dachte, Ihr Freund ...“

„Wenn es darauf ankam, war Hajo sowieso nie da.“

Jost runzelte kurz die Augenbrauen. Was den Schluss zuliess, dass ihm die Vergangenheitsform nicht entgangen war.

Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte eine Nummer ein.

„Ja, eine Geburtstagstorte, haben Sie so etwas?“ Und zu Sandra gewandt: „Mögen Sie Käsekuchen?“

Sie nickte begeistert.

„Fein. Und Sie können gleich liefern? Wieviele Kerzen?“ Er sah fragend zu Sandra hinüber.

„Siebenundzwanzig“, sagte sie.

„Siebenundzwanzig“, wiederholte er. „Und ich möchte richtige Kerzen. Und dazu eine Flasche Champagner. Gut gekühlt.“ Er nannte die Adresse und legte auf.

„Ich bin dreissig“, sagte er dann, „und ich trage mich mit Heiratsgedanken. Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen das zu sagen.“

„Es gab eben Frauen, die Glück hatten: „Herzlichen Glückwunsch, Sie passen ganz wunderbar zusammen“, sagte sie ehrlich überzeugt.“

„Wer passt wunderbar zusammen?“ fragte er und sah etwas ratlos aus.

„Sie und Ihre Freundin im Fahrstuhl. Vorgestern.“

„Ach so, Natascha. Aber ...“

„Der Name passt zu ihr ...“

Jost unterbrach sie. „Bitte, lassen Sie mich aussprechen, Sandra, sonst verliere ich den Faden. Also, Natascha ... also, sie ist meine Ex-Frau. Sie kam, um mir zu sagen, dass sie wieder heiraten will.“

Sandra sah ihn mit offenem Mund an: „Sie ... Sie waren verheiratet?“

„Ja, aber wir haben schnell gemerkt, dass wir eher wie Bruder und Schwester füreinander empfinden. Das liegt wohl daran, dass wir uns von Kind auf kennen. Jetzt dagegen ...“

Es klingelte. Der Partydienst. Jost beglich die Rechnung und verschwand mit den beiden Isolierbehältern in der Küche. Kurz darauf kam er mit der Torte zurück, auf der 27 kleine Kerzen brannten. Dann holte er den Champagner, schenkte ein und hob das Glas: „Auf dich, Sandra. Alles Gute zum Geburtstag. Ich liebe dich, und was du mir auch antworten wirst, es wird nichts daran ändern, dass du die Frau meines Lebens bist. Es ist ... es ist passiert, als wir miteinander in der Stadt waren.“

Und plötzlich geschah ein Wunder. Ihr Herz klopfte, so stark und warm, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Damit er nicht sah, wie verwirrt sie war, pustete sie alle Kerzen auf einmal aus.

„Hast du dir etwas gewünscht?“ fragte er.

Sie nickte ernsthaft. „Ich habe etwas begriffen und mir etwas gewünscht. Ich habe begriffen, dass ich mich bis jetzt immer in die falschen Männer verliebt habe und wünsche mir ... ach, Jost, das musst du schon allein herausfinden ...“

Sie zog ihn an seinem Schlips ganz nah zu sich heran. Als er sie küsste, verstand sie nicht mehr, wieso sie ihn je bieder und langweilig finden konnte ...

ENDE

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Montag, 4. März 2013
Komm zurück, geliebtes Ekel!
Silke dachte an den Kuss, den Bodo nachher von ihr bekommen sollte, ein Kuss, bei dem ihm Hören und Sehen vergehen würde …
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Silke schloss die Haustür auf: “Bodo, bist du da?”

“Natürlich, wo soll ich sonst sein?” Er hörte sich an, als hätte er einen besonders schlechten Tag gehabt. Natürlich war ihre Frage blöde gewesen, dachte Silke, aber alles, was sie sagte, war falsch in letzter Zeit. Entmutigt ging sie ins Wohnzimmer – und hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht.

Dieser Zigarettengestank, diese Unordnung! Dabei hatte Bodo schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Schweigend öffnete sie die Fenster, sammelte die herumliegenden Zeitungsblätter ein und leerte die vollen Aschenbecher aus, während ihr Zorn wuchs. Schliesslich arbeitete sie den ganzen Tag. Aber das Thema Arbeit war eben auch schon länger tabu.

Bodo ging leicht schwankend zur Bar und wollte sich einen Whisky einschenken. Den wievielten an diesem Tag? Der Streit war vorprogrammiert. Mit zwei Schritten war Silke bei ihm: “Lass das”, sagte sie scharf. Und auf einmal wurde ihr alles zu viel: Sie liess sich aufs Sofa fallen, schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.

Nach einer Weile klappte die Tür, und Bodos schwere Schritte waren auf der Treppe zu hören. Ihr fehlte die Kraft, ihm zu folgen. Was war aus dem Mann geworden, mit dem sie so viele glückliche Ehejahre geteilt hatte? Seit er die Firma verloren hatte, war er einfach nicht mehr derselbe Mensch …

Dann war er wieder da. Mit einer gepackten Tasche: “Ich gehe”, sagte er mit rauher Stimme.

Silkes Herz gefror: “Was heisst das, du gehst?”

“Ich bin eine Zumutung für dich, also gehe ich.”

“Aber wohin?”

"Das lass nur meine Sorge sein!"

Er verliess das Haus. Ein Taxi fuhr vor. Bodo musste danach telefoniert haben. Türen klappten, dann entfernte sich das Motorengeräusch. Silke sass immer noch da und rührte sich nicht. In ihr herrschte eine grosse Leere. Eine Leere, die dröhnte.
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Bodo zeigte stumm auf sein leeres Glas. Der Barkeeper füllte es neu. Im Spiegel hinter der Bar sah Bodo sein übermüdetes Gesicht. Augen, die rot waren vom Zigarettenrauch und zuviel Alkohol. Kein schöner Anblick, Bodo Melchers, dachte er und schämte sich. Das Schlimmste war gewesen, Silke zu verlassen. Mit dem Gefühl, dass es noch schlimmer für sie war, wenn er blieb …

“Ärger zu Hause?” fragte eine Stimme neben ihm. Sie gehörte einem dunkelhaarigen Mann, der höchstens dreissig war. Nett sah er aus, aber Bodo wollte, dass man ihn in Ruhe liess: “Geht Sie das etwas an?” fragte er kurz angebunden.

“Naja, ich finde nur, Sie trinken ein bisschen zu viel.”

“Sieh mal einer an”, grollte Bodo. “Und Sie, was machen Sie?” Er zeigte mit dem Kinn auf das halbvolle Glas des Mannes.

“Ich trinke leider auch ein bisschen zuviel”, seufzte sein Nachbar. “Keine Arbeit und zuviel Zeit zum Nachdenken.”

“Hm, das kenne ich”, stimmte Bodo zu.

“Sind Sie auch arbeitslos?”

“Mein Unternehmen ist vor einem Jahr den Bach heruntergegangen. Ein Unternehmen, das ich mit eigenen Händen aufgebaut habe. Ich bin in zwei Konkurse hineingezogen worden. Da war nichts mehr zu retten. Seitdem renne ich mir die Hacken nach Arbeit ab. Vergeblich. Mit 54 Jahren schon zu alt! Und Sie? Was waren Sie von Beruf?”

“Ich musste mein Archäologiestudium aus materiellen Gründen aufgeben und halte mich mit Jobs über Wasser. Zuletzt war ich Möbelpacker und Kellner. Nun, wenigstens hab ich noch nicht angefangen, allein zu Hause zu trinken.”

Bodo hatte damit angefangen. Er schämte sich wieder. “Kennen Sie vielleicht ein preiswertes Hotel?” fragte er.

“Wollen Sie bei mir schlafen? Eine kleine Einzimmerwohnung, aber der Platz reicht.”

Bodo wurde seltsamerweise ganz warm ums Herz. “Danke, das ist nett”, sagte er schwerfällig, “aber ich zahle für die Übernachtung. Das kann ich noch.”

Der Jüngere grinste: “Sie machen doch hoffentlich Spass? Ich hab’ noch etwas Geld vom letzten Job, da kann ich es mir erlauben, anderen zu helfen. Übrigens, ich heisse Steffen. Steffen Schneider.”

“Bodo Melchers.”

Sie reichten sich die Hand.
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“Wie bitte? Vati ist schon seit drei Monaten fort, und du weisst nicht, wo er ist?”

Silke hatte sich endlich entschlossen, ihrer Tochter Nelly, die als Grafikdesignerin in New-York arbeitete und mit der sie gerade telefonierte, die Wahrheit zu sagen. In zehn Tagen würde Nell nach Deutschland zurückkommen, und es bestanden kaum Chancen, dass Bodo bis dahin wieder auftauchte.

“Hast du ihn gesucht?” Nell stand hörbar unter Schock.

“Ich halte ständig Ausschau nach ihm, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.”

“Und die Polizei?”

“Die tut doch nichts, wenn kein dringender Verdacht auf ein Verbrechen besteht.”

“Aber warum?” fragte Nell fassungslos. “Warum hat er das getan?”

“Du weisst doch, dass es ihm in letzter Zeit nicht gut ging, seit er das Unternehmen nicht mehr hat …”

“Hattet ihr Geldsorgen?”

“Nicht wirklich. Noch nicht, jedenfalls. Zum Glück habe ich ja auch schnell woanders eine Stelle als Sekretärin gefunden.” Leise fuhr Silke fort: “Ich bin so wütend auf ihn, und gleichzeitig mache ich mir entsetzliche Sorgen.”

“Soll ich sofort kommen, Mum?”

“Auf keinen Fall Liebes. Ich freu’ mich aber, wenn du in zehn Tagen nach Hause kommst.”

“Ich freu’ mich auch. Und Vati kriegt etwas von mir zu hören, sobald er wieder auftaucht. Und wie!”

Silke musste trotz ihres Kummers lachen: “Ach Nell, wenn ich wüsste, wo er wäre, würde ich ihm auch gern den Hals umdrehen, das kannst du mir glauben.” Und doch liebte sie ihn noch, dachte sie. Sie hatte immer nur ihn geliebt …
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“Nell, ich muss tanken.” Jo fuhr bis zu den Zapfsäulen. Nell und er kannten sich von der Kunstschule her, und er hatte sie am Flughafen abgeholt, weil Nells Mutter noch arbeitete.

Nell stieg mit ihm aus, streckte sich und sah sich um. “Ist das Einkaufszentrum neu?”

“Ja, es ist erst vor kurzem eröffnet worden.”

Plötzlich griff sie nach seinem Arm: “Sieh mal, die Autowäscher dort, im blau-weissen Zelt.”

Jo, der die Benzinpistole schon ausgehakt hatte, sah kurz hinüber: “Auto-Glanz. Kaufen Sie in Ruhe ein - wir waschen Ihr Auto”, las er vom grossen Schild ab. “Eine gute Geschäfts-Idee”, meinte er anerkennend.

“Jo, das ist mein Vater!” Schon rannte sie los.

“Vati, was machst du hier?”

Bodo polierte mit kraftvollen Bewegungen ein Auto blank. Jetzt hielt er inne und starrte seine Tochter an: “Nell, wo kommst du denn her?”

“Geradewegs aus New-York.”

Er legte das Poliertuch aus der Hand und schloss sie in die Arme. Dann erklärte er: “Ja, siehst du, ich arbeite. Steffen, komm her, damit ich dich mit meiner Tochter bekannt mache. Nell, das ist Steffen, mein Geschäftspartner. Steffen, das ist meine Tochter Nelly aus New-York. Bist du auf Besuch hier?” wandte er sich wieder an Nell.

“Nein, für immer. Jo und ich wollen uns mit einer Werbeagentur selbstständig machen.”

“Fein”, Steffen schüttelte ihr erfreut die Hand. “Dann können wir ja Kunde bei Ihnen werden. Wir könnten einen flotteren Spruch gebrauchen und ein Firmenlogo, das sich einprägt.” Er wurde ernst. “Ich bin so froh, dass ich Ihrem Vater begegnet bin. Die Idee mit der Auto-Waschanlage haben wir zusammen ausgeheckt. Ihr Vater weiss bestens Bescheid mit Firmengründungen, Management und so.”

“Im Augenblick sind wir nur ein kleiner Zweimann-Betrieb”, lächelte ihr Vater, “aber wir führen schon Verhandlungen mit mehreren Einkaufszentren. Später wollen wir uns zusätzlich um den Fuhrpark von grösseren Firmen kümmern.”

Nell dachte, dass ihre Eltern sich unmöglich wiedergesehen haben konnten, denn sonst hätte er doch von ihrem Kommen gewusst. Vorsichtig fragte sie jedoch: “Mutti freut sich doch sicher über deinen neuen Anfang?”

Bodo zog seine Tochter ein paar Schritte weiter, ausser Hörweite von Steffen, der ihm schon Vorhaltungen gemacht hatte: “Ich habe ihr noch nichts gesagt …”

“Wie bitte? Weiss Mutti etwa immer noch nicht, wo du steckst?” Nell konnte es nicht fassen.

“Du weisst, dass ich von zu Hause weggegangen bin?”

“Klar, wenn auch erst seit zehn Tagen. Mutti wollte mich nicht beunruhigen.”

“Nell, ich bin nicht stolz auf mich, das kannst du mir glauben. Ich hab’ mich unmöglich aufgeführt, dabei hat sie alles getan, um mir zu helfen. Jetzt ist es nicht leicht, ihr wieder vor die Augen zu treten. Du weißt ja, sie kann - hm, sehr temperamentvoll reagieren. Kurz, ich wollte damit warten, bis hier alles ein bisschen besser läuft.”

“Aber sie macht sich Sorgen!”

“Das tut mir leid.”

“Ist das alles?” Nell blitzte ihn an. “Hast du denn kein bisschen Zivilcourage? Du könntest ihr wenigstens sagen, dass es dir gut geht!” Aber sie wusste jetzt, was ihr zu tun blieb …
_ _ _

“Nell, wie schön, dass du wieder da bist!” Silke hatte sich beeilt, von der Arbeit nach Hause zu kommen und schloss ihre Tochter nun glücklich in die Arme.

Besorgt sah Nell, wie schmal das Gesicht ihrer Mutter geworden war: “Hast du immer noch nichts von Vati gehört?” Es fiel ihr schwer, nicht mit der Neuigkeit herauszuplatzen, aber sie zog es doch vor, dem Schicksal nur ein bisschen nachzuhelfen.

Silkes Gesicht umschattete sich: “Nein, Liebes.”

“Kein Grund, um alles verkommen zu lassen!”

“Wie meinst du das?” Ratlos sah Silke sich um.

Ihre Tochter zog sie zum Fenster und zeigte hinunter: „Sieh doch nur, du solltest mal dein Auto waschen lassen!”

“So schlimm sieht es doch nicht aus? Seit wann bist du so etepetete?” fragte Silke erheitert.

”Warst du schon mal in diesem neuen Einkaufszentrum? Jo und ich haben vorhin dort getankt.”

“Ich hab davon gehört, war aber bisher noch nicht da. Weisst du, ich bin einfach an mein altes Einkaufszentrum gewöhnt.”

“Dort gibt es eine echt tolle Auto-Waschanlage. Komm, wir beide fahren gleich hin.”

“Jetzt?” fragte Silke verdattert.

“Jetzt”, erwiderte Nell energisch.

Warum hatte sie sich eigentlich überrumpeln lassen? fragte sich Silke, als sie unterwegs waren. Sie könnten jetzt gemütlich bei einer Tasse Tee zusammensitzen und sich etwas erzählen. Aber vielleicht war der kleine Aufschub ihr nicht unwillkommen?

“Da ist es”, rief Nelly, “halt an!”

Sie sah ihre plötzlich wie erstarrt dasitzende Mutter von der Seite an und fügte leise hinzu: “Ja, das ist Vati. Ich mache schnell ein paar Besorgungen. Jo kommt zum Abendessen. Ich hoffe, es ist dir recht? Bin in etwa einer halben Stunde zurück.” Schon öffnete sie die Beifahrertür und war verschwunden.

“Ich möchte meinen Wagen waschen lassen.” Es gelang Silke, einen ruhigen Ton anzuschlagen, während in ihrem Inneren ein Orkan aus Wut, Schmerz, aber auch grenzenloser Erleichterung tobte.

Bodo, der gerade ein Auto abspritzte, liess vor Überraschung den Schlauch fallen. Rasch bückte er sich, um das Wasser abzustellen. Als er sich wieder aufrichtete, war er rot im Gesicht: “Hat Nell dir Bescheid gesagt?”

“Sie wollte unbedingt, dass ich den Wagen zum Waschen hierhin bringe, aber sie hat mir nichts von dir erzählt.”

Steffen hatte begriffen, um was es ging: “Ich übernehme gern das Auto”, bot er hilfsbereit an, “und ich kann auch allein die Stellung halten, wenn Sie miteinander sprechen wollen.”

“Das ist nett, Steffen, aber das Auto meiner Frau wasche ich selbst.” Nachdem er die beiden einander vorgestellt hatte, machte er sich an die Arbeit.

Silke ging wie ein gefangener Tiger um Bodo und das Auto herum: “Da ist noch ein Fleck”, zeigte ihr Kinn. “Die Radkappen könnten mehr glänzen. Hier drinnen ist noch Staub. Und die Fussmatte ist auch nicht richtig gesaugt.” Ihren ganzen Zorn liess sie auf diese Weise heraus. Und gleichzeitig brach es ihr das Herz, wie Bodo ihr Auto wusch und eigentlich ganz fröhlich dabei wirkte.

“Weisst du, was ich an dieser Arbeit besonders mag?” grinste er, “den Kontakt mit den Kunden.”

“Bei mir bist du da ja richtig gut bedient, oder?” schnappte sie zurück. Eine ältere Kundin sah sie erschrocken an. Es war Silke egal. Sie rechnete mit diesem Ekel ab, und zwar gründlich.

Mistkerl, dachte sie. Geliebter Mistkerl, geliebtes Ekel!

Endlich richtete Bodo sich auf: “Zufrieden?” Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Wangen waren gerötet, die blauen Augen funkelten. In ihr dunkles Haar mischten sich ein paar silberne Strähnen. Er bemerkte sie zum ersten Mal, und sein Herz schmerzte vor Liebe.

Sie atmete tief ein: “Zufrieden”, nickte sie. “Wieviel schulde ich Ihnen nun?”

Sie sahen sich an. Und auf einmal mussten sie beide lachen. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen und Steffen in das Lachen einstimmte.

Dann wurde Bodo wieder ernst. Dicht an ihrem Ohr murmelte er: “Einen Kuss, bitte. Aber ich kann warten. Kannst du mir überhaupt verzeihen, Liebling?”

“Mal sehen. Wann habt ihr denn Feierabend?”

“In einer Stunde.”

“Ich erwarte euch zum Essen zu Hause. Steffen, Sie natürlich auch.”

“Vielen Dank”, strahlte Steffen.

“Bitte keine Nudeln, wenn’s möglich ist”, grinste Bodo, “die essen wir nämlich schon jeden Tag.”

“Keine Nudeln, okay. Bis nachher, also.” Plötzlich klopfte ihr Herz wie das eines jungen Mädchens. Weil sie an den Kuss dachte, den Bodo von ihr bekommen würde, wenn sie später allein sein würden, einen Kuss, bei dem ihm Hören und Sehen vergehen sollte. Sie überlegte, was sie kochen wollte. Was hatte sie überhaupt zu Hause? Und wo war eigentlich Nell?”

Ihre Tochter kam gerade mit zwei grossen Tüten im Arm auf sie zu: “Ich hab’ für ein halbes Regiment eingekauft, richtig so?”

“Gut gemacht”, lachte Silke.

“Wirklich gut”, bestätigte ihr Vater. Und bei beiden klang es so, als wären damit nicht nur die Einkäufe gemeint …

ENDE

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Samstag, 2. März 2013
Ein blühender Apfelbaum
Als Reinhard eine Vernissage besucht, flammt leidenschaftliche Liebe zwischen ihm und Betty, der Malerin, auf. Er bittet seine Frau Ute, die ihn und die Kinder verliess, um die Scheidung. Aber Ute besinnt sich und kehrt zu ihm zurück …
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Reinhard trat auf die Strasse und sah auf die Uhr. Die Besprechung mit seinem Kunden hatte sich als einfacher erwiesen als angenommen. Ihm blieb noch genügend Zeit vor seinem Rückflug nach Hamburg, um einen Bummel über den Kurfürstendamm zu machen. Auf dem kurzen Weg dahin kam er an einer Gemäldegalerie vorbei - und blieb wie angenagelt stehen. Diese zarten und dennoch eindringlichen Farben, mit denen die Blumenpracht eines Gartens gemalt war, erinnerte ihn an ein grossformatiges Bild in seinem Wohnzimmer, einen von der Morgensonne beschienenen Apfelbaum auf einer Wiese, dessen Zweige sich unter der Last der Blüten fast bis zur Erde neigten. Es brauchte kaum die Bestätigung von Bettys schwungvoller Signatur, damit er wusste, dass es ihre Bilder waren, die in dieser bekannten Galerie ausgestellt waren.

Betty! Er sah sie so lebendig vor sich, als sei es gestern gewesen. Ihre üppige Haarpracht, ihr schönes, ausdrucksvolles Gesicht. Er glaubte, die Wärme ihres Körpers zu spüren, wenn sie sich an ihn lehnte, um aus ein paar Schritten Entfernung mit schiefgelegtem Kopf das Bild zu betrachten, an dem sie gerade arbeitete.

Ohne nachzudenken betrat er die Galerie. Eine Frau mittleren Alters kam ihm entgegen und fragte lächelnd, ob sie ihm behilflich sein könnte.

“Würden Sie so freundlich sein und mir die Adresse der Künstlerin mitteilen?” Seine Stimme war rauh, so bewegt war er.

Die Frau zögerte. Man sah ihr an, dass sie dem hochgewachsenen Mann mit den blauen Augen, der so sympathisch wirkte, gern den Gefallen getan hätte, aber dann schüttelte sie den Kopf: “Das ist leider nicht möglich. Bitte, haben Sie Verständnis dafür. Wenn Sie dagegen eine Nachricht hinterlassen möchten, werden wir sie gern übermitteln.” Hilfsbereit schob sie ihm ein Blatt Papier, einen Kugelschreiber und einen Umschlag zu.
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Im Haus war es still. Die zwanzigjährige Julia studierte in München, Malte verbrachte ein Jahr in Amerika bei seiner Mutter. Reinhard hatte sich ein Glas Whisky eingeschenkt und betrachtete Bettys Apfelbaum. Er war mit seinen Gedanken allein. Seinen Gedanken und der Vergangenheit …

Zehn Jahre war es schon her. Es war das erste Mal, dass er zu einer Vernissage ging, einfach weil ihm das Bild auf der Einladung - ein stiller, schilfbewachsener Teich - so gut gefallen hatte. Das nette au-pair-Mädchen, das sich um die Kinder kümmerte, hatte seinen freien Tag gehabt, also hatte er Julia und Malte, damals zehn und neun Jahre alt, mitgenommen.

Es war ein warmer Sommerabend gewesen. In der kleinen Galerie hatte eine wohltuend herzliche und heitere Atmosphäre geherrscht. Er hatte sich auf den ersten Blick in den blühenden Apfelbaum verliebt und das Bild kurzentschlossen gekauft.

Die Galeriebesitzerin hatte ihn daraufhin mit der Künstlerin bekannt machen wollen: “Elisabeth Krüger. Herr …”

“Erwaldt. Reinhard Erwaldt”, hatte er lächelnd ausgeholfen. Er hatte der jungen Malerin gesagt, wie sehr ihre Bilder ihn beeindruckten. Betty hatte ihm mit einem bezaubernden Lächeln für das Kompliment gedankt und sich dann den Kindern zugewandt, die sich sichtlich langweilten: “Möchtet ihr zwei mir helfen, die Gäste zu bewirten?” Die beiden waren sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie waren Bettys Charme genauso erlegen wie ihr Vater.

Ein paar Tage später hatte Reinhard Betty zum Essen ausgeführt. Er hatte ihr viel mehr über seine Ehe erzählt, als es eigentlich seine Art war: “Ute und ich haben uns während des Studiums kennengelernt und sehr schnell geheiratet. Auch die Kinder kamen sehr schnell. Es waren Wunschkinder. Wir lebten wie viele Studenten-Ehepaare, bemühten uns, alles unter einen Hut zu bekommen. Aber als Julia und Malte sieben und sechs Jahre alt waren, verspürte Ute plötzlich das Bedüfnis auszubrechen. Sie überliess mir die Kinder und ging nach Amerika. Scheiden lassen wollte sie sich nicht, sie bat mich, Geduld zu haben. Das ist jetzt drei Jahre her. Wir stehen locker in Verbindung. Also”, schloss er ernst, “ich bin verheiratet, aber seit drei Jahren nur auf dem Papier.”

“Lieben Sie Ihre Frau noch?” hatte Betty gefragt.

“Ich weiss es nicht. Weiss es nicht mehr. Vielleicht haben wir zu früh geheiratet, aus den falschen Gründen …”

Später hatte er sie im Wagen nach Hause gebracht, und sie hatte ihn zu einem Espresso in ihre kleine Atelierwohnung eingeladen. Ihre Hände fanden sich, dann ihre Lippen, und eine Woge von Liebe und Leidenschaft hatte sie davongetragen …

Betty verbrachte immer mehr Zeit mit Reinhard und den Kindern im schönen Erwaldtschen Familienhaus. Julia und Malte vergötterten sie. Und dann gab es wie ein Geschenk Reinhards und ihre Liebe zueinander. In dieser Zeit entstanden wunderbare Bilder. Betty malte jeden Winkel des grossen Gartens. Im Winter die hohen Bäume mit ihren kahlen Ästen, im Frühling den von Krokusblüten übersähten Rasen; die Malven und Sonnenblumen im Sommer und die leuchtenden Gelb- und Rottöne des Herbstes. Sie malte auch die Kinder. Jedem von ihnen schenkte sie ein Bild. Sie hingen noch in ihren Zimmern. Ute hatte genau so wenig daran gerührt wie an dem Apfelbaum.

Denn Ute war zurückgekommen. Reinhard hatte ihr von Betty geschrieben und sie um die Scheidung gebeten. Als Antwort kündigte sie ihre Rückkehr an.

Er wollte sie anrufen und ihr sagen, dass es zu spät sei, aber Betty hatte ihn davon abgehalten. “Ute ist Julias und Maltes Mutter. Es ist an mir, zu gehen.”

“Aber sie hat die Kinder verlassen! Du bist es, die sich in den letzten beiden Jahren um sie gekümmert hat. Ich liebe dich. Die Kinder lieben dich auch!”

“Ihr werden mir auch fehlen”, hatte sie mit Tränen in den Augen geantwortet, “aber ich wusste von Anfang an, dass du verheiratet bist.”

Betty hatte all ihre Sachen und ihre Bilder mitgenommen. Nur die beiden Porträts der Kinder und der blühende Apfelbaum blieben zurück.

Ute hatte die drei Gemälde lange betrachtet. Schliesslich hatte sie genickt: “Sie gefallen mir.”

Dann nahm sie energisch alles wieder in die Hand: die Kinder, Reinhard, das Haus, den Garten. Sie wuchsen wieder zu einer Familie zusammen, aber tief in Reinhard blieb die Sehnsucht nach Betty zurück.Einmal kam er an ihrer Atelierwohnung vorbei. Das Verlangen, sie wiederzusehen, wurde übermächtig. Er läutete. Ein unbekannter junger Mann öffnete ihm. Er wusste nicht, wo die Vormieterin hingezogen war …

Vor einem Jahr war Malte volljährig geworden. Ute hatte liebevoll eine grosse Party für die Familie und die zahlreichen Freunde ihres Sohnes vorbereitet. Am Tag nach der Party hatte sie Reinhard und den Kindern angekündigt, dass sie nach Amerika zurückginge. Später, als Reinhard und sie allein waren, sagte sie ihm, dass sie jetzt mit der Scheidung einverstanden wäre, wenn er es wünschte.

Die Scheidung war seit einigen Wochen perfekt. Er war frei.
_ _ _

Betty malte in ihrem Garten, als der Postbote am Zaun erschien: “Post für Sie, Frau Krüger!”

Sie nahm die drei Briefe entgegen. Einer von ihnen trug als Absender die Galerie in Berlin, in der sie gerade ausstellte. Rasch öffnete sie den Umschlag und zog das Blatt heraus. Das Herz stockte ihr, als sie Reinhards Schrift erkannte. Er schrieb ihr, dass er frei sei, dass er sie noch immer liebe. Und er fragte sie, ob er sie besuchen dürfe.

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Zu spät, hämmerte es in ihrem Kopf. In diesem Augenblick klappte die Gartenpforte. Eine warme Männerstimme rief fröhlich: “Für heute mache ich Schluss. Soll ich Flora vom Kindergarten abholen, Schatz?” Sie spürte Jans Arme um sich, sein Atem war wie eine Liebkosung an ihrem Ohr: “Ich bin so glücklich, dass du mir endlich dein Jawort gegeben hast”, flüsterte er.

Das war am Abend zuvor gewesen. Sie hatten gemeinsam die sechsjährige Flora zu Bett gebracht und noch ein Glas Wein in Bettys Garten getrunken. Sie wusste, dass er sie seit langem liebte. Sie erinnerte sich an ihre Ankunft vor sechseinhalb Jahren in diesem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Jan war sofort aus dem Nachbarhaus herüber gekommen und hatte gefragt, ob er ihr helfen könne. Er hatte die Möbel ins Haus getragen, hatte ihr geholfen, es neu zu streichen und den Garten in Ordnung zu bringen. Und sechs Monate später hatte er sie, als die Wehen einsetzten, in die Kreisstadt ins Krankenhaus gefahren. Vom ersten Tag an hatte er Flora als seine Tochter betrachtet. Sie hatte ihm von Reinhard, Floras Vater, erzählt. Sie wusste nicht, dass sie schwanger war, als sie ihn verliess. Sie wollte vor allem nicht, dass er es erfuhr. Deshalb war sie aus Hamburg fortgezogen, hatte sich hier dieses kleine Haus gekauft. In den folgenden Jahren hatten ihr Talent und ihr Fleiss sich ausgezahlt: Die grossen Galerien in Berlin, in Düsseldorf und Hamburg stellten jetzt ihre Bilder aus. Nun wollte sie endlich auch privat zur Ruhe kommen. Sie hatte gedacht, dass sie für sich keinen liebevolleren Mann und für Flora keinen besseren Vater finden könnte. Deshalb hatte sie Jan ihr Jawort gegeben. Jetzt raubte ihr das entsetzliche Gefühl, den grössten Irrtum ihres Lebens zu begehen, wenn sie Jan heiratete, fast den Atem. Aber sie konnte doch ihr Wort nicht zurücknehmen, das hatte Jan nicht verdient. Plötzlich drehte sich alles um sie …
_ _ _

Als das Telefon klingelte, riss Reinhard den Hörer von der Gabel und meldete sich. Seit Tagen hoffte er auf den Anruf von Betty. Zu seiner Enttäuschung hörte er jetzt eine Männerstimme: “Könnte ich Sie sprechen, Herr Erwaldt? Mein Name ist Jan Henning. Es geht um Betty.”

“Wo sind Sie?”

“Ich stehe vor Ihrem Haus.”

“Ich komme”, erwiderte Reinhard kurz.

Er bat den Mann mit dem sympathischen Gesicht herein. Jan wollte nichts trinken. Nachdem er tief Atem geholt hatte, begann er, von Betty zu erzählen, von der kleinen Flora. Und dass Betty ihm endlich ihr Jawort gegeben hätte.

“Ich komme also zu spät.” Tiefe Verzweiflung spiegelte sich in Reinhards Zügen wieder.

“Es ist an Betty, das zu entscheiden.” Jans ruhiger Stimme waren die inneren Kämpfe, die er mit sich ausgefochten hatte, nicht anzuhören.

“Aber Sie haben ein Kind. Flora.”

“Flora ist Ihr Kind.”

Reinhard starrte ihn ungläubig an.

“Betty hat erst nach der Trennung von Ihnen gemerkt, dass sie schwanger war.”

Reinhard fühlte eine jähe Freude in sich aufsteigen, sofort gefolgt von einem fast unerträglichen Schmerz. Warum hatte Betty ihm nichts gesagt? Schwerfällig erwiderte er: “Ich nehme an, dass ich Ihnen zu danken habe, sich so selbstlos um Betty und Flora gekümmert zu haben.”

“Das brauchen Sie nicht. Es war keine Selbstlosigkeit, es war Liebe”, sagte Jan ehrlich. “Aber ich werde Betty nicht heiraten.”

“Wie soll ich das verstehen?”

“Ich bin nicht egoistisch genug, um das Leben mit einer Frau verbringen zu wollen, die einen anderen liebt. Betty hat nie aufgehört, Sie zu lieben, das weiss ich jetzt. Meinen Heiratsantrag hat sie nur aus Dankbarkeit - und vielleicht auch Zuneigung -angenommen.”

“Aber … woher wissen Sie von mir?”

“Betty hatte mir gleich am Anfang von Ihnen erzählt, und vor drei Tagen hat Sie Ihren Brief bekommen, den die Galerie ihr zugeschickt hat. Sie hielt ihn in der Hand, als ich von meinem Haus herüberkam, und plötzlich ist sie ohnmächtig geworden. Der Brief fiel zu Boden. Ich gestehe, dass ich ihn gelesen habe, ich wollte den Grund ihrer starken Gemütsbewegung wissen. Später haben wir darüber gesprochen.” Jan stand auf und reichte ihm die Hand: “Fahren Sie zu ihr. Ich übernachte heute bei Freunden hier in Hamburg.”
_ _ _

Betty wunderte sich. Den ganzen Tag hatte sie Jan nicht zu Gesicht bekommen. Als sie Motorengeräusch hörte, ging sie beunruhigt in den Garten. Eine Autotür klappte. Jemand kam auf die Gartenpforte zu und rief ihren Namen.

Es war Reinhard! Sein Haar war etwas grau geworden, aber seine blauen Augen hatten die gleiche zwingende Gewalt wie früher. Wie kam er hierher? Was wollte er? Sie wollte ins Haus zurückflüchten, aber Reinhards Blick hielt sie fest, sie las alle Zärtlichkeit, alle Liebe der Welt in ihm. Langsam ging sie zur Pforte, öffnete sie, und dann lagen sie sich in den Armen und küssten sich selbstvergessen. Plötzlich riss sie sich los, stemmte beide Hände gegen seine Brust: “Es geht nicht, Reinhard”, stiess sie hervor. “Du musst wieder fortfahren. Bitte!”

Da erzählte er ihr von Jans Besuch, seinem grosszügigen Verzicht: “Alles wird gut werden Betty”, sagte er eindringlich, “vorausgesetzt, du willst mich noch.”

Ein kleines Mädchen kam aus dem Haus gelaufen. Als es den fremden Mann sah, blieb es wie angewurzelt stehen.

Reinhard ging in die Hocke und sagte leise: “Flora.” Das Kind und der Mann sahen sich an. Sie hatten die selben blauen Augen. Langsam kam Flora, die sonst Fremden gegenüber so scheu war, auf ihn zu und lachte ihn an.

“Flora, das ist dein Papa”, sagte Betty leise. “Du weisst doch, ich habe dir von ihm erzählt. Jetzt ist er da, und er bleibt bei uns.”

Reinhard nahm Flora behutsam hoch, und das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals.

„Darf ich deine Mama küssen?“ fragte er.

Flora nickte ernst, und er küsste Betty zart auf die Lippen. Dann gab er Flora einen liebevollen kleinen Kuss auf die Wange und bemerkte jetzt erst, dass sie alle drei unter einem blühenden Apfelbaum standen …

ENDE

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Donnerstag, 28. Februar 2013
Ein Zauberer in Annes Leben
Eine Reihe von Verstrickungen hat dazu geführt, dass Anne mit 28 Jahren wieder bei ihrer Mutter lebt – und sie nicht Olivers wegen verlassen mag, obwohl sie weiss, dass er der Mann ihres Lebens ist. Nur ist Oliver nicht bereit, sich damit abzufinden …
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“Na, wie war’s?” fragte Wilma Böttcher gespannt.

“Setz dich erst mal, Mutti!” Anne nahm ihrer Mutter die Einkaufstüten ab und legte sie auf einen freien Stuhl. “Das war ja eine richtige Kauforgie”, lächelte sie.

Wilma zog eine halb schuldbewusste, halb spitzbübische Grimasse: “Irgendwie brauchte ich das. Muss am Frühling liegen. Und jetzt spann mich nicht länger auf die Folter!”

“Was möchtest du trinken?”

“Irgend etwas, aber erzähl!”

Anne bestellte zwei Piccoloflaschen.

“Sekt am Morgen?” wunderte sich Wilma. “Dann ist das Vorstellungsgespräch also gut verlaufen?”

“So gut, wie es nur verlaufen konnte”, lächelte Anne, fügte aber hinzu: “Natürlich muss ich noch die Antwort abwarten, aber ich glaube, ich hab’ einen guten Eindruck gemacht.”

“Das wundert mich nicht, mein Herz”, sagte Wilma warm und bedachte ihre Tochter mit einem mütterlich stolzen Blick. Anne sah reizend aus in ihrem himbeerfarbenen Kostüm, das perfekt zu ihren halblangen, lockigen dunklen Haaren, den braunen Augen und dem rosigen, frischen Teint passte. Auch sie, Wilma, hatte einst diese lockige Haarpracht besessen, bis sie ihr leicht ergrautes Haar zu Rolands Kummer hatte kurz schneiden lassen. Roland. Ihr geliebter Mann, der vor drei Monaten, mit nur 55 Jahren, einem Herzinfarkt erlegen war …

Der scharfe Schmerz war wieder da, nahm ihr den Atem. Sie musste ihn wegschieben, Anne zuliebe, die das Glas hob, um mir ihr anzustossen.

“Auf deine Stelle, und dass es klappt! Aber eigentlich bin ich ganz sicher”, sagte Wilma herzlich.

“Auf dich und Vati”, erwiderte Anne. “Ich werde euch nie genug danken können für alles, was ihr für mich getan habt. Es wäre so schön gewesen, wenn Vati …” Sie stockte. Ihre Stimme brach.

“Vati wusste, dass du es schaffen würdest, und was wir für dich getan haben, war doch selbstverständlich.” Wilma liess sich haargenau das Vorstellungsgespräch erzählen und kam wie Anne zu dem Schluss, dass die Stelle ihr praktisch sicher war: “Dein zukünftiger Chef wäre auch schön blöd, wenn er sich eine derart kompetente Mitarbeiterin entgehen liesse.”

“Mutti, ich habe fast ein Jahr ausgesetzt …”

“Dafür konntest du nichts.” Wilma trank den letzten Schluck: “So, Liebes, ich fahre jetzt nach Hause.”

“Schon? Warte, ich komme mit.”

“Nein”, sagte Wilma mit fester Stimme, “bleib du noch ein wenig hier sitzen. Ich kümmere mich um’s Mittagessen.” Sie stand auf, griff nach den Tüten.

“Lass sie hier, ich bringe sie mit.” Plötzlich sah Anne, dass die Augen ihrer Mutter in Tränen schwammen. Wortlos liess Wilma die Einkäufe stehen, hastete davon. Anne wollte ihr nachstürzen, aber sie hatte noch nicht bezahlt, und irgend etwas hielt sie auch davon ab …

“Stört es Sie, wenn ich mich an Ihren Tisch setze?” fragte eine angenehm klingende Stimme. Der Mann, der vor ihr stand, mochte Anfang dreissig sein. Er hatte ein schmales, intelligentes Gesicht, sein volles dunkles Haar war zurückgekämmt.

“Natürlich nicht”, erwiderte sie.

Er setzte sich und warf ihr einen bewundernden Blick zu: “Welch ein Glück, dass nur an Ihrem Tisch noch ein Platz frei war.” Dann sah er die beiden kleinen Flaschen Sekt: “Oh, Sie sind nicht allein?”

“Jetzt schon. Ich habe mich mit meiner Mutter hier getroffen. Sie ist gerade nach Hause gefahren.”

“Für Mütter habe ich etwas übrig. Ich hab’ selbst eine ganz liebe. Würden Sie noch ein Glas mit mir trinken?”

Sie wollte dankend ablehnen, aber er bestellte schon. “Ich möchte nämlich etwas feiern”, erklärte er.

“Na gut”, gab sie nach und stellte überrascht fest, dass sie sich wohl fühlte. Als der Sekt vor ihnen stand, fragte sie: “Also, was feiern Sie nun?”

“Mehreres. Dass ich mit einer bezaubernden Frau auf einer Café-Terrasse sitze. Dass ich nach acht Jahren in den U.S.A. in Deutschland zurück bin, dazu in einer so schönen Stadt wie Hamburg, und dass meine amerikanische Firma mich mit dem Aufbau einer Filiale beauftragt hat. Und Sie? Hatten Ihre Mutter und Sie auch etwas zu feiern?”

“In unserem Fall waren es Vorschusslorbeeren. Ich hatte ein vielversprechendes Vorstellungsgespräch.”

“Herzlichen Glückwunsch. Übrigens, ich heisse Oliver Neeven. Von Beruf bin ich Informatiker.”

“Anne Böttcher. Ich bin Verlagskauffrau.”

Lächelnd tranken sie sich zu, und Anne merkte auf einmal, dass sie schon einen kleinen Schwips hatte. Es war ein Gefühl, als schwebte sie auf einer kleinen Wolke – und es tat ungeheuer gut.

“Sind Sie Hamburgerin?” fragte er.

“Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Nach meiner Berufsausbildung habe ich allerdings fünf Jahre in Paris gearbeitet.”

Er beugte sich vor: “Wie interessant, das müssen Sie mir bitte genau erzählen!”

Aber sie sah auf die Uhr und meinte erschrocken: “So spät ist es schon? Ich muss gehen!”

Sie winkte dem Kellner, um ihren Teil zu bezahlen, aber Oliver protestierte: “Bitte, lassen Sie mich das übernehmen.”

“Das ist zuviel.”

“Ich tu’s auch nicht umsonst. Dafür möchte ich Ihre Telefonnummer haben. Bitte”, fügte er mit einem unwiderstehlichen Augenaufschlag hinzu.

Als sie zögerte, fragte er scherzhaft: “Oder leben Sie etwa noch bei Ihren Eltern?”

“Genau”, antwortete sie steif. “Ich lebe bei meiner Mutter.” Und auf einmal war alles wieder da: ihr eigenes Unglück, dann der Tod ihres Vaters, und jetzt die Sorge um ihre Mutter, die so schwer daran trug.

Er sah ihr kummervolles Gesicht und fragte bestürzt. “Habe ich etwas Falsches gesagt? Verzeihen Sie, wenn ich gefühllos war, ohne es zu wollen.”

Weil sie Angst hatte, in Tränen auszubrechen, stand sie hastig auf. Darauf erhob auch er sich, legte einen Geldschein auf den Tisch, nahm die Einkaufstüten und griff nach Annes Arm: “Sind Sie motorisiert? Nein? Mein Auto steht dort auf dem Parkplatz. Ich bringe Sie. Sagen Sie mir nur die Adresse. Und ich möchte alles wissen.”

Während er den Wagen umsichtig durch den Verkehr lenkte und nur manchmal fragte, wo er abbiegen musste, erzählte sie: ihre Jahre in Paris, ihre Liebe zu Daniel, seinen Unfalltod kurz vor der Hochzeit. Einige Monate später hatte sie ihre Stelle verloren, weil der kleine Verlag, in dem sie arbeitete, Konkurs anmeldete. Sie kam nach Hamburg zu ihren Eltern zurück. “Das war nur als Übergangslösung gedacht, bis ich eine Stelle und eine Wohnung fand, aber ich bekam eine schwere Lungenentzündung, lag lange im Krankenhaus. Danach hat Mutti mich mit Liebe wieder aufgepäppelt, und als es mir wieder gut ging, starb mein Vater …”

Oliver hatte sie nicht unterbrochen, nur durch Kopfnicken gezeigt, dass er ihr zuhörte. Plötzlich merkte Anne, dass der Wagen vor der elterlichen Vorstadtvilla hielt. Wie lange schon?

“Ich habe Sie sicher gelangweilt oder deprimiert”, sagte sie unglücklich.

Er berührte leicht ihren Handrücken, erwiderte fast grob: “Sagen Sie so etwas nie wieder!” Und sanfter: “Ich möchte Sie wiedersehen. Darf ich Sie anrufen?”

“Könnten Sie mir lieber Ihre Telefonnummer geben?”

Er notierte die Nummer, reichte ihr den Zettel. Sie steckte ihn in ihre Tasche und sagte leise: “Danke für’s Bringen, Oliver, das war sehr nett von Ihnen.”
_ _ _

Wilma hatte mit dem Essen auf sie gewartet. Als Anne ihr Vorwürfe machte, warum sie nicht schon angefangen hatte, meinte sie: “Ach Kind, ich hab’ sowieso keinen Appetit. War’s noch schön in der Stadt?”

“Ja”, nickte Anne. “Ich hab die Sonne genossen und darüber die Zeit vergessen.” Sie brachte es nicht fertig, ihrer Mutter von ihrer Begegnung mit Oliver zu erzählen, obwohl sie ganz von ihr erfüllt war.

Zwei Tage später kam der Bescheid, dass Anne die Stelle bekommen hatte. Wilma freute sich mit ihr. “Sicher wirst du jetzt eine eigene Wohnung suchen?” erkundigte sie sich.

“Aber Mutti, ich dachte, ich bleibe hier wohnen. Wir sind doch beide allein?”

“Natürlich, mein Kind. Ich meine, wenn du das wirklich möchtest”, meinte Wilma.

Als ihre Mutter sich zu ihrem Mittagsschlaf zurückgezogen hatte, tippte Anne in ihrem Zimmer Olivers Nummer sein.

“Oliver Neeven, ja bitte?” meldete er sich.

“Hier ist Anne. Anne Böttcher …”

“Anne, endlich! Ich hatte schon fast jede Hoffnung aufgegeben.”

“Oliver, ich habe die Stelle bekommen!”

“Wau, das müssen wir feiern. Ich führe Sie heute Abend gross aus!”

“Das wird schwierig sein. Meine Mutter …”

“Haben Sie Ausgangsverbot?”

“Natürlich nicht, aber sie braucht mich.”

“Soll ich mit ihr sprechen?”

“Nein, Oliver. Also gut, ich nehme Ihre Einladung an. Ich … ich kriege das schon hin mit meiner Mutter.”

Er schlug vor, sie abzuholen. Sie zog es vor, sich mit ihm im Restaurant zu treffen. Es wurde ein zauberhafter Abend. Sie hatten sich so viel zu erzählen, entdeckten so viel Gemeinsamkeiten: Ihre Liebe zu Büchern, zu fernen Ländern, anderen Kulturen. Auch Esskulturen.

Nie, ausser mit Daniel, hatte Anne sich so glücklich, so leicht gefühlt. Aber kaum dachte sie daran, war auch die Traurigkeit wieder da. Oliver spürte das, liess ihr Zeit.

In der folgenden Zeit machten sie zusammen eine kulinarische Weltreise. Speissten in chinesischen, japanischen, italienischen, griechischen und französischen Restaurants zu Abend.

Nach ihrem Abend beim Italiener tauschten sie ihren ersten Kuss aus. Nie hätte Anne gedacht, dass sie dieses Erdbeben der Gefühle wieder spüren, dass ihr Leben wieder derart verzaubert sein könnte. Spätestens nach diesem Kuss wurde ihr bewusst, dass Daniels Bild immer mehr verblasste, dass die Trauer um ihn leichter wurde, während Oliver mehr und mehr Platz in ihrem Herzen einnahm. Sollte sie es bedauern? Sich schuldig fühlen? Sie beschloss, dass es ganz einfach das Leben war, das von neuem sein Recht verlangte.

Eines Abends meinte Oliver: “Ich kann nicht ewig im Hotel wohnen bleiben, obwohl natürlich meine Firma die Kosten trägt. Anne, lass uns gemeinsam eine Wohnung suchen!”

Sie schüttelte den Kopf: “Ich kann meine Mutter nicht im Stich lassen. Sie war da, als ich sie brauchte, jetzt braucht sie mich.”

“Ich möchte sie so gern kennenlernen!”

“Warte noch”, zögerte sie.
_ _ _

Es war nach einem Abend in einem indischen Restaurant. Anne schloss leise die Haustür auf, als ihre Mutter im Hausmantel vor ihr stand. “War’s schön?” fragte sie und sah ihre Tochter aufmerksam an.

“Ja, sehr schön.”

“Du warst mit deiner Freundin Michaela im Kino, richtig?”

“Ich hab’s dir doch gesagt.”

“Ihr seid jetzt so oft zusammen. Warum lädst du sie nicht mal hierher ein? Ich würde sie auch gern mal wiedersehen.”

“Ich dachte, du … du könntest dich gestört fühlen.” Sie mochte ihre Mutter nicht ansehen.

Wilma zog sie ins Wohnzimmer, drückte sie auf’s Sofa und setzte sich neben sie: “Hältst du mich für so dumm? Michaela lebt gar nicht mehr hier, ich habe ihre Mutter gestern in der Stadt getroffen. Hast du vielleicht einen Mann kennengelernt, Anne? Aber warum hältst du das vor mir geheim?”

“Ach Mutti, ich dachte … weil du doch Vati nicht mehr hast …”

“Dass ich eifersüchtig sein und mich nicht über dein Glück freuen könnte? So wenig kennst du mich?”

Als sie Annes gequälten Gesichtsausdruck sah, legte sie den Arm um sie und drückte sie an sich: “Natürlich ist es schwer, ohne Vati weiterzuleben, aber wir hatten ein reiches, erfülltes Leben. Ein solches Leben wünsche ich dir auch. Was wäre ich denn für eine Mutter, wenn ich von dir verlangte, dass du dich hier mit mir vergräbst? Wer ist es denn? Lerne ich ihn bald kennen?”
_ _ _

Im Kamin brannte ein gemütliches Feuer, als Oliver mit einem Blumenstrauss vor der Tür stand und von Wilma begrüsst wurde. “Ein ganz ungezwungener Abend”, hatte sie ihm durch Anne ausrichten lassen: “Er soll nichts Besonderes anziehen, wir leben hier ja fast auf dem Land.”

Wilma hatte sich als Köchin selbst übertroffen. Oliver war des Lobes voll. Man merkte beiden an, dass sie sich mochten. Als Oliver sie bat, ihm aus Annes Kindheit zu erzählen, holte sie das Fotoalbum. Oliver und Anne sassen auf dem kleinen Sofa, blätterten die Seiten um, während Wilma ihnen über die Schulter sah.

Ein paar Tage später, als Anne von der Arbeit nach Hause kam, erklärte Wilma munter: “Dein Abendessen steht im Kühlschrank, du brauchst es nur in der Mikrowelle warm zu machen. Ich gehe nämlich heute aus.”

“Du gehst aus?” fragte Anne überrascht. “Mit wem denn?”

“Mit einem Mann. Ich erkläre es dir später.”

Den ganzen Abend, während Anne vor ihrer Mahlzeit sass und später blicklos auf den flimmernden Fernsehschirm schaute, versuchte sie, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Ihre Mutter hatte ein Rendez-vous. Nur fünf Monate nach dem Tod ihres über alles geliebten Mannes. Sollte sie entrüstet sein oder sich freuen? Sie wollte Oliver anrufen, aber ihr fiel ein, dass er heute einem Geschäftsbesuch Hamburg zeigen musste.

Erst gegen Mitternacht drehte sich leise ein Schlüssel im Schloss.

“Du bist noch auf?” fragte Wilma, als sie die Wohnzimmertür öffnete. Irrte Anne sich, oder schwankte ihre Mutter ein wenig?

“Du … wolltest mir alles erklären.”

Wilma setzte sich vorsichtig;: “Natürlich. Das werde ich jetzt tun”, sagte sie mit etwas schwerer Zunge.

“Mutti, du hast getrunken!” stellte Anne befremdet fest.

“Mein zukünftiger Schwiegersohn hat sich nicht lumpen lassen. Es war echter Champagner.”

“Dein …”

Ihre Mutter unterdrückte einen Schluckauf und wurde wieder ernst: “Du dachtest doch wohl nicht, dass ich mit einem fremden Mann ausgehe? Also: Dein Oliver rief heute Vormittag an, um mich zum Essen einzuladen. Er wollte etwas mit mir besprechen. Du solltest aber nichts davon erfahren, deshalb konnte ich dir nicht die Wahrheit sagen. Ausserdem …”, nun erschien das Grübchen in der Wange, das Anne schon so lange nicht mehr gesehen hatte, “… wollte ich dir ein bisschen deine Geheimniskrämerei heimzahlen.”

“Hmm. Und … über was habt ihr gesprochen?”

“Über dich. Über uns drei. Und jetzt hör mir bitte gut zu. Du tust mir einen Gefallen, wenn du hier ausziehst. Bitte, sag jetzt nichts. Oliver wartet nur auf dein grünes Licht, damit ihr auf Wohnungssuche gehen könnt. Das Gespräch mit ihm hat mir klargemacht, dass wir beide uns vor lauter Rücksichtsname aufeinander das Leben unnötig schwer machen. Im Klartext heisst das: Ich möchte gern allein sein. Und sei es nur, um endlich ungestört weinen und sogar vor Qual schreien zu können, wenn mir danach zumute ist. Das, was ich für dich getan habe, hätte jede Mutter getan. Wo kämen wir Mütter hin, wenn wir lebenslang die Dankbarkeit unserer Kinder ertragen müssten? Mach’ bitte nicht so ein Gesicht, Anne. Ich bin absichtlich etwas grob. Zu unserer aller Besten. Weisst du, ich bin noch jung genug, um mir wieder ein eigenes Leben aufzubauen. Apropos, ich möchte dieses Haus verkaufen und zurück in die Stadt ziehen. Ich möchte wieder näher am Leben sein, möchte meine Freundinnen öfters sehen, möchte problemlos in Konzerte, in die Oper gehen können. Vati mochte beides nicht so gern, und ich habe schliesslich seinetwegen darauf verzichtet. Ich hatte ein Leben vor Vati – und vor dir. An manches möchte ich jetzt wieder anknüpfen. Auch du musst dein eigenes Leben leben, und noch etwas: Ich finde, es wird Zeit, dass ich endlich Enkelkinder bekomme!”

“Mutti!” Anne weinte und lachte gleichzeitig: “Wenn ich das gewusst hätte …”

Wilma sah sie liebevoll an: “Wir haben uns beide dumm angestellt. Ich bin Oliver sehr dankbar, dass er mir Mut gemacht hat, dir das alles zu sagen. Kind, das hat mir wirklich gut getan.”

Es war drei Uhr nachts, als Mutter und Tochter endlich ins Bett gingen: “Beinahe hätte ich es vergessen, Oliver möchte, dass du ihn sofort nach unserer Unterhaltung anrufst, egal, wie spät oder wie früh es ist!”

“Oliver, hier ist Anne.”

“Endlich. Wie war’s?” Seine Stimme klang hellwach.

“Und bei dir? Hamburg bei Nacht? Du bist ein Zauberer. Mutti hat mir alles erklärt.”

Er lachte: “Ich habe nur gemerkt, was ihr selbst hättet merken können, wenn ihr nicht vor lauter Liebe und Rücksichtnahme blind gewesen wärt. Und jetzt habe ich zwei Herzenswünsche: “Heirate mich, und dann suchen wir uns eine Wohnung.”

“Nein”, sagte sie.

“Nein?”

Der Anfschrei klang derart kummervoll, dass sie lachen musste: “Wir machen es umgekehrt. Zuerst die Wohnung, dann die Heirat. Sonst dauert es viel zu lange.”

“Wie lasterhaft! Und wie grausam, mir einen solchen Schreck einzujagen. Aber … ich bin einverstanden!”

Der Kuss, den er durch die Leitung schickte, war so zärtlich, dass sie glaube, ihn auf ihren Lippen zu spüren …

ENDE

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Sonntag, 24. Februar 2013
Hundstage in der Provence
Nach einer schwierigen Scheidung will Lars Friedrichs in der Provence sein Gleichgewicht wiederfinden. Auf einem Spaziergang trifft er einen herrenlosen Hund …
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Mit verbissenem Gesicht stapfte Lars den steinigen Pfad entlang, der an dieser Stelle stark anstieg. Er hatte einen sportlich durchtrainierten Körper, aber es war heiss. Er schwitzte, seine Lungen schienen bersten zu wollen, und sein von der schwierigen Scheidung lädiertes Herz hämmerte dumpf und schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Dieses bisschen Abhärtung würde diesem dummen Herzen gut tun, dachte Lars grimmig. In jeder Hinsicht.

Oben musste er stehen bleiben, um Luft zu holen. Endlich nahm er den würzigen Duft von Kiefern, von Rosmarin und Thymian wahr. Von dieser Stelle aus konnte er die ineinander verschachtelten Häuser des provenzalischen Dorfes sehen, das malerisch auf dem gegenüberliegenden Hügel in der Sonne lag. Eines dieser Häuser hatte ein französischer Geschäftsfreund ihm geliehen, der in Paris lebte und nur selten hierher kam. Seine Lage am Rande des Dorfes erlaubte es ihm, den Dorfbewohnern aus dem Weg zu gehen. Mit Menschen wollte er im Augenblick so wenig wie möglich zu tun haben. Er war hierhergekommen, um zur Ruhe zu kommen und sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

Auf dem Hügelkamm war der Weg fast eben. Lars ging gerade weiter, als, wie schon an den vergangenen Tagen, der grosse braune Hund auftauchte. Es war ein schönes Tier, ein Rüde. Auch heute lief er um Lars herum, trabte an seiner Seite weiter, verschwand ab und zu im Gebüsch um zu stöbern, und holte ihn in langen Sprüngen wieder ein. Eines Tages würde ein Jäger ihn erschiessen, streunende Hunde waren überall unbeliebt, dachte Lars. Dieser hier trug nicht einmal ein Halsband. Er zuckte die Achseln. In dem Zustand, in dem er war, konnte er sich nicht noch Gedanken um einen Hund machen. Wenn er ihn begleiten wollte, bitte schön, er hatte nichts dagegen. Nachher würde jeder wieder seines Weges gehen.

Als Lars nach einem grossen Bogen wieder auf die Strasse traf, die zum Dorf zurückführte, versuchte er wie immer, seinen hartnäckigen Begleiter zum Umkehren zu bewegen. Wie immer mit dem einzigen Erfolg, dass dieser zwar einen Schritt zurückwich, ihn aber weiterhin unverwandt aus treuen Bernsteinaugen ansah. Ziemlich vorwurfsvoll, wie es Lars schien. Sogar mit einer Spur von geduldiger Nachsicht, weil dieser Mensch immer noch nicht begriffen hatte, dass seine Bemühungen zwecklos waren.

“Na gut”, gab er nach, auch wie immer, “wie du willst. Aber hier ist jeder für sich selbst verantwortlich, ist das klar?” Der dumme Köter pflegte meistens aufgeregt im Zickzack über die Strasse zu laufen, ein gefährliches Unterfangen, das die Autofahrer oft zum Bremsen zwang. Er wusste, dass der Hund ihn bis vor die Haustür bringen würde, um dann in den Gassen des Dorfes zu verschwinden.

Das Tier war jetzt zu seiner Erleichterung etwas zurückgeblieben, aber plötzlich war ein dumpfer Schlag zu hören, ein herzzerreissendes Jaulen, dann ein Hecheln und Wimmern.

“Arrêtez-vous!” rief eine verzweifelte weibliche Stimme. Im selben Augenblick brauste ein kleiner roter Flitzer an Lars vorbei.

“Halten Sie an”, hatte die Frau gerufen. Natürlich meinte sie das Auto. Warum sollte er sich angesprochen fühlen? Trotzdem ging er schon zurück. Die junge Frau kniete im hohen, trockenen Gras des Strassengrabens neben dem verletzten Hund, der versuchte zu fliehen, indem er vorwärtskroch.

“C’est votre chien, Monsieur?” Ist das Ihr Hund? fragte sie angstvoll.

“Non”, erwiderte Lars entschieden. Und erklärte auf Deutsch, um von vornherein jedes Gespräch unmöglich zu machen: “Er hat mich nur begleitet.”

“Bleiben Sie bei ihm. Halten Sie seinen Kopf. Ja, so. Ich stoppe ein Auto. Der Kerl vorhin ist ja einfach weitergefahren!” Dunkle Locken fielen in ihr Gesicht, und er sah jetzt, dass sie weinte. Für sein Gefühl eine ziemlich übertriebene Reaktion für einen unbekannten streunernden Hund. Ihr leichtes blaues Kleid, ihre Hände und Arme waren blutbefleckt. Er dachte an seine eigene Kleidung, seine hellen Shorts, das T-Shirt, das er in besseren Tagen in einer Luxusboutike erstanden hatte. Und das alles, weil sie ihn zwang, den Kopf dieses dämlichen Köters zu halten! Er hatte gewusst, dass es Scherereien mit ihm geben würde!

Plötzlich drang schlagartig in sein Bewusstsein vor, dass die junge Frau Deutsch gesprochen hatte. Eine Landsmännin. Auch das noch!

Sie sprang dem folgenden Auto beinahe vor die Räder. Der Fahrer bremste und liess das Fenster herunter. Ehe er den Mund öffnen konnte, schrie sie aufgeregt auf ihn ein, zeigte auf Lars und das Tier am Strassenrand. Der Fahrer stieg aus, breitete eine Decke auf dem Hintersitz aus, und die beiden Männer betteten vorsichtig den Hund darauf. Lars wollte sich verabschieden, aber die Frau griff nach seinem Arm: “Bitte, steigen Sie vorn ein.”

Während er ihrer Aufforderung nachkam, ärgerte er sich wieder. Warum hörte er auf sie? Sie selbst setzte sich nach hinten zu dem Tier, nahm seinen blutenden Kopf auf den Schoss. Der Hund winselte und hechelte immer noch leise. “Im nächsten Dorf gibt es einen Tierarzt”, wies die Frau den Fahrer an.
_ _ _

“So, wir haben seine Wunden versorgt und die Hinterpfote geschient und eingegipst. Sonst hat er nichts Ernstes. Sie können ihn gleich wieder mitnehmen”, sagte er freundliche Arzt.

“Wir wollen ihn nicht mitnehmen, es ist nicht unser Hund”, wehrte Lars entschieden in seinem besten Schulfranzösisch ab.

Aber seine Landsmännin fiel ihm ins Wort: “Danke, vielen Dank, Herr Doktor. Wieviel schulde ich Ihnen?”

Der Arzt nannte die nicht unbeträchliche Summe.

“Ich hab kein Geld bei mir, aber ich werde es Ihnen noch heute vorbeibringen”, versprach sie etwas kleinlaut.

“Warum wollen Sie für einen Köter bezahlen, der Ihnen nicht gehört?” mischte Lars sich wieder ein.

“Weil er nicht das Gefühl haben soll, dass er niemanden auf der Welt hat”, blitzte sie ihn an.

Ergeben reichte er dem Arzt seine Bankkarte. Und versuchte, nicht an seine ohnehin schon mageren Geldreserven zu denken. Warum musste er auch seine Bankkarte überall mit sich herumtragen, sogar, wenn er in den Hügeln spazieren ging? Das hatte er nun davon.

Sie lächelte ihm warm zu: “Danke. Sie bekommen nachher das Geld von mir zurück.”

“Nicht nötig”, winkte er ab. Und seufzte innerlich. Er war immer grosszügig gewesen. Auch eine Eigenschaft, die bei ihm offensichtlich nicht auszurotten war. “Verlangen Sie nur nicht von mir, dass ich den Köter zu mir nehmen soll, das kommt nämlich nicht in Frage.” Er hoffte, dass er sich deutlich genug ausgedrückt hatte.

Auch das Taxi für die Rückfahrt bezahlte er. Mit einem Aufschlag für den Hund. Dann half er der jungen Frau, den Hund in ihr kleines Haus zu tragen. Er war erleichtert, dass es am anderen Endes des Dorfes lag, weit genug von seinem eigenen Haus entfernt, damit sie sich hoffentlich nicht wiederbegegneten. Es war angenehm kühl drinnen. Die provenzalischen Möbel, bemalt in hellen Ocker-, Blau- und Gelbtönen, verliehen dem Raum mit den dunklen Deckenbalken ein freundliches Aussehen. Widerwillig musste er zugeben, dass es gemütlich bei ihr war.

“Darf ich Ihnen zum Dank eine Tasse Tee anbieten, Herr …”

“Friedrichs, Lars Friedrichs”, gab er ungern seine Anonymität auf.

Sie reichte ihm die Hand: “Ich heisse Dina. Dina Volkmann.”

Sie tranken den Tee auf Dinas kleiner Terrasse mit den vielen Blumentöpfen. Von hier aus blickte man weit über die hügelige Landschaft. Lars sah Dina an und fragte sich, was diese hübsche, aber anscheinend etwas verrückte Deutsche in diesem provenzalischen Nest machte. Dinas Blick hingegen ruhte nachdenklich auf dem Hund, der neben ihnen auf einer weichen Decke schlief: “Ich hab ihn schon im Dorf gesehen”, sinnierte sie. “Ich werde versuchen, seinen Besitzer ausfindig zu machen.”

“Wenn Sie ihn finden, dann bestellen Sie ihm doch, dass er den Hund nicht frei herumlaufen lassen soll”, erwiderte Lars streng, trank seinen Tee aus und erhob sich: “Danke für den Tee, aber ich muss jetzt gehen.”

“Warum haben Sie es so eilig? Sie machen doch Ferien hier?” Erschrocken schlug sie sich auf den Mund: “Verzeihen Sie, das ist Dorfklatsch, aber es ist nicht böse gemeint. Wir wissen, dass Sie auf der anderen Seite des Dorfes im Haus dieses Pariser Geschäftsmanns leben, der selbst nicht oft da ist. Ein netter Mann, übrigens.”

Er fragte sich, was man sich noch über ihn erzählte. Dass er ein Eigenbrötler war, der mit niemandem sprach? Er war sich bewusst, dass sein Verhalten seltsam wirken musste. Nun denn, was ging es ihn an? Er war ja auch nicht neugierig auf die Dorfbewohner. Im Gegenteil. Am besten war es, gleich Klartext zu sprechen: “Dann wissen Sie sicher auch, dass ich keinen grossen Wert auf Geselligkeit lege?”

Sie standen jetzt an der Tür, und Dina sah ihn aufmerksam an: “Trotzdem: Wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich einfach wissen. Und nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe.”

Drei Tage später war Lars gerade von seinem täglichen Spaziergang zurückgekommen, als es klopfte.

“Ach, Sie sind es”, sagte er abweisend zu Dina, die mit einem breitschultrigen Mann mittleren Alters vor der Tür stand. Warum hatte er überhaupt aufgemacht? Er würde es nie lernen!

“Herr Friedrichs, das ist Charles Durand, der sich vor einiger Zeit dieses offensichtlich herrenlosen Hundes, den er Jules nennt, angenommen hat. Das heisst, er gab ihm zu fressen, bei ihm bleiben wollte Jules allerdings nicht. Aber jetzt muss der Arme ja erst mal sein gefährliches Vagabundenleben aufgeben. Wegen seines eingegipsten Beins. Monsieur Durand pflegt ihn und hofft, dass Jules sich endlich an ihn gewöhnen wird. Wir sind zu Ihnen gekommen, weil er Ihnen unbedingt die Auslagen zurückerstatten möchte. Er spricht kein Deutsch und hat mich gebeten, Ihnen das alles zu übersetzen.”

Höflicherweise musste Lars die beiden hereinbitten.

“Das ist ein hübsches Haus.” Dina sah sich anerkennend um. “Und es ist schön, dass die Fensterläden endlich mal wieder offen sind.”

Je schneller die beiden wieder gingen, desto besser, dachte Lars. “Sagen Sie doch bitte Monsieur Durand, dass ich das Geld nicht zurückhaben möchte”, wandte er sich an Dina.

Wenn er gewusst hätte, was er sich damit einbrockte!

Jetzt wollte der Franzose ihn und Dina zum Aperitif zu sich einladen. Dina, die Lars’ Gesichtsausdruck sah, zischte ihm in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, zu: “Lehnen Sie nicht ab, das wäre sehr unhöflich!”

Jules befand sich im blühenden Innenhof des Hauses. Es ging ihm sichtlich schon sehr viel besser. Er hinkte ihnen auf drei Pfoten entgegen und rieb seinen Kopf erst an Dina, dann an Lars.

“Von mir nimmt er immer noch nur gerade das Futter an”, bemerkte der Franzose etwas traurig, dann ging er in die Küche und kam bald darauf mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Schale mit Oliven, drei Gläser, eine Flasche Pastis, ein Krug Wasser und ein Behälter mit Eiswürfeln befanden.
_ _ _

“Na, das war doch nicht zu schwierig?” Dina neckte Lars freundlich, als sie eine Stunde später wieder draussen standen.

“Es ging, aber jetzt möchte ich wirklich nicht mehr weder mit den Dorfbewohnern noch mit Ihnen zu tun haben, verstanden?”

“Geht klar”, nickte Dina. Er sah, dass er sie verletzt hatte, aber da konnte er ihr auch nicht helfen. Sie wandte sich um und ging mit eiligen Schritten davon.

Drei Wochen vergingen. Lars erklomm wieder einmal den bewaldeten Hügel. Seine Schritte waren langsam und gleichmässig, er stürmte nicht mehr vorwärts wie am Anfang, als er noch das Bedürfnis hatte, Schmerz und Wut zu betäuben, indem er sich völlig verausgabte. Als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich um. Es war Jules. Er trug jetzt ein Halsband und schleifte eine Leine hinter sich her.

“Jules”, rief jemand. Und noch einmal: “Jules!” Lars erkannte Dinas Stimme. Sie kam angelaufen und bückte sich nach der Leine. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie etwas rot: “Entschuldigen Sie die Störung, Herr Friedrichs”, sagte sie knapp und zog Jules rasch mit sich fort.

Unwillkürlich sah er den beiden nach. Er hatte darum gekämpft, dass man ihn in Ruhe liess, jetzt fühlte er sich plötzlich allein gelassen. Aber wie sah das aus, wenn er jetzt hinter Dina herlief, um sie zu fragen, wie es ihr und Jules ging und wie es kam, dass sie zusammen spazieren gingen? Bestand jetzt womöglich - sonderbarer Weise setzte bei diesem Gedanken sein Herz einen Schlag aus - ein festes Band zwischen ihr und Charles Durand? Und wieso interessierte ihn das auf einmal? Wie reimte sich das alles? Langsam setzte er seinen Spaziergang fort.

Als Jules wenig später wieder neben ihm auftauchte, machte Lars’ Herz einen freudigen Sprung. Der Hund umkreiste ihn, lief zu Dina zurück, blieb aber ausser ihrer Reichweite, so dass sie die Leine nicht ergreifen konnte. In einer hilflosen Geste breitete sie die Arme aus und hob die Schultern.

Froh, einen Grund zu haben, ging Lars ihr entgegen: “Wir sollten es Jules etwas leichter machen, der Arme hinkt doch noch.”

“Heute ist sein erster richtiger Ausgang”, berichtete Dina, als er vor ihr stand. “Er ist die Leine noch nicht gewöhnt. Und ich auch nicht. Ich meine, mit einem Hund an der Leine spazieren zu gehen.

“Wie kommt es, dass Sie mit ihm hier sind?”

Sie lachte ein wenig. “Der arme Charles. Er hat Jules die ganze Zeit gepflegt, aber kaum ging es ihm besser, stand er vor meiner Tür. Jetzt ist er bei mir.” Leise fügte sie hinzu: “Und ich bin glücklich darüber. Er leistet mir Gesellschaft.”

“Mir würde es bei Ihnen auch besser gefallen als bei Charles Durand”, rutschte es Lars heraus.

Dina sah ihn aufmerksam an. Sie hatte wunderschöne Augen, bemerkte er plötzlich. Wie dunkles Gold. Und dicht bewimpert. Jetzt lächelte sie ihm zu: “Es geht Ihnen besser”, stellte sie zufrieden fest.

Ja, es ging ihm besser. Dina hatte Jules von der Leine genommen, und sie gingen langsam weiter. Weil die junge Frau schwieg und auf etwas zu warten schien, fing Lars an zu sprechen. Es war das erste Mal, dass er jemandem so rückhaltslos von seiner schwierigen Ehe und der unerfreulichen Scheidung erzählen konnte. Er hatte sich vor fünf Jahren im Im- und Exporthandel selbstständig gemacht. Die Scheidung hatte ihn nicht nur privat aus der Bahn geworfen, Manuelas Forderungen hatten ihn auch geschäftlich an den Rand des Ruins gebracht. Er war in ein tiefes schwarze Loch gestürzt. Enttäuschung und Bitterkeit hatten ihn bis jetzt daran gehindert zu reagieren.
Sie waren oben angekommen. Die grünen Hügel zogen sich bis zum Meer, das wie flüssiges Silber am Horizont gleisste. Hell wie die Hoffnung, dachte Lars unwillkürlich.

“Und jetzt Sie”, bat er. “Was machen Sie in diesem französischen Dorf?”

Er breitete für Dina sein Hemd auf dem nadelbedeckten Waldboden aus, eine weit ausladende Pinie spendete ihnen Schatten. Sie setzten sich, und Dina erzählte leise ihre eigene Geschichte. Sie hatte in Frankfurt als Dolmetscherin in einem grossen Unternehmen gearbeitet. Dort begegnete sie dem gutaussehenden Franzosen Jean Morand. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, das Gefühl, dass sie füreinander geschaffen waren. Sie war dem jungen Ingenieur in seine Heimatstadt Marseille gefolgt, und sie waren unbeschreiblich glücklich gewesen, bis … Dinas Augen wurden dunkel vor Schmerz: “Vor fast zwei Jahren, kurz vor unserer Hochzeit, ist er in meinem Beisein auf dem Bürgersteig von einem Auto erfasst worden und starb am Unfallort. Man hat den Fahrer, der flüchtete, nie gefunden. Nur das Auto, das er fuhr. Es war gestohlen …”

Jetzt verstand er, warum sie geweint hatte, als Jules überfahren wurde. Und schämte sich. Sie hatte viel Schlimmeres durchgemacht als er, wurde ihm bewusst. Sie hatte den Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte, verloren. Spontan griff er nach ihrer Hand und drückte sie: “Das tut mir entsetzlich leid, Dina.”

Ihre Hand lag fest und schmal in der seinen. Nach Jeans Tod, berichtete sie mit verhaltener Stimme weiter, hatte sie das kleine Haus hier im Dorf gemietet. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Übersetzerin. Leise und sehnsüchtig schloss sie: “Für mich bestand das Leben immer nur aus Verlusten und neuen Anfängen. Ich würde so gern endlich zur Ruhe kommen.”

Sein Blick ruhte auf ihrem schönen, gesenkten Gesicht, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit überflutete ihn, riss die Dämme des Misstrauens und der Vorsicht, die er um sich herum errichtet hatte, mit sich fort. Aber ich liebe sie ja, dachte er überwältigt. Ich kann noch lieben. Wieder lieben! Ihm war, als schlüge in seiner Brust ein neues Herz. Ohne ihre Hand loszulassen, stand er auf und zog sie behutsam hoch. Jules, der nicht von ihrer Seite gewichen war, sah mit klugen Augen abwechselnd von einem zum anderen, als wollte er sagen, dass er das Seinige dazu getan hatte. Den letzten Schritt mussten sie jetzt selbst tun.

Lars nahm Dina in die Arme und fühlte, wie sie zitterte. “Ich liebe dich, Dina, und ich möchte dir so gern diese Ruhe schenken. Kannst du dir vorstellen, nach Deutschland zurückzukommen? Ich besitze fast nichts mehr, aber ich werde wieder hochkommen! Für dich. Für uns beide. Mit dir zusammen fühle ich mich stark.” Er lachte, weil er plötzlich wieder so viel Kraft und Zuversicht in sich spürte. “Sobald ich mich von neuem hochgearbeitet habe, werden wir ein Haus kaufen, Dina. Mit viel Platz für Kinder und auch für Jules.”

Sie schloss die Augen und lehnte ihr Gesicht an seine Schulter: “Ich liebe dich ja auch, Lars, und ich bin auch so froh, dass ich wieder lieben kann. Nach Jeans Tod dachte ich, dass mein Herz gestorben sei. Gleich das erste Mal, als ich dich sah, habe ich gefühlt, dass du in Wirklichkeit ganz anders bist. Deine Augen verrieten es manchmal.”

Er küsste sie unendlich sanft. Sein Atem stockte, als er endlich fragte: “Und? Wie ist nun deine Antwort?”

“Ja, Lars”, lächelte sie glücklich. “Ja, nimm uns mit, Jules und mich!”

ENDE

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Samstag, 23. Februar 2013
Hallo, wer ist am Apparat?
Eines Tages klingelte bei Marietta das Telefon. Am anderen Ende ist ein Junge, der sich einsam fühlt und nur irgend jemandes Stimme hören will. Die junge Frau hat Mitleid mit ihm und lässt sich auf ein Gespräch ein, das ungeahnte Folgen hat.
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“Oh, verdammt, was ist denn das schon wieder? Ein Spinnennetz!” Marietta legte ihre Einkäufe auf den Tisch, holte den Tritthocker, fing vorsichtig die langbeinige, dürre Spinne ein und brachte sie nach draussen auf den Balkon: “Hier findest du sicher mehr zu essen”, meinte sie. Dann riss sie ein Blatt Papier von der Küchenrolle, um das klebrige Gebilde zu beseitigen, und schliesslich verstaute sie die Einkäufe.
”Genug für mindestens drei Tage”, murmelte sie dabei befriedigt vor sich hin. Sie wollte sich gerade wieder an ihren Computer setzen, als das Telefon klingelte. Ohne Eile hob sie ab: “Marietta Hübner, ja bitte?” Niemand antwortete.

”Hallo”, rief Marietta. “Ist da jemand?” Sie spürte förmlich eine Gegenwart am anderen Ende der Leitung. Falsch verbunden und dazu noch unhöflich? schoss es ihr durch den Kopf. Oder einer von den Lüstlingen, die unanständige Vorschläge machten? Aber warum sagte er dann nichts?

Sie wollte gerade achselzuckend auflegen, als eine verlegene Stimme sagte: “Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe einfach eine Nummer gewählt, nur so …” Die Stimme gehörte einem Jungen, der sich hörbar im Stimmbruch befand.

”Warum denn das?” Marietta war von Natur aus neugierig.

Die Antwort kam zögernd: “Naja, es ist so still hier.”

Marietta hatte ein feines Gehör. Sie spürte die Not in der Stimme des Jungen. “Wie heisst du denn?” fragte sie spontan. Schweigen. “Du kannst mir doch deinen Vornamen sagen, das wird dich bestimmt nicht verraten.”

”Jonas”, sagte die Stimme.

”Ich bin also Marietta. Nun schiess los, Jonas!”

”Ich …”

”Ja, du hast doch etwas auf dem Herzen, oder?”

”Ach, hier zu Hause ist alles so ätzend!”

”Ätzend … wie das?” Nicht aufhören zu reden, dachte sie und hatte plötzlich Angst um diesen fremden Jungen.

”Na ja seit … seit Mutti fort ist”, brachte er mit Anstrengung hervor. Seine Stimme rutschte hoch, und er räusperte sich.

”Das tut mir leid, Jonas. Wie lange ist deine Mutter denn schon fort?”

”Seit acht Monaten. Wir waren in den Ferien im Gebirge, und eines Morgens ist sie weggegangen und nicht wiedergekommen.”

Mariettas Gehirn arbeitete blitzschnell. Ein Unfall? Ein Streit? Verstanden sich Jonas Eltern nicht? Aber der Junge schien nicht mehr sagen zu wollen, und sie mochte ihm diese Frage nicht stellen. So sagte sie nur: “Jonas, du hast doch noch deinen Vater?”

”Ja, aber er ist seitdem nicht mehr ansprechbar. Der denkt nur noch an seine Arbeit.”

Er stockte, fuhr hastig fort: “Verzeihen Sie, ich hätte Sie nicht anrufen dürfen. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas mache: einfach eine Nummer wählen. Ziemlich dumm, was?”

”Jonas”, sagte sie rasch, “wenn du mit mir sprechen möchtest, kannst du gern jederzeit wieder anrufen, ja. Und du kannst auch gern ‘du’ zu mir sagen.”

”Hm … ja, danke Marietta. Könnten Sie … könntest du mir deine Telefonnummer geben?”

”Aber …”

”Ich erinnere mich nicht mehr, welche Nummer ich gewählt habe.”

”Ach ja, natürlich!” Sie diktierte ihm die Nummer, fragte noch schnell: “Wie alt bist du, Jonas?”

”Vierzehn. Nochmals vielen Dank.” Seine Stimme klang etwas fester als am Anfang.

Marietta blieb lange unbeweglich sitzen, nachdem sie aufgelegt hatte. Jonas war vierzehn. So alt wäre Jan gewesen, wenn er gelebt hätte, aber Jan war vor vier Jahren von einem Auto erfasst worden, als er mit seinem neuen Fahrrad, das er zum Geburtstag bekommen hatte …

Marietta strich sich über die Stirn. Dieter und sie waren jeder auf seine Weise nicht mit dem Tod ihres einziges Kindes fertig geworden. Dieter hatte körperlich die Flucht ergriffen, war kaum noch nach Hause gekommen, während sie selbst sich nicht von Jans Zimmer hatte losreissen können.

Es hatte mit der Scheidung vor zwei Jahren geendet. Dieter hatte wieder geheiratet, und seine neue Frau erwartete ein Baby. Sie, Marietta, war fortgezogen, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Sie übernahm Schreibarbeiten für Firmen, für Anwaltskanzleien. Früher hatte sie einmal als Sekretärin gearbeitet, aber sie mochte nicht mehr unter Menschen gehen, fühlte sich sicherer in ihren eigenen vier Wänden.

Sie hatten doch nur Jan gehabt. Nach seiner Geburt hatte festgestanden, dass sie keine anderen Kinder würde haben können …

”Ach, hör auf, an all das zu denken”, befahl sie sich und fing energisch an zu tippen.
_ _ _

Am nächsten Tag - Marietta bereitete gerade ihr Abendessen zu - rief Jonas sie wieder an.

”Ich störe dich vielleicht?” erkundigte er sich höflich.

Sie hatte den ganzen Tag an ihn gedacht: “Natürlich nicht”, erwiderte sie.

”Mein Vater ist noch nicht nach Hause gekommen.”

”Oh, es ist aber schon halb acht.”

”Manchmal wird’s neun oder später.”

”Was macht denn dein Vater? Als Beruf, meine ich.”

”Er arbeitet als Ingenieur in der Flugzeugindustrie.”

”Und du? Du gehst sicher zur Schule?”

”Ja, in die neunte Klasse.”

”Du hast doch bestimmt Freunde, Jonas?”

”Im Augenblick nicht so”, zögerte er.

”Und warum nicht? Es ist wichtig, Freunde du haben, weisst du?” Sprich für dich, dachte sie dabei. Seit Jans Tod hatte sie ihre Freunde und Bekannten gemieden, hatte einige von ihnen, die ihr helfen wollten, richtig vor den Kopf gestossen …

”Sie reden nicht mehr mit mir, und ich weiss auch nicht, was ich mit ihnen reden soll”, gestand er. “Sie wissen doch das mit meiner Mutter. Sie gehen mir aus dem Weg, oder stecken die Köpfe zusammen, wenn sie mich sehen. Und Vati redet auch nicht mit mir. Dabei haben wir uns früher wirklich prima verst …”

Eine tiefe Stimme dröhnte jetzt ins Telefon: “Mit wem spricht Jonas? Was geht hier vor?”

Marietta zuckte erschrocken zusammen. Das musste Jonas Vater sein. Er hatte seinen Sohn beim Telefonieren überrascht.

”Herr …”, begann Marietta etwas hilflos.

”Rupert. Hayo Rupert”, erwiderte er kurz.

”Ich bin Marietta Hübner. Ich habe mir nur erlaubt …”

”Sind Sie Jonas Lehrerin? Etwa eine Sozialarbeiterin?”

”N …nein …”

Sie hörte Jonas gepeinigte Stimme im Hintergrund: “Vati, gib mir den Hörer zurück!”

Aber Hayo Rupert dachte nicht daran. Grollend fuhr er fort: “Was hat der Junge Ihnen erzählt?”

”Aber Herr Rupert …”

”Ich verbitte mir jede Einmischung in unser Privatleben. Bin ich deutlich genug?”

Marietta hatte früher viel Temperament besessen. Jetzt brach es wieder durch. Was bildete sich dieser Tropf denn ein? Welch ein unangenehmer Zeitgenosse!

“Jetzt hören Sie mir mal gut zu”, erwiderte sie scharf. “Ich habe nicht vor, mich in irgend etwas einzumischen, aber hier geht es um einen Menschen, Ihren Sohn. Was fällt Ihnen überhaupt ein, unser Gespräch zu unterbrechen? Geben Sie mir sofort Jonas zurück!”

”Ich habe ihn hinausgeschickt. Und gebe Ihnen zu bedenken, dass er minderjährig ist und ich für ihn verantwortlich bin!”

”Dann kümmern Sie sich gefälligst wieder mehr und besser um ihn. Er braucht Sie”, fauchte sie.

Eine kurze Stille entstand, dann schäumte seine Stimme geradezu: “Wie kommen Sie dazu, mir Ratschläge zu erteilen? Was berechtigt Sie überhaupt dazu?”

Der Zorn verliess sie so plötzlich, wie er gekommen war. Kraftlos sank ihre Hand herab, sie legte fast vorsichtig den Hörer auf die Gabel zurück.

Sie verbrachte eine schlaflose Nacht. Hayo Ruperts Stimme, vor Groll, aber auch vor Schmerz entstellt, tönte noch in ihrem Ohr. “Wie kommen Sie dazu, mir Ratschläge zu erteilen …” Tatsächlich, wie kam sie dazu? Was hatten Dieter und sie denn besser gemacht? Ein Kind, das einem entrissen wird, eine Frau, die fortgeht und nicht wiederkommt, und jeder ist mit seinem Leid allein.

Am folgenden Nachmittag, es war kurz nach drei, rief Jonas an. Er entschuldigte sich bei ihr, er hätte seinen Vater nicht kommen hören.

”Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Jonas. Ich hoffe, dass du keine Schwierigkeiten bekommen hast?”

”Vati und ich haben uns ganz schön gestritten”, gab er zu, “und natürlich hat er mir verboten, dich noch einmal anzurufen und zu belästigen, wie er sich ausdrückte. Aber er hat mir dafür versprochen, wieder früher nach Hause zu kommen. Als Mutti noch da war, ist er doch auch immer so früh wie möglich gekommen. Es ging ihr so oft schlecht. Na, ich hör’ jetzt lieber auf. Schade, ich hab’ mich gern mit dir unterhalten. Es hat … es hat mir gut getan. Danke, Marietta.”

Seine Stimme klang traurig und vernünftig zugleich. Sie schnitt ihr ins Herz, aber sie musste zugeben, dass es keine andere Lösung gab. Ausserdem schien Hayo Rupert ja, was seinen Sohn betraf, gute Vorsätze gefasst zu haben, und war das nicht die Hauptsache?

Marietta gingen die beiden Menschen nicht mehr aus dem Sinn. Sie hatte sich ihr Leben nach Jans Tod und ihrer Scheidung neu eingerichtet. In dieser Zweizimmerwohnung mit der Hälfte der Möbel, mit einer neuen Arbeit. Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden, und ein Tag verging wie der andere. Aber sie begriff plötzlich, wie trügerisch diese Ruhe gewesen war. Seit Jonas zufällig ihre Nummer gewählt hatte, war alles aus den Fugen geraten.
_ _ _

Dann, an einem Sonntag - die Sonntage waren am schlimmsten - läutete wieder das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, wollte sich melden und musste sich erst einmal räuspern, ehe sie einen Ton herausbrachte. Sie hatte seit zwei Tagen mit niemandem mehr gesprochen.

”Marietta Hübner, ja bitte?” krächzte sie.

”Hier ist Hayo Rupert. Ich möchte mich bei Ihnen für mein unmögliches Benehmen neulich entschuldigen.”

Sie war auf einmal hellwach: “Bitte, ist schon vergessen”, log sie. Nach kurzem Zögern fragte sie: “Wie geht es Jonas?”

Er antwortete nicht gleich, sie hörte seinen schweren Atem, als sei er sehr müde. Ein schrecklicher Verdacht durchfuhr sie: “Es ist doch nichts passiert?” Es klang wie ein Aufschrei.

”Nein, nein, es geht ihm gut”, beruhigte er sie sofort und etwas erstaunt.

Es war ihr peinlich, sich derart hatte überwältigen zu lassen: “Verzeihen Sie, ich … ich bin ganz durcheinander. Sie müssen wissen, dass mein Sohn jetzt Jonas Alter hätte, wenn …” sie stockte, biss sich verzweifelt auf die Lippen.

”Wenn?” forgerte er sie zum Weitersprechen auf.

”Er ist mit gerade zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er fuhr auf seinem neuen Fahrrad, das mein Mann und ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatten.” Es war das erste Mal, dass sie das jemandem gegenüber aussprechen konnte.

”Das tut mir von ganzem Herzen leid, Marietta. Darf ich Sie Marietta nennen? Wie Jonas? Sie müssen wissen, dass er viel von Ihnen spricht. Und ich Esel habe Ihnen gegenüber diese Bemerkung gemacht … doch, doch, ich erinnere mich sehr gut, was Ihnen das Recht gibt … und so weiter. Sie war sehr grausam. Doppelt grausam unter den gegebenen Umständen.”

”Sie hatten auch Sorgen”, erwiderte sie. “Ich weiss, wie das ist. Wissen Sie jetzt Näheres über den Verbleib Ihrer Frau?”

”Man hat sie gefunden. Tot. Jonas hat Ihnen gesagt, dass wir Ferien im Gebirge machten, nicht wahr? Es war eine sehr einsame Gegend. Das hatte Elise sich gewünscht. Wir hatten eine Ferienwohnung in einem Bergdorf gemietet. Elise ist eines Morgens, als Jonas und ich noch schliefen, fortgegangen. Wir hatten uns nicht gestritten, gar nichts, sie hat auch keinen Brief hinterlassen. Sie war einfach fort und ist nicht wiedergekommen.

Natürlich haben wir die ganze Umgebung nach ihr abgesucht, nichts, keine Spur. Spaziergänger haben sie jetzt gefunden. Sie ist einen Felsen herabgestürzt, war sofort tot. Es war ein sehr unwegsames Gebiet, ziemlich weit vom Bergdorf entfernt. Wir haben sie nun beerdigen können.” Seine Stimme hörte sich elend an, aber er fuhr fort: “Es mag schrecklich klingen, aber es ist fast eine Erlösung. Endlich hat die quälende Warterei ein Ende. Es ist schlimm, weil es so … endgültig ist, aber die Ungewissheit war noch grausamer.”

”Jonas erwähnte einmal, dass es Ihrer Frau oft schlecht ging?” fragte Marietta behutsam.

”Elise war depressiv veranlagt. In den letzten Jahren ist es sehr schlimm geworden. Ich habe für sie getan, was ich konnte, ich liebte sie. Aber wenn die Schwermut sie überfiel, dann litt sie unsagbar, und gegen dieses Leid war ich machtlos. Ohnmächtig musste ich zusehen, wie sie sich quälte. Sogar die Ärzte konnten ihr oft nicht helfen. Es könnte sein, dass sie während eines solchen Anfalls den Tod gesucht hat. Wer will das wissen?”

”Ich möchte jetzt die richtigen Worte finden, um Ihnen zu sagen, wie leid mir das tut, auch für Jonas.” Sie hielt den Atem an. Wie würde er reagieren? Sie selbst war unfähig gewesen, Trost und Hilfe anzunehmen.

Aber Hayo Rupert antwortete: “Danke, dass Sie mir zugehört haben. Jonas hat recht. Es tut gut, mit Ihnen zu sprechen. Ich wollte Sie eigentlich nur anrufen, um mich für meine Grobheit und Taktlosigkeit zu entschuldigen, aber … wäre es vielleicht möglich, dass wir uns sehen? Ich könnte heute Abend für uns drei einen Tisch in einem Restaurant reservieren. Sind Sie einverstanden?”

Sie war es, und pünktlich um halb acht standen Hayo und Jonas vor ihrer Wohnungstür. Hayo in einem dunklen Auzug, mit Brille und sympathischem Schnauzbart, Jonas in Jeans und einem lässigen Pullover. Er war ein lang aufgeschossener Junge mit Bürstenhaarschnitt und den wachen dunklen Augen seines Vaters.

Und Marietta stand vor ihnen in der Tür, gross und schlank, in einem schlichten, hellen Zweiteiler. An den Jackenaufschlag hatte sie eine Stoffblume gesteckt. Alle drei musterten sich einen Augenblick, dann reichte Marietta erst Hayo und dann Jonas die Hand: “Ich freue mich sehr, euch kennenzulernen”, sagte sie warm.

Und dann wurde alles ganz einfach. Schon, als sie zu dritt im Fahrstuhl nach unter fuhren, unterhielten sie sich angeregt miteinander. Über kleine Dinge, Nebensächlichkeiten. Sie mussten ja erst richtig Bekanntschaft miteinander machen. Aber Marietta schien es, als füge sich etwas hier, fast ohne ihr Zutun, wieder zusammen, etwas, das eine Fortsetzung war, aber auch ein neuer Anfang, und dass sie wahrscheinlich nie mehr Selbstgespräche führen würde …

ENDE

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Donnerstag, 21. Februar 2013
Zweimal Glück auf Mykonos
Seit ihrer Scheidung ist Daniela zu einem überzeugten Single geworden. “Bloss keinen Mann mehr”, empfiehlt sie auch ihrer Freundin Anke, die von ihrem Freund sitzen gelassen wurde. Aber sie hat die Rechnung ohne den schönen Jannis gemacht ...
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Anke starrte in den Spiegel: Nass und strähnig hing ihr das Haar ins Gesicht, das Kostüm war schmutzig, die neuen Schuhe konnte sie wegwerfen. Sie war auf dem Heimweg vom Büro in einen Wolkenbruch geraten. Ihr Schirm klemmte, und als sie ihn endlich aufbekam, trat sie in eine Pfütze und wurde gleichzeitig von oben bis unten von einem Auto bespritzt.

All das war jedoch vergleichsweise nur ein kleines Unglück. Das grosse war vor zwei Monaten über sie hereingebrochen, als Henrik sie nach drei Jahren verlassen hatte, weil er plötzlich festgestellt hatte, dass er noch nicht reif war für eine Ehe und Kinder. Und das mit 32 Jahren!

Zu Hause versank Anke in einem heissen Schaumbad, das zwar ihren Körper, aber nicht ihre Seele wärmte. Zwanzig Minuten später trocknete sie sich mutlos ab und wickelte sich in ihren bequemsten Hausmantel. Lustlos schob sie gerade eine tiefgekühlte Pizza in den Backofen, als es klingelte. Sie lief in die Diele und betätigte den elektrischen Türöffner.

Aus dem Aufzug kam ihre Freundin Daniela: “Hast du gepackt? Übermorgen geht’s los. Zwei Wochen Mykonos!”

“Ach, du meine Güte!” stöhnte Anke. “Ich hab’ noch nichts fertig, und überhaupt kann ich eigentlich gar nicht weg.” Kläglich fügte sie hinzu: “Was ist, wenn Henrik zurückkommt?”

Daniela bugsierte ihre Freundin energisch ins Wohnzimmer: “Sei froh, dass du ihn los bist. Er sass doch nur immer wie ein Pascha vorm Fernseher und liess sich von dir bedienen. Sieh mich an! Ich bin ein überzeugter Single, und mir geht’s ausgesprochen gut!”

Daniela war geschieden und hatte sich geschworen, nie wieder auf einen Mann hereinzufallen.

“Wo sind bloss die Männer in unserem Alter, die heiraten und eine Familie gründen wollen?” klagte Anke.

“Entweder in festen Händen oder uninteressant, oder sie haben Angst vor uns”, zählte Daniela nüchtern auf. “Ist doch egal. Freu dich, dass du von jetzt an tun und lassen kannst, was du willst. Zum Beispiel mit deiner besten Freundin Urlaub in Griechenland machen! Deinen Henrik hätten doch keine zehn Pferde dorthin bekommen. Hab’ ich recht?”

“Stimmt”, musste Anke zugeben. Sie hatte Henrik nie zu einer Urlaubsreise überreden können. Sie fuhren statt dessen immer zu seinen Eltern in die Lüneburger Heide.

“Sonne, weisser Strand, blaues Meer, Tavernen”, schwärmte Daniela. “Und bloss keinen Mann!”
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Sie lagen am Paradise-Beach und liessen sich von der Sonne bescheinen. Daniela las, während Anke sich nicht satt sehen konnte an der Schönheit der Bucht. Sie zuckte zusammen, als vor ihr zwei braungebrannte Männerbeine auftauchten. Ein Handtuch wurde schwungvoll ausgebreitet, dann liess sich langsam, so dass sein Muskelspiel voll zur Geltung kam, der schönste Mann der Insel vor ihr nieder.

Er lächelte sie an, zeigte auf seine Brust und sagte mit warmer Samtstimme: “Jannis.”

Anke war fasziniert. “Ich heisse Anke”, hörte sie sich antworten, “und das ist meine Freundin Daniela.”

Daniela sah kurz von ihrer Zeitschrift auf und zischte: “Bist du verrückt? Das ist ein Mann!”

Jannis lachte, was ihn noch unwiderstehlicher machte, und antwortete in tadellosem Deutsch: “Ihre Freundin hat recht. Ich bin ein Mann. Und gewöhnlich auch ganz froh darüber.”

“Sie verstehen Deutsch?”

“Ich habe in München studiert”, grinste er. “Darf ich Sie heute Abend beide zum Essen einladen? Mein Vetter Dimitri hat eine kleine Taverne am Hafen. Er bereitet die besten Langusten der Insel zu.”

“Ich bin nicht interessiert”, erkärte Daniela kühl, “aber du kannst natürlich tun, was du möchtest, Anke. Lass dich nicht abhalten.” Sie stand auf, ging auf langen, schlanken Beinen zum Felsen hinüber, erklomm ihn geschmeidig und stürzte sich mit einem eleganten Kopfsprung in die Fluten.

Jannis sah ihr voll Bewunderung nach. Und fragte bedauernd: “Ist Ihre schöne Freundin immer so abweisend?”

“Sie … sie hat nach ihrer unglücklichen Ehe beschlossen, sich mit keinem Mann mehr einzulassen”, entschuldigte Anke ihre Freundin.

“Wie schade!” Jannis Seufzer kam aus dem Herzen. Dann wandte er sich wieder Anke zu: “Sie haben Haare wie eine Meergöttin. Bitte, leisten Sie mir heute Abend Gesellschaft.”

“Nein”, sagte sie fest. “Ich esse mit meiner Freundin zu Abend.”

Unbeeindruckt fragte Jannis: “Und was machen Sie nach dem Essen?”

“Vielleicht gehen wir in die Disco.”

“Und danach?”

“Danach schlafen wir.” Schlafen schien ihr jedoch auf einmal die langweiligste Beschäftigung auf Erden zu sein.

“Ich werde hier am Strand auf Sie warten, Anke. Bis zum Morgen, wenn es sein muss. Es gibt nichts Schöneres, als bei Vollmond mit einer bezaubernden Frau am Meer spazieren zu gehen. Bitte, kommen Sie!”

Ihr Widerstand schmolz: “Gut, ich komme”, sagte sie, “aber erst, wenn meine Freundin schläft. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich werde auch ein paar Runden schwimmen.”
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Zwei Tage später klopfte Anke an das Hotelzimmer ihrer Freundin: “Aufstehen! Herrliche Sonne! Wir wollen doch einen Ausflug machen. Der Bus fährt in einer Stunde am Hafen ab, und wir müssen noch frühstücken!”

Daniela öffnete die Tür: “Komm rein, ich bin gleich fertig.” Ein ungewohnt weiches Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre Augen strahlten, und als sie zum Spiegel ging, um sich zu kämmen, summte sie selbstvergessen eine griechische Melodie vor sich hin.

Anke stutzte. “Woher kennst du das Lied?”

“Hm, ja … Also, ich hab’ gestern, nachdem du ins Bett gegangen bist, einen Mondscheinspaziergang mit Jannis gemacht. Er hat mir das Lied vorgesungen”, gestand Daniela verlegen.

Anke verschluckte sich und musste husten. Daniela klopfte ihr auf den Rücken und fuhr erklärend fort: “Als ich vorgestern aus dem Wasser kam, sass er ganz allein da und hütete unseren Sonnenschirm. Er sagte traurig, dass du nicht mit ihm ausgehen wolltest, und schlug mir für den nächsten Abend einen Mondscheinspaziergang vor. Ich weiss nicht, was in mich gefahren ist. Aber plötzlich stellte ich mir das schön vor. Ich wüsste nur gern, warum er mir den Spaziergang nicht für den ersten Abend vorgeschlagen hat.”

“Weil er da mit mir spazierengegangen ist”, krächzte Anke. “Er hat mir auch das Lied vorgesungen.”

Daniela starrte sie an: “Warum hast du mir nichts davon erzählt?”

“Ich möchte dazu anmerken, dass du mir ja auch nichts von deinem eigenen Rendez-vous erzählt hast. Sag mal, hat er … ich meine, habt ihr …”

Daniela schüttelte verneinend den Kopf: “Wir haben uns nur geküsst und Händchen gehalten. Es war sehr romantisch. Und er hat mir so nette Sachen gesagt. Weisst du, ich hab mich noch nie derart als Frau gefühlt, schon gar nicht bei meinem Ex.”

Anke nickte nachdenklich “Du hast recht”, stimmte sie zu: “Ich hab auch erst bei Jannis gemerkt, wie es sein kann mit einem Mann. Dabei ist er doch ein Macho, wie er im Buche steht. Allerdings ein Macho mit ausgezeichneten Manieren, deswegen kann man ihm auch nicht böse sein.”

Sie sahen sich an und mussten auf einmal lächeln. “Ein ganz schönes Schlitzohr, was? Aber er hat es fertiggebracht, dass ich den Männern nicht mehr böse bin”, stellte Daniela fest.

“Leider ist so ein Mann völlig untauglich für die Ehe”, seufzte Anke. Sie träumte ein bisschen und fuhr dann entschlossen fort: “Heute fährt er übrigens nach Athen zurück. Wollen wir zum Hafen gehen, um ihn zu verabschieden? Damit er merkt, dass wir ihn durchschaut haben, ihm aber nicht böse sind?”
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Anke und Daniela standen am Hafen und warteten auf Jannis. Dieser wirkte nicht die Spur verlegen, als er die beiden Freundinnen sah. Im Gegenteil. Erfreut sagte er: “Seid ihr meinetwegen gekommen? Das finde ich aber nett!”

“Wie viele sind wir denn, um dir nachzuwinken?” wollte Daniela wissen.

Er lachte: “Nur ihr zwei. Ich war ja nur zwei Tage hier. Ich hoffe, der Spaziergang hat euch gefallen. Ist meine Heimat nicht wunderschön?”

Er nahm erst Daniela, dann Anke in den Arm, wobei er viele neidische Blicke seiner Geschlechtsgenossen erntete, ehe er als Letzter an Bord ging. Die Freundinnen schwenkten ihre Taschentücher, bis das Schiff im gleissenden Licht verschwand. Dann gingen sie einträchtig untergehakt zu Dimitris Taverne und bestellten sich Langusten – zum Andenken an den schönen Jannis.

Ein Taxi hielt. Zwei gutaussehende Männer stiegen aus, entlohnten den Fahrer und sahen sich um. Alle Tische waren besetzt.

Nach kurzem Zögern gingen sie auf Anke und Daniela zu, und der Blonde fragte höflich auf Deutsch: “Entschuldigen Sie, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?”

“Bitte sehr”, lächelte Daniela und zeigte auf die beiden freien Stühle.

“Ich heisse Martin Wilke”, stellte sich der Blonde vor, bevor er sich neben ihr niederliess.

“Und ich bin Benno Kaden”, sagte der Dunkelhaarige und sah Anke bewundernd an, ehe auch er Platz nahm.

Die beiden Männer hatten drei Jahre als Ingenieure auf den Ölfeldern von Saudi-Arabien gearbeitet und wollten Urlaub auf Mykonos machen, ehe sie endgültig in die Heimat zurückkehrten. Sie waren 33 Jahre alt - und Junggesellen.

Den Nachmittag verbrachten sie zu viert am Strand. Danach assen sie bei Dimitri zu Abend und machten später einen Spaziergang am Meer. Zwei Paar Hände fanden sich, und als der Mond hinter einer Wolke verschwand, auch zwei Paar Lippen. Es waren Küsse, die himmlisch nach Zukunft schmeckten …

ENDE

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