Samstag, 9. Februar 2013
Tausendundeine Nacht mittags um zwölf
hillebel, 09:26h
Auf einem Kongress in Marrakesch begegnen Monika und Artur sich wieder. Sie hegen eine tiefe Abneigung gegeneinander, die in der Schule begann und während des Studiums andauerte …
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Dr. Monika Siebert sammelte die Blätter ein und verliess das Rednerpult. Die 33-jährige hübsche Wissenschaftlerin hatte einen Vortrag über die neusten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler gehalten. Der Konferenzsaal leerte sich rasch, es war Zeit für’s Mittagessen. Nur ein Mann blieb zurück, der nun auf Monika zuging und seine schlaksigen Einmeterneunzig zu einer komischen Verbeugung zusammenklappte: “Bemerkenswerter Vortrag, meine Liebe. Welch eine Überraschung, dass wir uns nach all den Jahren hier in Marrakesch wiederbegegnen!”
Monika blies sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und seufzte: “Auf die Überraschung hätte ich gern verzichtet, aber seinem Schicksal entgeht man wohl nicht. Du bist anscheinend das Kreuz, das ich in diesem Leben zu tragen habe.”
“So wie du das meine bist.” Er lachte.
Wütend dachte sie daran, dass er mehr als einmal während der auf den Vortrag folgenden Diskussion versucht hatte, sie mit spitzfindigen und, wie sie zugeben musste, wohlfundierten Bemerkungen aus dem Sattel zu heben. Aber morgen würde sie es ihm schon heimzahlen. Wenn er nämlich seinen eigenen Vortrag hielt. Jawohl.
“Wir könnten zusammen essen und Erinnerungen austauschen”, schlug er vor.
“Danke, ich hab’ was Besseres vor.”
Lieber als mit diesem Ekel verbrachte sie ihre Mittagspause in der wunderschönen und belebten Medina der alten marokkanischen Königsstadt. Kühl nickte sie ihm zu und ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu. Draussen war es heiss, obwohl schon September war. Sie entdeckte ein Taxi, winkte heftig und fing an zu laufen. Und plötzlich glitt sie aus. Noch im Fallen hörte sie ein unheilschwangeres Knacken. Gleichzeitig durchfuhr sie ein so scharfer Schmerz, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
“Monika, was ist passiert?”
Artur stand vor ihr. Schon wieder! “Hol einen Arzt”, fauchte sie, aber er kniete schon vor ihr nieder , untersuchte vorsichtig ihren Fuss. “Tut es weh? Hier?”
“Autsch, ja! Ich will einen Arzt!”
“Ich bin einer, falls dir das entfallen sein sollte”, erklärte er ungerührt.
“Taxi”, rief er den Umstehenden zu, dann wandte er sich wieder an Monika: “Das ist eine Fraktur, wir müssen ins Krankenhaus.”
Geschickt fixierte er den Bruch, dann griff er unter Monikas Axeln und Kniekehlen und hob sie auf.
Verwundert stellte er fest, dass sie viel kleiner und feingliedriger war, als sie immer auf ihn wirkte. Leicht wie eine Feder kam sie ihm vor. Unvermutet stieg ein Gefühl der Zärtlichkeit in ihm auf, das ihm jedoch völlig unangebracht erschien. Doch nicht bei Monika, dieser Kratzbürste!
Richtig bemerkte sie schon ironisch: “Ich hätte nie geglaubt, dass du es eines Tages schaffst, jemanden hochzuheben.”
“Tja, ich treibe seit ein paar Jahren richtig Sport”, erklärte er nicht ohne Stolz.
“Ausgerechnet du?” Trotz der Schmerzen musste sie kichern.
“Ja, ich”, konterte er verletzt. “Und wenn du noch einmal lachst, lasse ich dich fallen.”
Auch sie wurde wieder wütend: “Verdammt, ich hab dich nicht gebeten, mir zu helfen!”
“Und wie hättest du dich hier verständlich gemacht? Sprichst du etwa Französisch?”
“Auf Englisch wär’s bestimmt auch gegangen”, gab sie schnippisch zurück.
Es war, als hätte sich ihr Gewicht plötzlich verdoppelt. Ausserdem war ihm warm. Er fühlte, wie ihm der Schweiss am Körper hinunterlief. “Du mit deiner Arroganz”, knirschte er.
“Von Arroganz kannst du gerade reden! Und überhaupt, du kannst doch auch nicht Französisch. In der Schule hatten wir Englisch und Latein.”
Er verhandelte schon mit dem Taxifahrer. Auf Französisch. Umsichtig verfrachteten sie Monika auf den Hintersitz.
“Geht es so mit dem Fuss?” erkundigte Artur sich förmlich.
“Es geht”, nickte sie gnädig.
Artur setzte sich nach vorn zum Chauffeur. Vorsichtig fuhr das Taxi an.
“Also, wie kommt es, dass du plötzlich Französisch kannst?” insistierte Monika.
Er drehte sich um und zeigte ihr eine lange Nase “Ich hab’s gelernt, aus reiner Freude. Ätsch.”
Einen Augenblick sahen sie sich an wie zwei Kampfhähne, dann mussten sie lachen. “Wir benehmen uns wie Kinder”, seufzte er. “Kaum sehen wir uns wieder, graben wir das Kriegsbeil aus.”
“Diesmal hast du angefangen. Niemand hat mich während der Disklussion so scharf angegriffen wie du!”
“Das wird dir zu noch mehr Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen verhelfen. Du hast mir nämlich souverän Kontra gegeben”, grinste er.
“Tu’ nicht so, in Wirklichkeit wolltest du mich blamieren.”
“Wenn das bloss so einfach wäre!”
Er blieb bei ihr, als ihr Fuss geröntgt und eingegipst wurde. Nachher versuchte sie, ein paar Schritte mit den Krücken zu gehen, die Artur in der Zwischenzeit für sie aufgetrieben hatte. Es sah gefährlich wackelig aus, aber als er ihr helfen wollte, schob sie seine Hand fort: “Ich will’s allein schaffen, Artur.”
“Wie immer”, ärgerte er sich.
Im Hotel stellten sie fest, dass ihre Zimmer nebeneinander lagen. Artur half ihr, sich auf dem Bett auszustrecken, schob ein Kissen in ihren Rücken und stellte auf ihre Bitte das Telefon neben sie. Dann wandte er sich zum Gehen: “Wenn du mich brauchst, klopf an die Zimmerwand, ja?”
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Sogleich wählte sie Volkers Nummer. Er hatte es eilig: “Wie geht’s Liebling? Bitte, fass dich kurz, ich muss zu einer Besprechung.”
“Volker, mir ist etwas ganz Dummes passiert. Ich hab mir den Fuss gebrochen. Du hast recht, ich muss mich sehr ungeschickt angestellt haben. Sag, könntest du mich hier in Marrakesch abholen? Unmöglich? Du bist unabkömmlich in der Firma? Ich soll die Versicherung einschalten? Natürlich, du hast ja recht. Wozu bezahlen wir die Beiträge. Ich werde mich gleich darum kümmern, mach’ dir keine Sorgen. Ich …”
“Ich liebe dich”, hatte sie sagen wollen, aber Volker hatte schon aufgelegt.
Volker. Seit vier Jahren lebten sie nun schon zusammen, aber bis jetzt wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn um etwas Derartiges zu bitten: Sie hier abzuholen. Zwischen ihnen bestand ein stillschweigendes Abkommen, so wenig wie möglich auf dem anderen zu lasten. Sie machten beide Karriere. Sie in der medizinischen Forschung, er als Manager. Selbst für’s Heiraten fanden sie keinen freien Termin.
Was war mit ihr los? Woher kam der plötzliche Wunsch, mehr zu sein für einen Mann als die immer vernünftig reagierende, verständnisvolle Partnerin? Wieso kam sie sich auf einmal so einsam vor? Und ihr Leben so steril?
Nach einigem Nachdenken glaubte sie den Grund gefunden zu haben. Natürlich, sie stand noch unter dem Unfallschock! Und dann der Vortrag heute morgen. Der ganze Tag war ganz einfach ungeheuer anstrengend gewesen.
Es klopfte. Artur steckte den Kopf durch die Tür: “Ich wollte wissen, ob ich etwas für dich tun kann.”
“Danke, Artur, aber ich komme jetzt gut allein zurecht.”
Er kam herein, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich: “Warum hast du eigentlich diese Wut auf mich?”
“Und du auf mich?” Wieder dachte sie an seine Angriffe nach ihrem Vortrag.
“Stell dir vor, ich habe gerade darüber nachgedacht. Vor achzehn Jahren haben unsere Wege sich zum ersten Mal gekreuzt, stimmt’s?”
“Genau. Ich kam neu in die elfte Klasse, und ich erinnere mich noch heute an deine dämliche Überheblichkeit.”
“Das war Selbstschutz”, gestand er. “Im Wirklichkeit hatte ich Komplexe. Ich war mager, ein langer Lulatsch, überhaupt kein sportlicher Typ. Das hast du mir ja promt unter die Nase gerieben.”
“Und du hast mich damals mit meinen grossen Füssen aufgezogen”, konterte sie nachtragend. “Und dass ich so lange keinen Busen hatte. Platt wie ein Bügelbrett, waren deine Worte.”
“Ich glaubte, dass ich niemals Erfolg haben würde bei den Frauen. Und was noch schlimmer war, ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.”
“Dabei standen doch gerade dir alle Möglichkeiten offen”, erregte sie sich. “Du bist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Mit 18 bekamst du einen Sportwagen. Gott, hast du damit angegeben! Du warst das Paradebeispiel eines verwöhnten Papasöhnchens. Aber vor allem störte mich an dir, dass du so faul warst, dass du deine Chancen nicht nutztest. Im Gegenteil zu dir konnte ich nur auf mich selbst zählen. Meine Eltern waren gegen das Abitur und ein Studium. Weil ich ein Mädchen war. Ich sollte ihnen in der Gastwirtschaft helfen.”
“Faul war ich dann ja nicht mehr lange. Ich hab wie ein Irrer geschuftet, nur, um es dir zu zeigen. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich schliesslich ein augezeichnetes Abitur gemacht habe.” Er grinste über das ganze Gesicht, und auf einmal sah er ungeheuer liebenswert aus. Monika entschied jedoch, dass ihre Augen und Sinne ihr einen Streich spielen mussten: Artur Overkamp konnte nicht liebenswert sein!
“Wir haben es mit der gleichen, ausgezeichneten Durchschnittsnote geschafft”, fuhr Artur nichtsahnend fort. “Ich weiss noch, dass mich der Schlag traf, als wir uns schon im Herbst wiederbegegneten. Wir hatten uns für’s selbe Studium eingeschrieben: Medizin. Und das auch noch an derselben Uni. Und unser Wettkampf ging weiter. Mal warst du die bessere, mal ich. Eigentlich haben wir es ganz schön weit damit gebracht, findest du nicht?”
Sie nickte nachdenklich. Artur war dabei, sich als Herzchirurg einen Namen zu machen, und von ihr waren schon mehrere Beiträge in Fachblättern erschienen.
“Bist du zufrieden mit deinem Leben, Artur? Ich weiss nicht einmal, ob du verheiratet bist.”
“Nein, ich bin immer noch ledig. Und du?”
“Ich lebe mit einem Mann zusammen, einem Industriemanager.”
“Liebst du ihn?”
Sie blieb ihm zu ihrer eigenen Überraschung die Antwort schuldig. Bis jetzt hatte sie es geglaubt, jetzt war sie nicht mehr sicher. Schuld daran waren diese eindringlichen blauen Augen, die sie nicht losliessen.
Ein leichter Schwindel ergriff sie, und plötzlich spürte sie ein unglaublich süsses Ziehen in ihrem ganzen Körper. Erschrocken schluckte sie.
“Monika, ist dir klar, dass wir seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen haben? Es ist Essenszeit. Wir könnten uns etwas aufs Zimmer bringen lassen. Soll ich unten anrufen?”
Sie stellte fest, dass sie nichts sehnlicher wünschte, als den Abend mit Artur zu verbringen, aber morgen schon könnte es ihr leid tun, ihn so nah an sich hatte herankommen zu lassen: “Nein, Artur, iss du mit den anderen, ich esse hier oben, aber allein. Ich muss mich auch noch mit der Versicherung in Verbindung setzen, damit sie mich morgen zurückfliegen.”
Sie wollte sich von der Versicherung zurückholen lassen? Was tat denn dieser Manager, mit dem sie zusammenlebte? Konnte er sie nicht abholen? Wenn der Dummkopf nicht dazu imstande war, würde er, Artur, dafür sorgen, dass sie wieder heil nach Hause kam.
Plötzlich wurde ihm schmerzlich bewusst, wie schön sie war mit ihrem beweglichen Mund, der charaktervollen Nase und den ausdrucksstarken nussbraunen Augen, in denen so viel Wärme und Anteilnahme lag - wenn sie nicht gerade mit ihm stritt. Sein Blick glitt von ihrem langen, grazilen Hals zu den nicht sehr grossen, aber festen runden Brüsten unter dem leichten Kleid. Sie gefielen ihm. Unendlich. Es tat ihm leid, sie je mit einem Bügelbrett verglichen zu haben. Er spürte den unwiderstehlichen Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass es so viel anderes im Leben gab als den unsinnigen Krieg, den sie führten. Die Liebe. Und Kinder. Ein Haus mit einem Garten voller Vögel und Blumen. Einen Baum mit einer Schaukel …
Und zu allem Überfluss stellte er fest, dass es ihm nicht das geringste Vergnügen bereiten würde, morgen ohne sie seinen Vortrag zu halten. Für wen hatte er denn so viel Sorgfalt darauf verwendet, wenn nicht für sie? Weil er wusste, dass sie an dieser Tagung teilnehmen würde?
Sie schien seine Gedanken erraten zu haben: “Freu dich nicht zu früh. Deinen Vortrag höre ich mir noch an. Und mach dich bei der Diskussion auf etwas gefasst!”
“Wunderbar”, rieb er sich erfreut die Hände. “Ich hole dich also morgen früh ab. Wenn es sein muss, trage ich dich bis zum Konferenzsaal. Und wenn du dann immer noch nach Hause willst, fliegen wir zusammen zurück. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich alleine mit allem klarkommen lasse?”
Ihr war auf einmal richtig fröhlich zumute: “Bis morgen also. Und rechne nicht auf Gnade!”
_ _ _
Wie versprochen holte er sie am nächsten Morgen ab und wich nicht einen Millimeter von ihrer Seite, als sie auf ihre beiden Krücken gestützt langsam den Garten bis zum Konferenzgebäude durchquerte. Ihr Mut und ihre Art, die Schmerzen zu ignorieren, imponierten ihm.
Und als er dann seinen Vortrag hielt, sah er nur sie …
Atemlos und erhitzt standen sie sich nachher gegenüber. “Na, wie war ich?” lachte sie ihn an.
“Hervorragend!”
“Du auch”, sagte sie weich. “Und was machen wir jetzt?”
“Wir essen fürstlich zu Mittag. Ich lade dich ein!”
Sie sassen im blühenden Innenhof des Hotels, in dessen Mitte ein erfrischender Brunnen plätscherte. Leise arabische Musik liess eine Welt wie aus Tausendundeiner Nacht erstehen. Monika stellte fest, dass sie sich so wohl fühlte wie noch nie in ihrem Leben. Mehr noch, sie fühlte sich beschützt, geborgen, in Sicherheit.
Und das bei Artur! Und es gefiel ihr! Der junge marokkanische Keller brachte die gegrillten Hummer. Sie schmeckten köstlich. Dazu tranken sie einen himmlischen Sancerre.
“Nach wem heisst du eigentlich Artur?” wollte Monika wissen. “Ich meine, der Name ist doch nicht gerade sehr geläufig heute, obwohl ein legendärer König so hiess.”
“Ich heisse nach meinem Grossvater so. Früher mochte ich den Namen nicht, aber Opa war ein lebensfroher und warmherziger Mann, und heute wäre ich gern so wie er.”
“Aber das bist du doch schon, Artur.”
“Findest du das wirklich?”
Sie nickte bestimmt. Und staunte, dass Artur ihr jetzt auch noch lebensfroh und warmherzig vorkam.
Nach dem Nachtisch, der aus sonnenreifen, exotischen Früchten bestand, brachte er sie bis zu ihrem Zimmer. “Du möchtest dich sicher etwas ausruhen …”
Sie sah ihn lächelnd an: “Kommst du mit herein?” bat sie leise.
Er hob sie behutsam auf, trug sie zum Bett und legte sie darauf nieder, und als er sich hinunterbeugte und sie küsste, gewann er zu all den anderen Eigenschaften auch noch die eines ausserordentlich zärtlichen und leidenschaftlichen Mannes hinzu …
ENDE
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Dr. Monika Siebert sammelte die Blätter ein und verliess das Rednerpult. Die 33-jährige hübsche Wissenschaftlerin hatte einen Vortrag über die neusten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler gehalten. Der Konferenzsaal leerte sich rasch, es war Zeit für’s Mittagessen. Nur ein Mann blieb zurück, der nun auf Monika zuging und seine schlaksigen Einmeterneunzig zu einer komischen Verbeugung zusammenklappte: “Bemerkenswerter Vortrag, meine Liebe. Welch eine Überraschung, dass wir uns nach all den Jahren hier in Marrakesch wiederbegegnen!”
Monika blies sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und seufzte: “Auf die Überraschung hätte ich gern verzichtet, aber seinem Schicksal entgeht man wohl nicht. Du bist anscheinend das Kreuz, das ich in diesem Leben zu tragen habe.”
“So wie du das meine bist.” Er lachte.
Wütend dachte sie daran, dass er mehr als einmal während der auf den Vortrag folgenden Diskussion versucht hatte, sie mit spitzfindigen und, wie sie zugeben musste, wohlfundierten Bemerkungen aus dem Sattel zu heben. Aber morgen würde sie es ihm schon heimzahlen. Wenn er nämlich seinen eigenen Vortrag hielt. Jawohl.
“Wir könnten zusammen essen und Erinnerungen austauschen”, schlug er vor.
“Danke, ich hab’ was Besseres vor.”
Lieber als mit diesem Ekel verbrachte sie ihre Mittagspause in der wunderschönen und belebten Medina der alten marokkanischen Königsstadt. Kühl nickte sie ihm zu und ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu. Draussen war es heiss, obwohl schon September war. Sie entdeckte ein Taxi, winkte heftig und fing an zu laufen. Und plötzlich glitt sie aus. Noch im Fallen hörte sie ein unheilschwangeres Knacken. Gleichzeitig durchfuhr sie ein so scharfer Schmerz, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
“Monika, was ist passiert?”
Artur stand vor ihr. Schon wieder! “Hol einen Arzt”, fauchte sie, aber er kniete schon vor ihr nieder , untersuchte vorsichtig ihren Fuss. “Tut es weh? Hier?”
“Autsch, ja! Ich will einen Arzt!”
“Ich bin einer, falls dir das entfallen sein sollte”, erklärte er ungerührt.
“Taxi”, rief er den Umstehenden zu, dann wandte er sich wieder an Monika: “Das ist eine Fraktur, wir müssen ins Krankenhaus.”
Geschickt fixierte er den Bruch, dann griff er unter Monikas Axeln und Kniekehlen und hob sie auf.
Verwundert stellte er fest, dass sie viel kleiner und feingliedriger war, als sie immer auf ihn wirkte. Leicht wie eine Feder kam sie ihm vor. Unvermutet stieg ein Gefühl der Zärtlichkeit in ihm auf, das ihm jedoch völlig unangebracht erschien. Doch nicht bei Monika, dieser Kratzbürste!
Richtig bemerkte sie schon ironisch: “Ich hätte nie geglaubt, dass du es eines Tages schaffst, jemanden hochzuheben.”
“Tja, ich treibe seit ein paar Jahren richtig Sport”, erklärte er nicht ohne Stolz.
“Ausgerechnet du?” Trotz der Schmerzen musste sie kichern.
“Ja, ich”, konterte er verletzt. “Und wenn du noch einmal lachst, lasse ich dich fallen.”
Auch sie wurde wieder wütend: “Verdammt, ich hab dich nicht gebeten, mir zu helfen!”
“Und wie hättest du dich hier verständlich gemacht? Sprichst du etwa Französisch?”
“Auf Englisch wär’s bestimmt auch gegangen”, gab sie schnippisch zurück.
Es war, als hätte sich ihr Gewicht plötzlich verdoppelt. Ausserdem war ihm warm. Er fühlte, wie ihm der Schweiss am Körper hinunterlief. “Du mit deiner Arroganz”, knirschte er.
“Von Arroganz kannst du gerade reden! Und überhaupt, du kannst doch auch nicht Französisch. In der Schule hatten wir Englisch und Latein.”
Er verhandelte schon mit dem Taxifahrer. Auf Französisch. Umsichtig verfrachteten sie Monika auf den Hintersitz.
“Geht es so mit dem Fuss?” erkundigte Artur sich förmlich.
“Es geht”, nickte sie gnädig.
Artur setzte sich nach vorn zum Chauffeur. Vorsichtig fuhr das Taxi an.
“Also, wie kommt es, dass du plötzlich Französisch kannst?” insistierte Monika.
Er drehte sich um und zeigte ihr eine lange Nase “Ich hab’s gelernt, aus reiner Freude. Ätsch.”
Einen Augenblick sahen sie sich an wie zwei Kampfhähne, dann mussten sie lachen. “Wir benehmen uns wie Kinder”, seufzte er. “Kaum sehen wir uns wieder, graben wir das Kriegsbeil aus.”
“Diesmal hast du angefangen. Niemand hat mich während der Disklussion so scharf angegriffen wie du!”
“Das wird dir zu noch mehr Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen verhelfen. Du hast mir nämlich souverän Kontra gegeben”, grinste er.
“Tu’ nicht so, in Wirklichkeit wolltest du mich blamieren.”
“Wenn das bloss so einfach wäre!”
Er blieb bei ihr, als ihr Fuss geröntgt und eingegipst wurde. Nachher versuchte sie, ein paar Schritte mit den Krücken zu gehen, die Artur in der Zwischenzeit für sie aufgetrieben hatte. Es sah gefährlich wackelig aus, aber als er ihr helfen wollte, schob sie seine Hand fort: “Ich will’s allein schaffen, Artur.”
“Wie immer”, ärgerte er sich.
Im Hotel stellten sie fest, dass ihre Zimmer nebeneinander lagen. Artur half ihr, sich auf dem Bett auszustrecken, schob ein Kissen in ihren Rücken und stellte auf ihre Bitte das Telefon neben sie. Dann wandte er sich zum Gehen: “Wenn du mich brauchst, klopf an die Zimmerwand, ja?”
_ _ _
Sogleich wählte sie Volkers Nummer. Er hatte es eilig: “Wie geht’s Liebling? Bitte, fass dich kurz, ich muss zu einer Besprechung.”
“Volker, mir ist etwas ganz Dummes passiert. Ich hab mir den Fuss gebrochen. Du hast recht, ich muss mich sehr ungeschickt angestellt haben. Sag, könntest du mich hier in Marrakesch abholen? Unmöglich? Du bist unabkömmlich in der Firma? Ich soll die Versicherung einschalten? Natürlich, du hast ja recht. Wozu bezahlen wir die Beiträge. Ich werde mich gleich darum kümmern, mach’ dir keine Sorgen. Ich …”
“Ich liebe dich”, hatte sie sagen wollen, aber Volker hatte schon aufgelegt.
Volker. Seit vier Jahren lebten sie nun schon zusammen, aber bis jetzt wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn um etwas Derartiges zu bitten: Sie hier abzuholen. Zwischen ihnen bestand ein stillschweigendes Abkommen, so wenig wie möglich auf dem anderen zu lasten. Sie machten beide Karriere. Sie in der medizinischen Forschung, er als Manager. Selbst für’s Heiraten fanden sie keinen freien Termin.
Was war mit ihr los? Woher kam der plötzliche Wunsch, mehr zu sein für einen Mann als die immer vernünftig reagierende, verständnisvolle Partnerin? Wieso kam sie sich auf einmal so einsam vor? Und ihr Leben so steril?
Nach einigem Nachdenken glaubte sie den Grund gefunden zu haben. Natürlich, sie stand noch unter dem Unfallschock! Und dann der Vortrag heute morgen. Der ganze Tag war ganz einfach ungeheuer anstrengend gewesen.
Es klopfte. Artur steckte den Kopf durch die Tür: “Ich wollte wissen, ob ich etwas für dich tun kann.”
“Danke, Artur, aber ich komme jetzt gut allein zurecht.”
Er kam herein, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich: “Warum hast du eigentlich diese Wut auf mich?”
“Und du auf mich?” Wieder dachte sie an seine Angriffe nach ihrem Vortrag.
“Stell dir vor, ich habe gerade darüber nachgedacht. Vor achzehn Jahren haben unsere Wege sich zum ersten Mal gekreuzt, stimmt’s?”
“Genau. Ich kam neu in die elfte Klasse, und ich erinnere mich noch heute an deine dämliche Überheblichkeit.”
“Das war Selbstschutz”, gestand er. “Im Wirklichkeit hatte ich Komplexe. Ich war mager, ein langer Lulatsch, überhaupt kein sportlicher Typ. Das hast du mir ja promt unter die Nase gerieben.”
“Und du hast mich damals mit meinen grossen Füssen aufgezogen”, konterte sie nachtragend. “Und dass ich so lange keinen Busen hatte. Platt wie ein Bügelbrett, waren deine Worte.”
“Ich glaubte, dass ich niemals Erfolg haben würde bei den Frauen. Und was noch schlimmer war, ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.”
“Dabei standen doch gerade dir alle Möglichkeiten offen”, erregte sie sich. “Du bist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Mit 18 bekamst du einen Sportwagen. Gott, hast du damit angegeben! Du warst das Paradebeispiel eines verwöhnten Papasöhnchens. Aber vor allem störte mich an dir, dass du so faul warst, dass du deine Chancen nicht nutztest. Im Gegenteil zu dir konnte ich nur auf mich selbst zählen. Meine Eltern waren gegen das Abitur und ein Studium. Weil ich ein Mädchen war. Ich sollte ihnen in der Gastwirtschaft helfen.”
“Faul war ich dann ja nicht mehr lange. Ich hab wie ein Irrer geschuftet, nur, um es dir zu zeigen. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich schliesslich ein augezeichnetes Abitur gemacht habe.” Er grinste über das ganze Gesicht, und auf einmal sah er ungeheuer liebenswert aus. Monika entschied jedoch, dass ihre Augen und Sinne ihr einen Streich spielen mussten: Artur Overkamp konnte nicht liebenswert sein!
“Wir haben es mit der gleichen, ausgezeichneten Durchschnittsnote geschafft”, fuhr Artur nichtsahnend fort. “Ich weiss noch, dass mich der Schlag traf, als wir uns schon im Herbst wiederbegegneten. Wir hatten uns für’s selbe Studium eingeschrieben: Medizin. Und das auch noch an derselben Uni. Und unser Wettkampf ging weiter. Mal warst du die bessere, mal ich. Eigentlich haben wir es ganz schön weit damit gebracht, findest du nicht?”
Sie nickte nachdenklich. Artur war dabei, sich als Herzchirurg einen Namen zu machen, und von ihr waren schon mehrere Beiträge in Fachblättern erschienen.
“Bist du zufrieden mit deinem Leben, Artur? Ich weiss nicht einmal, ob du verheiratet bist.”
“Nein, ich bin immer noch ledig. Und du?”
“Ich lebe mit einem Mann zusammen, einem Industriemanager.”
“Liebst du ihn?”
Sie blieb ihm zu ihrer eigenen Überraschung die Antwort schuldig. Bis jetzt hatte sie es geglaubt, jetzt war sie nicht mehr sicher. Schuld daran waren diese eindringlichen blauen Augen, die sie nicht losliessen.
Ein leichter Schwindel ergriff sie, und plötzlich spürte sie ein unglaublich süsses Ziehen in ihrem ganzen Körper. Erschrocken schluckte sie.
“Monika, ist dir klar, dass wir seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen haben? Es ist Essenszeit. Wir könnten uns etwas aufs Zimmer bringen lassen. Soll ich unten anrufen?”
Sie stellte fest, dass sie nichts sehnlicher wünschte, als den Abend mit Artur zu verbringen, aber morgen schon könnte es ihr leid tun, ihn so nah an sich hatte herankommen zu lassen: “Nein, Artur, iss du mit den anderen, ich esse hier oben, aber allein. Ich muss mich auch noch mit der Versicherung in Verbindung setzen, damit sie mich morgen zurückfliegen.”
Sie wollte sich von der Versicherung zurückholen lassen? Was tat denn dieser Manager, mit dem sie zusammenlebte? Konnte er sie nicht abholen? Wenn der Dummkopf nicht dazu imstande war, würde er, Artur, dafür sorgen, dass sie wieder heil nach Hause kam.
Plötzlich wurde ihm schmerzlich bewusst, wie schön sie war mit ihrem beweglichen Mund, der charaktervollen Nase und den ausdrucksstarken nussbraunen Augen, in denen so viel Wärme und Anteilnahme lag - wenn sie nicht gerade mit ihm stritt. Sein Blick glitt von ihrem langen, grazilen Hals zu den nicht sehr grossen, aber festen runden Brüsten unter dem leichten Kleid. Sie gefielen ihm. Unendlich. Es tat ihm leid, sie je mit einem Bügelbrett verglichen zu haben. Er spürte den unwiderstehlichen Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass es so viel anderes im Leben gab als den unsinnigen Krieg, den sie führten. Die Liebe. Und Kinder. Ein Haus mit einem Garten voller Vögel und Blumen. Einen Baum mit einer Schaukel …
Und zu allem Überfluss stellte er fest, dass es ihm nicht das geringste Vergnügen bereiten würde, morgen ohne sie seinen Vortrag zu halten. Für wen hatte er denn so viel Sorgfalt darauf verwendet, wenn nicht für sie? Weil er wusste, dass sie an dieser Tagung teilnehmen würde?
Sie schien seine Gedanken erraten zu haben: “Freu dich nicht zu früh. Deinen Vortrag höre ich mir noch an. Und mach dich bei der Diskussion auf etwas gefasst!”
“Wunderbar”, rieb er sich erfreut die Hände. “Ich hole dich also morgen früh ab. Wenn es sein muss, trage ich dich bis zum Konferenzsaal. Und wenn du dann immer noch nach Hause willst, fliegen wir zusammen zurück. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich alleine mit allem klarkommen lasse?”
Ihr war auf einmal richtig fröhlich zumute: “Bis morgen also. Und rechne nicht auf Gnade!”
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Wie versprochen holte er sie am nächsten Morgen ab und wich nicht einen Millimeter von ihrer Seite, als sie auf ihre beiden Krücken gestützt langsam den Garten bis zum Konferenzgebäude durchquerte. Ihr Mut und ihre Art, die Schmerzen zu ignorieren, imponierten ihm.
Und als er dann seinen Vortrag hielt, sah er nur sie …
Atemlos und erhitzt standen sie sich nachher gegenüber. “Na, wie war ich?” lachte sie ihn an.
“Hervorragend!”
“Du auch”, sagte sie weich. “Und was machen wir jetzt?”
“Wir essen fürstlich zu Mittag. Ich lade dich ein!”
Sie sassen im blühenden Innenhof des Hotels, in dessen Mitte ein erfrischender Brunnen plätscherte. Leise arabische Musik liess eine Welt wie aus Tausendundeiner Nacht erstehen. Monika stellte fest, dass sie sich so wohl fühlte wie noch nie in ihrem Leben. Mehr noch, sie fühlte sich beschützt, geborgen, in Sicherheit.
Und das bei Artur! Und es gefiel ihr! Der junge marokkanische Keller brachte die gegrillten Hummer. Sie schmeckten köstlich. Dazu tranken sie einen himmlischen Sancerre.
“Nach wem heisst du eigentlich Artur?” wollte Monika wissen. “Ich meine, der Name ist doch nicht gerade sehr geläufig heute, obwohl ein legendärer König so hiess.”
“Ich heisse nach meinem Grossvater so. Früher mochte ich den Namen nicht, aber Opa war ein lebensfroher und warmherziger Mann, und heute wäre ich gern so wie er.”
“Aber das bist du doch schon, Artur.”
“Findest du das wirklich?”
Sie nickte bestimmt. Und staunte, dass Artur ihr jetzt auch noch lebensfroh und warmherzig vorkam.
Nach dem Nachtisch, der aus sonnenreifen, exotischen Früchten bestand, brachte er sie bis zu ihrem Zimmer. “Du möchtest dich sicher etwas ausruhen …”
Sie sah ihn lächelnd an: “Kommst du mit herein?” bat sie leise.
Er hob sie behutsam auf, trug sie zum Bett und legte sie darauf nieder, und als er sich hinunterbeugte und sie küsste, gewann er zu all den anderen Eigenschaften auch noch die eines ausserordentlich zärtlichen und leidenschaftlichen Mannes hinzu …
ENDE
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