Montag, 11. Februar 2013
Der Sommerhimmel in deinen Augen
Der Galeriebesitzer Rainer Holthaus ist unterwegs, um einen exzentrischen Künstler zu treffen. Als er in ein Unwetter gerät und seinen Wagen zu Schrott fährt, ist er gezwungen, in einem kleinen Hotel zu übernachten. Dort macht er eine erstaunliche Entdeckung …
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Angestrengt starrte Rainer Holthaus durch die Windschutzscheibe. Wie eine weisse Wand rauschte der Regen vor ihm herunter. Die Vernunft gebot, an den Strassenrand zu fahren und abzuwarten, bis das Unwetter vorbei war, aber es waren nur noch wenige Kilometer bis zu Anton Hoga, und der alte egozentrische Künstler war für seine Wutausbrüche und Stimmungsumschwünge bekannt. Er hatte es schon fertiggebracht, ein wichtiges Interview abzublasen, weil der Journalist nicht auf die Minute pünktlich war. Wieviel leichter würde es ihm fallen, ihm, Rainer, die Tür zu weisen. Oder sie ihm gar nicht erst zu öffnen. Nicht Hoga brauchte ihn, sondern er, Rainer, brauchte Hoga. Zumindestens behauptete das Iris. In der letzten grossen Szene, die sie ihm gemacht hatte, hatte sie ihm entgegengeschleudert, dass sie es satt habe, nie wirklich schön mit ihm verreisen zu können. Satt, dass er gerade genug verdiente, um eben über die Runden zu kommen. “Ich habe nie einen Mann gekannt, der sich so dämlich anstellt wie du! Mit 37 Jahren müsstest du es als Kunsthistoriker schon viel weiter gebracht haben. Du könntest Konservator in einem Museum sein, oder dich wenigstens um Künstler kümmern, die dem Zeitgeist entsprechen und mehr Geld einbringen als deine Schützlinge!” Sie war es, die den Termin mit Anton Hoga gemacht hatte. Sie kannte jemanden, der Hoga kannte. Iris war Kommunikationsmanagerin in einem Dienstleistungsunternehmen. Und verdiente dreimal so viel wie er. Rainer seufzte. Er mochte weder Hogas Kunst, noch den Künstler selbst …

Plötzlich glitt der Wagen in einer Kurve weg. Nach einer lähmenden Schrecksekunde versuchte er vorsichtig gegenzusteuern, aber die Strasse war wie ein glatter Spiegel. Er fuhr in Gebüsch, Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe, die zersplitterte. Plötzlich kippte der Wagen nach vorn. Rainer hörte das unangenehme Knirschen von zusammengedrücktem Metall. Danach war alles still …

Vorsichtig kroch er aus dem Wagen. Mit zitternden Knien richtete er sich auf. Glück im Unglück: ihm selbst schien nichts passiert zu sein. Aber das Auto! Iris nannte es ohnehin schon verächtlich eine Rostlaube. Bekümmert starrte er jetzt auf den Blechhaufen.

Im Handumdrehen war er durchnässt. Er kletterte aus dem Graben und stellte sich an der Strassenrand. Niemand kam vorbei, bei dem Wetter blieben wohl alle zu Hause. Seufzend machte er sich auf die Suche nach einer menschlichen Behausung …

Endlich kam er an eine Tankstelle und öffnete die Tür zum kleinen Geschäftsraum. Die Frau an der Kasse sah ihn erschrocken an: “Ja, was ist Ihnen denn passiert?” Sofort lief sie nach hinten und kam mit einem sauberen Handtuch zurück: “Hier, drücken Sie das gegen Ihre Stirn. Sie bluten ja. Ich rufe sofort einen Arzt!”

Im Kreiskrankenhaus wurde die Stirnwunde genäht. Ausser ein paar blauen Flecken und harmlosen Schürfwunden hatte er tatsächlich keine anderen Verletzungen davongetragen. Der Wagen war abgeschleppt worden, und er hatte Anton Hoga angerufen, um sich bei ihm zu entschuldigen. Hoga hatte ihn seinen Ärger spüren und sich nur mit Mühe einen neuen Termin abringen lassen. Morgen. Um dieselbe Zeit. Nein, später ginge es nicht!

Rainers Kraft reichte noch, um sich saubere Kleidung zu kaufen und ein Hotelzimmer zu suchen. Er erzählte der Wirtin von seinem Unfall, um sein Aussehen und das fehlende Gepäck zu erklären.

Das Hotel war einfach, umso mehr überraschte ihn die Schönheit des kleinformatigen Ölgemäldes in seinem Zimmer. Es stellte eine Sommerlandschaft dar, ein goldenes Weizenfeld mit rotglühendem Mohn vor der Wand eines dunklen Waldes, der Kühle auszuatmen schien. Er entzifferte die Signatur: Karen Ewert.
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“Heirate mich, Karen! Herrgott, sieh dich doch um in deinem schäbigen Atelier. Du brauchst Platz. Und Material: Leinwand, gute Pinsel und Farben … Du wirst endlich ohne Sorgen malen können!”

Karen Ewert träumte einen Augenblick: Endlich ohne Sorgen malen können … Grosse Bilder auf guter Leinwand, mit guten Farben, ohne Zeitzwang, ohne Kompromisse. Sie hatte Visionen, die sie bis jetzt nicht hatte verwirklichen können. Doch dann verscheuchte sie energisch diese Gedanken. Sie sah den jungen Mann, der vor ihr stand, lächelnd an und schüttelte den Kopf: “Udo, das ist unmöglich. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Du bist zu jung. Such dir eine Frau in deinem Alter!”

“Aber du bist es, die ich liebe. Ich will dich”, erwiderte er heftig.

“Nach ein paar Jahren wirst du anders darüber denken, glaub mir.” Sie seufzte. Wie kam es, dass die Männer sich so heftig in sie verliebten, um sie nachher genauso heftig abzulehnen? Sie dachte an ihren Ex-Mann Tammo. Sein Wunsch, sie auf Händen zu tragen, hatte sich rasch in den Wunsch verwandelt, sie vollständig zu dominieren. Wenn sie sich in ihr Atelier zurückzog, warf er ihr vor, sich ihm zu entziehen. Er war eifersüchtig auf ihre Kunst. Aber um schöpfen zu können, brauchte sie ihren geheimen Garten, zu dem kein anderer, selbst der geliebte Mann nicht, einen Zugang hatte. Nur ein anderer Künstler konnte das verstehen. Oder ein Kunstliebhaber. Tammo war weder das eine noch wirklich das andere gewesen.

Sie fürchtete, dass bei Udo, abgesehen vom Altersunterschied, dieses Problem noch verstärkt auftreten würde: Er war ohne Mutter aufgewachsen. Sein Vater regierte mit eiserner Hand über das Keunertsche Industrie-Imperium und dachte nicht daran, seinem Sohn Verantwortung zu übertragen.

Und dann: Sie mochte Udo, aber sie liebte ihn nicht. “Udo”, sagte sie eindringlich, “noch bevor du eine Frau glücklich machen kannst, musst du deine eigenen Probleme regeln. Wenn du deinem Vater nicht die Stirn bieten kannst und willst, lass dir den Wind der grossen weiten Welt um die Nase wehen. Such dir woanders Arbeit, mach deine Erfahrungen, lerne dich selbst kennen. Nur so kannst deinem Vater zeigen, was in dir steckt. Sonst bist und bleibst du für ihn ein kleiner Junge.”

“Das hab ich mir auch schon gesagt”, erwiderte er trübe, “aber wenn ich weggehe, sehe ich dich nicht mehr.”

Sie gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange und schob ihn kurzerhand aus der Tür: “Geh jetzt, ich möchte arbeiten.”

Sie hatte gerade wieder angefangen zu malen, als es erneut klopfte. Verärgert öffnete sie.

Die blauen Augen der Frau, die vor Rainer stand, blitzten vor Zorn, mit beiden Händen hielt sie die dunklen Haare aus dem Gesicht. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen sinnlichen Mund. Unter dem farbbeklecksten Malkittel erriet man eine schmale Taille und wohlgerundene Formen. Plötzlich lächelte sie, und sofort verwandelte sich ihr Gesicht, wurde weich und liebenwürdig. Eine Vollblutfrau, dachte er. Mit Temperament, und Lust am Leben. Und welch eine Ausstrahlung!

“Verzeihen Sie, ich hielt Sie für jemand anderen.” Ihre Stimme war dunkel wie Samt.

“Für den jungen Mann, der die Treppe herunterstürmte und mich anschnauzte, dass Sie nicht gestört werden wollen?” grinste er.

Sie musterte ihn. Der Mann war gross und sportlich, hatte einfühlsame dunkle Augen und ein enormes Pflaster auf der Stirn. Ihr Ärger über die erneute Störung war seltsamerweise wie fortgeblasen. Sie stellte fest, dass sie nicht unempfänglich war gegen seinen Charme. Nachdenklich nickte sie: “Es tut mir leid, dass ich so grob sein musste mit ihm. Aber es war zu seinem Besten, das hoffe ich wenigstens. Was wünschen Sie, Herr …”

“Holthaus”, stellte er sich vor. “Rainer Holthaus. Ich bin Kunsthändler und möchte Sie fragen, ob Sie an einer Zusammenarbeit interessiert wären.” Eigentlich hatte er nicht mit der Tür ins Haus fallen wollen, hatte sich zuerst ihre Arbeiten ansehen und ausführlich mit ihr sprechen wollen, aber alle Vorsicht, alle Vernunft waren auf einmal beiseitegefegt.

“Kennen Sie denn meine Bilder?” Jetzt war sie es, die misstrauisch war.

“Ich wohne im Hotel zum Schwan, und in meinem Zimmer hängt eine Sommerlandschaft von Ihnen. Die Wirtin hat mir freundlicherweise Ihre Adresse mitgeteilt.”

“Und Sie mögen das Bild?”

“Wäre ich sonst hier?”

“Bitte, sehen Sie sich doch meine anderen Arbeiten an.”

Sie überzeugten ihn restlos. Selbst ihre “Brotarbeit”, wie sie es nannte, wenn sie sich nach den Wünschen gewisser Kunden richten musste, zeugte von ihrer künstlerischen Persönlichkeit. Er zog sein Scheckheft aus der Tasche: “Wieviel Vorschuss brauchen Sie, um, sagen wir mal, zehn grossformatige Bilder zu malen?”

Nach kurzer Überlegung nannte sie ihm eine möglichst bescheidene Summe: “Sie werden das Geld vielleicht nie wiedersehen”, warnte sie ihn.

Er schrieb einen Scheck über die doppelte Summe aus, wischte dabei die Sorgen um sein strapaziertes Bankkonto fort und überreichte ihn ihr zusammen mit seiner Visitenkarte: “Wenn die Bilder fertig sind, bitte, geben Sie mir Bescheid. Ich werde dann den Transport veranlassen.”

Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Karte: Rainer Holthaus’ Galerie, stellte sie fest, befand sich in München. Dann sah sie auf die Summe und murmelte verwirrt: “Das ist zuviel.”

“Sie müssen auch leben können, bis die Bilder fertig sind.”

Wenn er sich vorgestellt hatte, dass sie ihm dankbar um den Hals fallen würde, hatte er sich getäuscht. Mit gerunzelter Stirn fragte sie: “Was versprechen Sie sich davon, Herr Holthaus?”

“Ich helfe mir damit selbst. Weil ich diese Bilder nicht malen kann, möchte ich wenigstens dazu beitragen, dass sie das Licht der Welt erblicken.”

“Sie werden vielleicht enttäuscht sein.”

“Natürlich, das Risiko besteht, aber in diesem Fall zähle nicht ich, sondern Sie.”

Sie sah ihn immer noch prüfend an: “Also gut, helfen wir uns gegenseitig”, sagte sie dann, und das wunderbare Lächeln erschien wieder auf ihrem Gesicht. Dann wurde sie plötzlich wieder ernst: “Haben Sie sich verletzt? Das Pflaster auf Ihrer Stirn …”

“Ich hatte gestern einen Unfall. Meine Schuld. Ich jagte einer falschen Piste nach. Jetzt weiss ich, dass ich meine Seele verkauft hätte. Wissen Sie, manchmal macht das Schicksal seine Sache sehr gut.” Er verbeugte sich nur kurz und verabschiedete sich dann.

Sie brachte ihn bis zur Tür: “Ich weiss nicht, was ich sagen soll, aber … ich freue mich. Ich freue mich unbändig, in Ruhe und ohne dass mir jemand hereinredet, diese Bilder malen zu können, Herr Holthaus.”
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Zurück im Hotel merkte er, dass er wieder seinen Termin mit Hoga verpasst hatte. Als er anrief, um sich ein zweites Mal zu entschuldigen, bedachte der alte Mann ihn mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken, ehe er den Hörer auf die Gabel schmiss. Als nächstes telefonierte Rainer mit Iris, um ihr alles zu erklären.

Zu Hause fand er ihren Abschiedsbrief vor: “Es hat keinen Zweck mit uns”, schrieb sie, “wir sind zu verschieden. Ich bin es jetzt leid. Adieu, Rainer. Und bitte, unternimm nichts, mein Entschluss ist gefasst. Ich komme nur noch einmal vorbei, um meine Sachen abzuholen.” Überrascht stellte er fest, dass es nicht einmal weh tat. Zwei Jahre hatten sie zusammen gelebt, zwei Jahre, in denen sie sich geliebt, aber genauso oft bekriegt hatten.

Vier Monate später, als er schon fürchtete, nie wieder etwas von Karen Ewert zu hören, stand sie in seiner Galerie.

“Hier bin ich”, erklärte sie. “Mit zwölf Bildern. Wir sind mit einem Lieferwagen gekommen, er steht draussen.”

Ein junger Mann stiess sich vom Wagen ab, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Der Mann, dem Rainer auf der Treppe begegnet war! “Udo Keunert”, stellte er sich vor.

“Udo war so freundlich, den Transport zu bewerkstelligen”, erläuterte Karen.

Es war, als erhielte Rainers Herz einen Dolchstoss: Dann waren die beiden also doch ein Paar geworden! Nun ja, einer Frau wie Karen lagen natürlich die Männer scharenweise zu Füssen.

Urplötzlich wurde ihm klar, dass er sich in sie verliebt hatte. Schon beim ersten Mal, als er sie sah. Und zwar verliebt wie noch nie in seinem Leben. Nein, auch bei Iris hatte er nicht ein solches Gefühl der Vertrautheit gehabt, dieser Seelenverwandtschaft, dieses Glücks, als hätte sein Herz Flügel bekommen. Umso heftiger war der Schmerz, dass er ihr nun diese Liebe nicht gestehen konnte.

Sie trugen zu dritt die Bilder hinein, stellten sie an die Wand und entfernten die schützende Verpackung. Rainer war so ergriffen, dass er sich räuspern musste: “Frau Ewert, ich kann nicht in Worten ausdrücken, was ich empfinde!”

“Sind sie … nicht gut?” Karen biss sich auf die Lippen.

“Nicht gut?” erregte er sich. “Im Gegenteil, es ist genau das, was ich erhofft hatte. Für mich sind das Meisterwerke!”

“Aber werden auch andere Menschen so denken? Ich habe da so meine Erfahrungen gemacht …”

“Das ist meine Arbeit”, erklärte er und fühlte eine nie gekannte Energie in sich aufsteigen: “Es ist jetzt an mir, den Kontakt herzustellen zwischen diesen Bildern und den Menschen, die für diese Kunst empfänglich sind.”

Karen wandte sich zu dem jungen Mann um und meinte besorgt: “Udo, du musst los!” Und an Rainer gerichtet: “Udo hat ein Vorstellungsgespräch hier in München. Für einen Posten im Ausland.”

Nachdem Udo sich rasch frisch gemacht hatte, brachte Karen ihn zum kleinen Lieferwagen. Als sie wieder in der Galerie zurück war, sagte sie: “Ich hoffe so sehr, dass es klappt. Diese zweijährige Auslandserfahrung wäre sehr wichtig für ihn.”

Rainer hoffte es auch. Aus anderen Gründen. Er war unbeschreiblich erleichtert, dass Karen und Udo nun doch nicht ein Paar waren.

“Ich werde in der Zeit der Neuen Pinakothek einen Besuch abstatten”, fuhr sie fort. “Gegen fünf Uhr holt Udo mich dort ab.”

“Darf ich Sie begleiten?” Rainers Herz klopfte bis zum Hals.

Ihre Augen hatten die Farbe eines Sommerhimmels, und ihr Lächeln war wie das Versprechen einer glücklichen Zukunft, als sie mit ihrer schönsten Samtstimme antwortete: “Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dass Sie es mir vorschlagen, Rainer!”

ENDE

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