Sonntag, 24. Februar 2013
Hundstage in der Provence
hillebel, 11:21h
Nach einer schwierigen Scheidung will Lars Friedrichs in der Provence sein Gleichgewicht wiederfinden. Auf einem Spaziergang trifft er einen herrenlosen Hund …
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Mit verbissenem Gesicht stapfte Lars den steinigen Pfad entlang, der an dieser Stelle stark anstieg. Er hatte einen sportlich durchtrainierten Körper, aber es war heiss. Er schwitzte, seine Lungen schienen bersten zu wollen, und sein von der schwierigen Scheidung lädiertes Herz hämmerte dumpf und schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Dieses bisschen Abhärtung würde diesem dummen Herzen gut tun, dachte Lars grimmig. In jeder Hinsicht.
Oben musste er stehen bleiben, um Luft zu holen. Endlich nahm er den würzigen Duft von Kiefern, von Rosmarin und Thymian wahr. Von dieser Stelle aus konnte er die ineinander verschachtelten Häuser des provenzalischen Dorfes sehen, das malerisch auf dem gegenüberliegenden Hügel in der Sonne lag. Eines dieser Häuser hatte ein französischer Geschäftsfreund ihm geliehen, der in Paris lebte und nur selten hierher kam. Seine Lage am Rande des Dorfes erlaubte es ihm, den Dorfbewohnern aus dem Weg zu gehen. Mit Menschen wollte er im Augenblick so wenig wie möglich zu tun haben. Er war hierhergekommen, um zur Ruhe zu kommen und sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Auf dem Hügelkamm war der Weg fast eben. Lars ging gerade weiter, als, wie schon an den vergangenen Tagen, der grosse braune Hund auftauchte. Es war ein schönes Tier, ein Rüde. Auch heute lief er um Lars herum, trabte an seiner Seite weiter, verschwand ab und zu im Gebüsch um zu stöbern, und holte ihn in langen Sprüngen wieder ein. Eines Tages würde ein Jäger ihn erschiessen, streunende Hunde waren überall unbeliebt, dachte Lars. Dieser hier trug nicht einmal ein Halsband. Er zuckte die Achseln. In dem Zustand, in dem er war, konnte er sich nicht noch Gedanken um einen Hund machen. Wenn er ihn begleiten wollte, bitte schön, er hatte nichts dagegen. Nachher würde jeder wieder seines Weges gehen.
Als Lars nach einem grossen Bogen wieder auf die Strasse traf, die zum Dorf zurückführte, versuchte er wie immer, seinen hartnäckigen Begleiter zum Umkehren zu bewegen. Wie immer mit dem einzigen Erfolg, dass dieser zwar einen Schritt zurückwich, ihn aber weiterhin unverwandt aus treuen Bernsteinaugen ansah. Ziemlich vorwurfsvoll, wie es Lars schien. Sogar mit einer Spur von geduldiger Nachsicht, weil dieser Mensch immer noch nicht begriffen hatte, dass seine Bemühungen zwecklos waren.
“Na gut”, gab er nach, auch wie immer, “wie du willst. Aber hier ist jeder für sich selbst verantwortlich, ist das klar?” Der dumme Köter pflegte meistens aufgeregt im Zickzack über die Strasse zu laufen, ein gefährliches Unterfangen, das die Autofahrer oft zum Bremsen zwang. Er wusste, dass der Hund ihn bis vor die Haustür bringen würde, um dann in den Gassen des Dorfes zu verschwinden.
Das Tier war jetzt zu seiner Erleichterung etwas zurückgeblieben, aber plötzlich war ein dumpfer Schlag zu hören, ein herzzerreissendes Jaulen, dann ein Hecheln und Wimmern.
“Arrêtez-vous!” rief eine verzweifelte weibliche Stimme. Im selben Augenblick brauste ein kleiner roter Flitzer an Lars vorbei.
“Halten Sie an”, hatte die Frau gerufen. Natürlich meinte sie das Auto. Warum sollte er sich angesprochen fühlen? Trotzdem ging er schon zurück. Die junge Frau kniete im hohen, trockenen Gras des Strassengrabens neben dem verletzten Hund, der versuchte zu fliehen, indem er vorwärtskroch.
“C’est votre chien, Monsieur?” Ist das Ihr Hund? fragte sie angstvoll.
“Non”, erwiderte Lars entschieden. Und erklärte auf Deutsch, um von vornherein jedes Gespräch unmöglich zu machen: “Er hat mich nur begleitet.”
“Bleiben Sie bei ihm. Halten Sie seinen Kopf. Ja, so. Ich stoppe ein Auto. Der Kerl vorhin ist ja einfach weitergefahren!” Dunkle Locken fielen in ihr Gesicht, und er sah jetzt, dass sie weinte. Für sein Gefühl eine ziemlich übertriebene Reaktion für einen unbekannten streunernden Hund. Ihr leichtes blaues Kleid, ihre Hände und Arme waren blutbefleckt. Er dachte an seine eigene Kleidung, seine hellen Shorts, das T-Shirt, das er in besseren Tagen in einer Luxusboutike erstanden hatte. Und das alles, weil sie ihn zwang, den Kopf dieses dämlichen Köters zu halten! Er hatte gewusst, dass es Scherereien mit ihm geben würde!
Plötzlich drang schlagartig in sein Bewusstsein vor, dass die junge Frau Deutsch gesprochen hatte. Eine Landsmännin. Auch das noch!
Sie sprang dem folgenden Auto beinahe vor die Räder. Der Fahrer bremste und liess das Fenster herunter. Ehe er den Mund öffnen konnte, schrie sie aufgeregt auf ihn ein, zeigte auf Lars und das Tier am Strassenrand. Der Fahrer stieg aus, breitete eine Decke auf dem Hintersitz aus, und die beiden Männer betteten vorsichtig den Hund darauf. Lars wollte sich verabschieden, aber die Frau griff nach seinem Arm: “Bitte, steigen Sie vorn ein.”
Während er ihrer Aufforderung nachkam, ärgerte er sich wieder. Warum hörte er auf sie? Sie selbst setzte sich nach hinten zu dem Tier, nahm seinen blutenden Kopf auf den Schoss. Der Hund winselte und hechelte immer noch leise. “Im nächsten Dorf gibt es einen Tierarzt”, wies die Frau den Fahrer an.
_ _ _
“So, wir haben seine Wunden versorgt und die Hinterpfote geschient und eingegipst. Sonst hat er nichts Ernstes. Sie können ihn gleich wieder mitnehmen”, sagte er freundliche Arzt.
“Wir wollen ihn nicht mitnehmen, es ist nicht unser Hund”, wehrte Lars entschieden in seinem besten Schulfranzösisch ab.
Aber seine Landsmännin fiel ihm ins Wort: “Danke, vielen Dank, Herr Doktor. Wieviel schulde ich Ihnen?”
Der Arzt nannte die nicht unbeträchliche Summe.
“Ich hab kein Geld bei mir, aber ich werde es Ihnen noch heute vorbeibringen”, versprach sie etwas kleinlaut.
“Warum wollen Sie für einen Köter bezahlen, der Ihnen nicht gehört?” mischte Lars sich wieder ein.
“Weil er nicht das Gefühl haben soll, dass er niemanden auf der Welt hat”, blitzte sie ihn an.
Ergeben reichte er dem Arzt seine Bankkarte. Und versuchte, nicht an seine ohnehin schon mageren Geldreserven zu denken. Warum musste er auch seine Bankkarte überall mit sich herumtragen, sogar, wenn er in den Hügeln spazieren ging? Das hatte er nun davon.
Sie lächelte ihm warm zu: “Danke. Sie bekommen nachher das Geld von mir zurück.”
“Nicht nötig”, winkte er ab. Und seufzte innerlich. Er war immer grosszügig gewesen. Auch eine Eigenschaft, die bei ihm offensichtlich nicht auszurotten war. “Verlangen Sie nur nicht von mir, dass ich den Köter zu mir nehmen soll, das kommt nämlich nicht in Frage.” Er hoffte, dass er sich deutlich genug ausgedrückt hatte.
Auch das Taxi für die Rückfahrt bezahlte er. Mit einem Aufschlag für den Hund. Dann half er der jungen Frau, den Hund in ihr kleines Haus zu tragen. Er war erleichtert, dass es am anderen Endes des Dorfes lag, weit genug von seinem eigenen Haus entfernt, damit sie sich hoffentlich nicht wiederbegegneten. Es war angenehm kühl drinnen. Die provenzalischen Möbel, bemalt in hellen Ocker-, Blau- und Gelbtönen, verliehen dem Raum mit den dunklen Deckenbalken ein freundliches Aussehen. Widerwillig musste er zugeben, dass es gemütlich bei ihr war.
“Darf ich Ihnen zum Dank eine Tasse Tee anbieten, Herr …”
“Friedrichs, Lars Friedrichs”, gab er ungern seine Anonymität auf.
Sie reichte ihm die Hand: “Ich heisse Dina. Dina Volkmann.”
Sie tranken den Tee auf Dinas kleiner Terrasse mit den vielen Blumentöpfen. Von hier aus blickte man weit über die hügelige Landschaft. Lars sah Dina an und fragte sich, was diese hübsche, aber anscheinend etwas verrückte Deutsche in diesem provenzalischen Nest machte. Dinas Blick hingegen ruhte nachdenklich auf dem Hund, der neben ihnen auf einer weichen Decke schlief: “Ich hab ihn schon im Dorf gesehen”, sinnierte sie. “Ich werde versuchen, seinen Besitzer ausfindig zu machen.”
“Wenn Sie ihn finden, dann bestellen Sie ihm doch, dass er den Hund nicht frei herumlaufen lassen soll”, erwiderte Lars streng, trank seinen Tee aus und erhob sich: “Danke für den Tee, aber ich muss jetzt gehen.”
“Warum haben Sie es so eilig? Sie machen doch Ferien hier?” Erschrocken schlug sie sich auf den Mund: “Verzeihen Sie, das ist Dorfklatsch, aber es ist nicht böse gemeint. Wir wissen, dass Sie auf der anderen Seite des Dorfes im Haus dieses Pariser Geschäftsmanns leben, der selbst nicht oft da ist. Ein netter Mann, übrigens.”
Er fragte sich, was man sich noch über ihn erzählte. Dass er ein Eigenbrötler war, der mit niemandem sprach? Er war sich bewusst, dass sein Verhalten seltsam wirken musste. Nun denn, was ging es ihn an? Er war ja auch nicht neugierig auf die Dorfbewohner. Im Gegenteil. Am besten war es, gleich Klartext zu sprechen: “Dann wissen Sie sicher auch, dass ich keinen grossen Wert auf Geselligkeit lege?”
Sie standen jetzt an der Tür, und Dina sah ihn aufmerksam an: “Trotzdem: Wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich einfach wissen. Und nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe.”
Drei Tage später war Lars gerade von seinem täglichen Spaziergang zurückgekommen, als es klopfte.
“Ach, Sie sind es”, sagte er abweisend zu Dina, die mit einem breitschultrigen Mann mittleren Alters vor der Tür stand. Warum hatte er überhaupt aufgemacht? Er würde es nie lernen!
“Herr Friedrichs, das ist Charles Durand, der sich vor einiger Zeit dieses offensichtlich herrenlosen Hundes, den er Jules nennt, angenommen hat. Das heisst, er gab ihm zu fressen, bei ihm bleiben wollte Jules allerdings nicht. Aber jetzt muss der Arme ja erst mal sein gefährliches Vagabundenleben aufgeben. Wegen seines eingegipsten Beins. Monsieur Durand pflegt ihn und hofft, dass Jules sich endlich an ihn gewöhnen wird. Wir sind zu Ihnen gekommen, weil er Ihnen unbedingt die Auslagen zurückerstatten möchte. Er spricht kein Deutsch und hat mich gebeten, Ihnen das alles zu übersetzen.”
Höflicherweise musste Lars die beiden hereinbitten.
“Das ist ein hübsches Haus.” Dina sah sich anerkennend um. “Und es ist schön, dass die Fensterläden endlich mal wieder offen sind.”
Je schneller die beiden wieder gingen, desto besser, dachte Lars. “Sagen Sie doch bitte Monsieur Durand, dass ich das Geld nicht zurückhaben möchte”, wandte er sich an Dina.
Wenn er gewusst hätte, was er sich damit einbrockte!
Jetzt wollte der Franzose ihn und Dina zum Aperitif zu sich einladen. Dina, die Lars’ Gesichtsausdruck sah, zischte ihm in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, zu: “Lehnen Sie nicht ab, das wäre sehr unhöflich!”
Jules befand sich im blühenden Innenhof des Hauses. Es ging ihm sichtlich schon sehr viel besser. Er hinkte ihnen auf drei Pfoten entgegen und rieb seinen Kopf erst an Dina, dann an Lars.
“Von mir nimmt er immer noch nur gerade das Futter an”, bemerkte der Franzose etwas traurig, dann ging er in die Küche und kam bald darauf mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Schale mit Oliven, drei Gläser, eine Flasche Pastis, ein Krug Wasser und ein Behälter mit Eiswürfeln befanden.
_ _ _
“Na, das war doch nicht zu schwierig?” Dina neckte Lars freundlich, als sie eine Stunde später wieder draussen standen.
“Es ging, aber jetzt möchte ich wirklich nicht mehr weder mit den Dorfbewohnern noch mit Ihnen zu tun haben, verstanden?”
“Geht klar”, nickte Dina. Er sah, dass er sie verletzt hatte, aber da konnte er ihr auch nicht helfen. Sie wandte sich um und ging mit eiligen Schritten davon.
Drei Wochen vergingen. Lars erklomm wieder einmal den bewaldeten Hügel. Seine Schritte waren langsam und gleichmässig, er stürmte nicht mehr vorwärts wie am Anfang, als er noch das Bedürfnis hatte, Schmerz und Wut zu betäuben, indem er sich völlig verausgabte. Als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich um. Es war Jules. Er trug jetzt ein Halsband und schleifte eine Leine hinter sich her.
“Jules”, rief jemand. Und noch einmal: “Jules!” Lars erkannte Dinas Stimme. Sie kam angelaufen und bückte sich nach der Leine. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie etwas rot: “Entschuldigen Sie die Störung, Herr Friedrichs”, sagte sie knapp und zog Jules rasch mit sich fort.
Unwillkürlich sah er den beiden nach. Er hatte darum gekämpft, dass man ihn in Ruhe liess, jetzt fühlte er sich plötzlich allein gelassen. Aber wie sah das aus, wenn er jetzt hinter Dina herlief, um sie zu fragen, wie es ihr und Jules ging und wie es kam, dass sie zusammen spazieren gingen? Bestand jetzt womöglich - sonderbarer Weise setzte bei diesem Gedanken sein Herz einen Schlag aus - ein festes Band zwischen ihr und Charles Durand? Und wieso interessierte ihn das auf einmal? Wie reimte sich das alles? Langsam setzte er seinen Spaziergang fort.
Als Jules wenig später wieder neben ihm auftauchte, machte Lars’ Herz einen freudigen Sprung. Der Hund umkreiste ihn, lief zu Dina zurück, blieb aber ausser ihrer Reichweite, so dass sie die Leine nicht ergreifen konnte. In einer hilflosen Geste breitete sie die Arme aus und hob die Schultern.
Froh, einen Grund zu haben, ging Lars ihr entgegen: “Wir sollten es Jules etwas leichter machen, der Arme hinkt doch noch.”
“Heute ist sein erster richtiger Ausgang”, berichtete Dina, als er vor ihr stand. “Er ist die Leine noch nicht gewöhnt. Und ich auch nicht. Ich meine, mit einem Hund an der Leine spazieren zu gehen.
“Wie kommt es, dass Sie mit ihm hier sind?”
Sie lachte ein wenig. “Der arme Charles. Er hat Jules die ganze Zeit gepflegt, aber kaum ging es ihm besser, stand er vor meiner Tür. Jetzt ist er bei mir.” Leise fügte sie hinzu: “Und ich bin glücklich darüber. Er leistet mir Gesellschaft.”
“Mir würde es bei Ihnen auch besser gefallen als bei Charles Durand”, rutschte es Lars heraus.
Dina sah ihn aufmerksam an. Sie hatte wunderschöne Augen, bemerkte er plötzlich. Wie dunkles Gold. Und dicht bewimpert. Jetzt lächelte sie ihm zu: “Es geht Ihnen besser”, stellte sie zufrieden fest.
Ja, es ging ihm besser. Dina hatte Jules von der Leine genommen, und sie gingen langsam weiter. Weil die junge Frau schwieg und auf etwas zu warten schien, fing Lars an zu sprechen. Es war das erste Mal, dass er jemandem so rückhaltslos von seiner schwierigen Ehe und der unerfreulichen Scheidung erzählen konnte. Er hatte sich vor fünf Jahren im Im- und Exporthandel selbstständig gemacht. Die Scheidung hatte ihn nicht nur privat aus der Bahn geworfen, Manuelas Forderungen hatten ihn auch geschäftlich an den Rand des Ruins gebracht. Er war in ein tiefes schwarze Loch gestürzt. Enttäuschung und Bitterkeit hatten ihn bis jetzt daran gehindert zu reagieren.
Sie waren oben angekommen. Die grünen Hügel zogen sich bis zum Meer, das wie flüssiges Silber am Horizont gleisste. Hell wie die Hoffnung, dachte Lars unwillkürlich.
“Und jetzt Sie”, bat er. “Was machen Sie in diesem französischen Dorf?”
Er breitete für Dina sein Hemd auf dem nadelbedeckten Waldboden aus, eine weit ausladende Pinie spendete ihnen Schatten. Sie setzten sich, und Dina erzählte leise ihre eigene Geschichte. Sie hatte in Frankfurt als Dolmetscherin in einem grossen Unternehmen gearbeitet. Dort begegnete sie dem gutaussehenden Franzosen Jean Morand. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, das Gefühl, dass sie füreinander geschaffen waren. Sie war dem jungen Ingenieur in seine Heimatstadt Marseille gefolgt, und sie waren unbeschreiblich glücklich gewesen, bis … Dinas Augen wurden dunkel vor Schmerz: “Vor fast zwei Jahren, kurz vor unserer Hochzeit, ist er in meinem Beisein auf dem Bürgersteig von einem Auto erfasst worden und starb am Unfallort. Man hat den Fahrer, der flüchtete, nie gefunden. Nur das Auto, das er fuhr. Es war gestohlen …”
Jetzt verstand er, warum sie geweint hatte, als Jules überfahren wurde. Und schämte sich. Sie hatte viel Schlimmeres durchgemacht als er, wurde ihm bewusst. Sie hatte den Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte, verloren. Spontan griff er nach ihrer Hand und drückte sie: “Das tut mir entsetzlich leid, Dina.”
Ihre Hand lag fest und schmal in der seinen. Nach Jeans Tod, berichtete sie mit verhaltener Stimme weiter, hatte sie das kleine Haus hier im Dorf gemietet. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Übersetzerin. Leise und sehnsüchtig schloss sie: “Für mich bestand das Leben immer nur aus Verlusten und neuen Anfängen. Ich würde so gern endlich zur Ruhe kommen.”
Sein Blick ruhte auf ihrem schönen, gesenkten Gesicht, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit überflutete ihn, riss die Dämme des Misstrauens und der Vorsicht, die er um sich herum errichtet hatte, mit sich fort. Aber ich liebe sie ja, dachte er überwältigt. Ich kann noch lieben. Wieder lieben! Ihm war, als schlüge in seiner Brust ein neues Herz. Ohne ihre Hand loszulassen, stand er auf und zog sie behutsam hoch. Jules, der nicht von ihrer Seite gewichen war, sah mit klugen Augen abwechselnd von einem zum anderen, als wollte er sagen, dass er das Seinige dazu getan hatte. Den letzten Schritt mussten sie jetzt selbst tun.
Lars nahm Dina in die Arme und fühlte, wie sie zitterte. “Ich liebe dich, Dina, und ich möchte dir so gern diese Ruhe schenken. Kannst du dir vorstellen, nach Deutschland zurückzukommen? Ich besitze fast nichts mehr, aber ich werde wieder hochkommen! Für dich. Für uns beide. Mit dir zusammen fühle ich mich stark.” Er lachte, weil er plötzlich wieder so viel Kraft und Zuversicht in sich spürte. “Sobald ich mich von neuem hochgearbeitet habe, werden wir ein Haus kaufen, Dina. Mit viel Platz für Kinder und auch für Jules.”
Sie schloss die Augen und lehnte ihr Gesicht an seine Schulter: “Ich liebe dich ja auch, Lars, und ich bin auch so froh, dass ich wieder lieben kann. Nach Jeans Tod dachte ich, dass mein Herz gestorben sei. Gleich das erste Mal, als ich dich sah, habe ich gefühlt, dass du in Wirklichkeit ganz anders bist. Deine Augen verrieten es manchmal.”
Er küsste sie unendlich sanft. Sein Atem stockte, als er endlich fragte: “Und? Wie ist nun deine Antwort?”
“Ja, Lars”, lächelte sie glücklich. “Ja, nimm uns mit, Jules und mich!”
ENDE
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Mit verbissenem Gesicht stapfte Lars den steinigen Pfad entlang, der an dieser Stelle stark anstieg. Er hatte einen sportlich durchtrainierten Körper, aber es war heiss. Er schwitzte, seine Lungen schienen bersten zu wollen, und sein von der schwierigen Scheidung lädiertes Herz hämmerte dumpf und schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Dieses bisschen Abhärtung würde diesem dummen Herzen gut tun, dachte Lars grimmig. In jeder Hinsicht.
Oben musste er stehen bleiben, um Luft zu holen. Endlich nahm er den würzigen Duft von Kiefern, von Rosmarin und Thymian wahr. Von dieser Stelle aus konnte er die ineinander verschachtelten Häuser des provenzalischen Dorfes sehen, das malerisch auf dem gegenüberliegenden Hügel in der Sonne lag. Eines dieser Häuser hatte ein französischer Geschäftsfreund ihm geliehen, der in Paris lebte und nur selten hierher kam. Seine Lage am Rande des Dorfes erlaubte es ihm, den Dorfbewohnern aus dem Weg zu gehen. Mit Menschen wollte er im Augenblick so wenig wie möglich zu tun haben. Er war hierhergekommen, um zur Ruhe zu kommen und sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Auf dem Hügelkamm war der Weg fast eben. Lars ging gerade weiter, als, wie schon an den vergangenen Tagen, der grosse braune Hund auftauchte. Es war ein schönes Tier, ein Rüde. Auch heute lief er um Lars herum, trabte an seiner Seite weiter, verschwand ab und zu im Gebüsch um zu stöbern, und holte ihn in langen Sprüngen wieder ein. Eines Tages würde ein Jäger ihn erschiessen, streunende Hunde waren überall unbeliebt, dachte Lars. Dieser hier trug nicht einmal ein Halsband. Er zuckte die Achseln. In dem Zustand, in dem er war, konnte er sich nicht noch Gedanken um einen Hund machen. Wenn er ihn begleiten wollte, bitte schön, er hatte nichts dagegen. Nachher würde jeder wieder seines Weges gehen.
Als Lars nach einem grossen Bogen wieder auf die Strasse traf, die zum Dorf zurückführte, versuchte er wie immer, seinen hartnäckigen Begleiter zum Umkehren zu bewegen. Wie immer mit dem einzigen Erfolg, dass dieser zwar einen Schritt zurückwich, ihn aber weiterhin unverwandt aus treuen Bernsteinaugen ansah. Ziemlich vorwurfsvoll, wie es Lars schien. Sogar mit einer Spur von geduldiger Nachsicht, weil dieser Mensch immer noch nicht begriffen hatte, dass seine Bemühungen zwecklos waren.
“Na gut”, gab er nach, auch wie immer, “wie du willst. Aber hier ist jeder für sich selbst verantwortlich, ist das klar?” Der dumme Köter pflegte meistens aufgeregt im Zickzack über die Strasse zu laufen, ein gefährliches Unterfangen, das die Autofahrer oft zum Bremsen zwang. Er wusste, dass der Hund ihn bis vor die Haustür bringen würde, um dann in den Gassen des Dorfes zu verschwinden.
Das Tier war jetzt zu seiner Erleichterung etwas zurückgeblieben, aber plötzlich war ein dumpfer Schlag zu hören, ein herzzerreissendes Jaulen, dann ein Hecheln und Wimmern.
“Arrêtez-vous!” rief eine verzweifelte weibliche Stimme. Im selben Augenblick brauste ein kleiner roter Flitzer an Lars vorbei.
“Halten Sie an”, hatte die Frau gerufen. Natürlich meinte sie das Auto. Warum sollte er sich angesprochen fühlen? Trotzdem ging er schon zurück. Die junge Frau kniete im hohen, trockenen Gras des Strassengrabens neben dem verletzten Hund, der versuchte zu fliehen, indem er vorwärtskroch.
“C’est votre chien, Monsieur?” Ist das Ihr Hund? fragte sie angstvoll.
“Non”, erwiderte Lars entschieden. Und erklärte auf Deutsch, um von vornherein jedes Gespräch unmöglich zu machen: “Er hat mich nur begleitet.”
“Bleiben Sie bei ihm. Halten Sie seinen Kopf. Ja, so. Ich stoppe ein Auto. Der Kerl vorhin ist ja einfach weitergefahren!” Dunkle Locken fielen in ihr Gesicht, und er sah jetzt, dass sie weinte. Für sein Gefühl eine ziemlich übertriebene Reaktion für einen unbekannten streunernden Hund. Ihr leichtes blaues Kleid, ihre Hände und Arme waren blutbefleckt. Er dachte an seine eigene Kleidung, seine hellen Shorts, das T-Shirt, das er in besseren Tagen in einer Luxusboutike erstanden hatte. Und das alles, weil sie ihn zwang, den Kopf dieses dämlichen Köters zu halten! Er hatte gewusst, dass es Scherereien mit ihm geben würde!
Plötzlich drang schlagartig in sein Bewusstsein vor, dass die junge Frau Deutsch gesprochen hatte. Eine Landsmännin. Auch das noch!
Sie sprang dem folgenden Auto beinahe vor die Räder. Der Fahrer bremste und liess das Fenster herunter. Ehe er den Mund öffnen konnte, schrie sie aufgeregt auf ihn ein, zeigte auf Lars und das Tier am Strassenrand. Der Fahrer stieg aus, breitete eine Decke auf dem Hintersitz aus, und die beiden Männer betteten vorsichtig den Hund darauf. Lars wollte sich verabschieden, aber die Frau griff nach seinem Arm: “Bitte, steigen Sie vorn ein.”
Während er ihrer Aufforderung nachkam, ärgerte er sich wieder. Warum hörte er auf sie? Sie selbst setzte sich nach hinten zu dem Tier, nahm seinen blutenden Kopf auf den Schoss. Der Hund winselte und hechelte immer noch leise. “Im nächsten Dorf gibt es einen Tierarzt”, wies die Frau den Fahrer an.
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“So, wir haben seine Wunden versorgt und die Hinterpfote geschient und eingegipst. Sonst hat er nichts Ernstes. Sie können ihn gleich wieder mitnehmen”, sagte er freundliche Arzt.
“Wir wollen ihn nicht mitnehmen, es ist nicht unser Hund”, wehrte Lars entschieden in seinem besten Schulfranzösisch ab.
Aber seine Landsmännin fiel ihm ins Wort: “Danke, vielen Dank, Herr Doktor. Wieviel schulde ich Ihnen?”
Der Arzt nannte die nicht unbeträchliche Summe.
“Ich hab kein Geld bei mir, aber ich werde es Ihnen noch heute vorbeibringen”, versprach sie etwas kleinlaut.
“Warum wollen Sie für einen Köter bezahlen, der Ihnen nicht gehört?” mischte Lars sich wieder ein.
“Weil er nicht das Gefühl haben soll, dass er niemanden auf der Welt hat”, blitzte sie ihn an.
Ergeben reichte er dem Arzt seine Bankkarte. Und versuchte, nicht an seine ohnehin schon mageren Geldreserven zu denken. Warum musste er auch seine Bankkarte überall mit sich herumtragen, sogar, wenn er in den Hügeln spazieren ging? Das hatte er nun davon.
Sie lächelte ihm warm zu: “Danke. Sie bekommen nachher das Geld von mir zurück.”
“Nicht nötig”, winkte er ab. Und seufzte innerlich. Er war immer grosszügig gewesen. Auch eine Eigenschaft, die bei ihm offensichtlich nicht auszurotten war. “Verlangen Sie nur nicht von mir, dass ich den Köter zu mir nehmen soll, das kommt nämlich nicht in Frage.” Er hoffte, dass er sich deutlich genug ausgedrückt hatte.
Auch das Taxi für die Rückfahrt bezahlte er. Mit einem Aufschlag für den Hund. Dann half er der jungen Frau, den Hund in ihr kleines Haus zu tragen. Er war erleichtert, dass es am anderen Endes des Dorfes lag, weit genug von seinem eigenen Haus entfernt, damit sie sich hoffentlich nicht wiederbegegneten. Es war angenehm kühl drinnen. Die provenzalischen Möbel, bemalt in hellen Ocker-, Blau- und Gelbtönen, verliehen dem Raum mit den dunklen Deckenbalken ein freundliches Aussehen. Widerwillig musste er zugeben, dass es gemütlich bei ihr war.
“Darf ich Ihnen zum Dank eine Tasse Tee anbieten, Herr …”
“Friedrichs, Lars Friedrichs”, gab er ungern seine Anonymität auf.
Sie reichte ihm die Hand: “Ich heisse Dina. Dina Volkmann.”
Sie tranken den Tee auf Dinas kleiner Terrasse mit den vielen Blumentöpfen. Von hier aus blickte man weit über die hügelige Landschaft. Lars sah Dina an und fragte sich, was diese hübsche, aber anscheinend etwas verrückte Deutsche in diesem provenzalischen Nest machte. Dinas Blick hingegen ruhte nachdenklich auf dem Hund, der neben ihnen auf einer weichen Decke schlief: “Ich hab ihn schon im Dorf gesehen”, sinnierte sie. “Ich werde versuchen, seinen Besitzer ausfindig zu machen.”
“Wenn Sie ihn finden, dann bestellen Sie ihm doch, dass er den Hund nicht frei herumlaufen lassen soll”, erwiderte Lars streng, trank seinen Tee aus und erhob sich: “Danke für den Tee, aber ich muss jetzt gehen.”
“Warum haben Sie es so eilig? Sie machen doch Ferien hier?” Erschrocken schlug sie sich auf den Mund: “Verzeihen Sie, das ist Dorfklatsch, aber es ist nicht böse gemeint. Wir wissen, dass Sie auf der anderen Seite des Dorfes im Haus dieses Pariser Geschäftsmanns leben, der selbst nicht oft da ist. Ein netter Mann, übrigens.”
Er fragte sich, was man sich noch über ihn erzählte. Dass er ein Eigenbrötler war, der mit niemandem sprach? Er war sich bewusst, dass sein Verhalten seltsam wirken musste. Nun denn, was ging es ihn an? Er war ja auch nicht neugierig auf die Dorfbewohner. Im Gegenteil. Am besten war es, gleich Klartext zu sprechen: “Dann wissen Sie sicher auch, dass ich keinen grossen Wert auf Geselligkeit lege?”
Sie standen jetzt an der Tür, und Dina sah ihn aufmerksam an: “Trotzdem: Wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich einfach wissen. Und nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe.”
Drei Tage später war Lars gerade von seinem täglichen Spaziergang zurückgekommen, als es klopfte.
“Ach, Sie sind es”, sagte er abweisend zu Dina, die mit einem breitschultrigen Mann mittleren Alters vor der Tür stand. Warum hatte er überhaupt aufgemacht? Er würde es nie lernen!
“Herr Friedrichs, das ist Charles Durand, der sich vor einiger Zeit dieses offensichtlich herrenlosen Hundes, den er Jules nennt, angenommen hat. Das heisst, er gab ihm zu fressen, bei ihm bleiben wollte Jules allerdings nicht. Aber jetzt muss der Arme ja erst mal sein gefährliches Vagabundenleben aufgeben. Wegen seines eingegipsten Beins. Monsieur Durand pflegt ihn und hofft, dass Jules sich endlich an ihn gewöhnen wird. Wir sind zu Ihnen gekommen, weil er Ihnen unbedingt die Auslagen zurückerstatten möchte. Er spricht kein Deutsch und hat mich gebeten, Ihnen das alles zu übersetzen.”
Höflicherweise musste Lars die beiden hereinbitten.
“Das ist ein hübsches Haus.” Dina sah sich anerkennend um. “Und es ist schön, dass die Fensterläden endlich mal wieder offen sind.”
Je schneller die beiden wieder gingen, desto besser, dachte Lars. “Sagen Sie doch bitte Monsieur Durand, dass ich das Geld nicht zurückhaben möchte”, wandte er sich an Dina.
Wenn er gewusst hätte, was er sich damit einbrockte!
Jetzt wollte der Franzose ihn und Dina zum Aperitif zu sich einladen. Dina, die Lars’ Gesichtsausdruck sah, zischte ihm in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, zu: “Lehnen Sie nicht ab, das wäre sehr unhöflich!”
Jules befand sich im blühenden Innenhof des Hauses. Es ging ihm sichtlich schon sehr viel besser. Er hinkte ihnen auf drei Pfoten entgegen und rieb seinen Kopf erst an Dina, dann an Lars.
“Von mir nimmt er immer noch nur gerade das Futter an”, bemerkte der Franzose etwas traurig, dann ging er in die Küche und kam bald darauf mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Schale mit Oliven, drei Gläser, eine Flasche Pastis, ein Krug Wasser und ein Behälter mit Eiswürfeln befanden.
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“Na, das war doch nicht zu schwierig?” Dina neckte Lars freundlich, als sie eine Stunde später wieder draussen standen.
“Es ging, aber jetzt möchte ich wirklich nicht mehr weder mit den Dorfbewohnern noch mit Ihnen zu tun haben, verstanden?”
“Geht klar”, nickte Dina. Er sah, dass er sie verletzt hatte, aber da konnte er ihr auch nicht helfen. Sie wandte sich um und ging mit eiligen Schritten davon.
Drei Wochen vergingen. Lars erklomm wieder einmal den bewaldeten Hügel. Seine Schritte waren langsam und gleichmässig, er stürmte nicht mehr vorwärts wie am Anfang, als er noch das Bedürfnis hatte, Schmerz und Wut zu betäuben, indem er sich völlig verausgabte. Als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich um. Es war Jules. Er trug jetzt ein Halsband und schleifte eine Leine hinter sich her.
“Jules”, rief jemand. Und noch einmal: “Jules!” Lars erkannte Dinas Stimme. Sie kam angelaufen und bückte sich nach der Leine. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie etwas rot: “Entschuldigen Sie die Störung, Herr Friedrichs”, sagte sie knapp und zog Jules rasch mit sich fort.
Unwillkürlich sah er den beiden nach. Er hatte darum gekämpft, dass man ihn in Ruhe liess, jetzt fühlte er sich plötzlich allein gelassen. Aber wie sah das aus, wenn er jetzt hinter Dina herlief, um sie zu fragen, wie es ihr und Jules ging und wie es kam, dass sie zusammen spazieren gingen? Bestand jetzt womöglich - sonderbarer Weise setzte bei diesem Gedanken sein Herz einen Schlag aus - ein festes Band zwischen ihr und Charles Durand? Und wieso interessierte ihn das auf einmal? Wie reimte sich das alles? Langsam setzte er seinen Spaziergang fort.
Als Jules wenig später wieder neben ihm auftauchte, machte Lars’ Herz einen freudigen Sprung. Der Hund umkreiste ihn, lief zu Dina zurück, blieb aber ausser ihrer Reichweite, so dass sie die Leine nicht ergreifen konnte. In einer hilflosen Geste breitete sie die Arme aus und hob die Schultern.
Froh, einen Grund zu haben, ging Lars ihr entgegen: “Wir sollten es Jules etwas leichter machen, der Arme hinkt doch noch.”
“Heute ist sein erster richtiger Ausgang”, berichtete Dina, als er vor ihr stand. “Er ist die Leine noch nicht gewöhnt. Und ich auch nicht. Ich meine, mit einem Hund an der Leine spazieren zu gehen.
“Wie kommt es, dass Sie mit ihm hier sind?”
Sie lachte ein wenig. “Der arme Charles. Er hat Jules die ganze Zeit gepflegt, aber kaum ging es ihm besser, stand er vor meiner Tür. Jetzt ist er bei mir.” Leise fügte sie hinzu: “Und ich bin glücklich darüber. Er leistet mir Gesellschaft.”
“Mir würde es bei Ihnen auch besser gefallen als bei Charles Durand”, rutschte es Lars heraus.
Dina sah ihn aufmerksam an. Sie hatte wunderschöne Augen, bemerkte er plötzlich. Wie dunkles Gold. Und dicht bewimpert. Jetzt lächelte sie ihm zu: “Es geht Ihnen besser”, stellte sie zufrieden fest.
Ja, es ging ihm besser. Dina hatte Jules von der Leine genommen, und sie gingen langsam weiter. Weil die junge Frau schwieg und auf etwas zu warten schien, fing Lars an zu sprechen. Es war das erste Mal, dass er jemandem so rückhaltslos von seiner schwierigen Ehe und der unerfreulichen Scheidung erzählen konnte. Er hatte sich vor fünf Jahren im Im- und Exporthandel selbstständig gemacht. Die Scheidung hatte ihn nicht nur privat aus der Bahn geworfen, Manuelas Forderungen hatten ihn auch geschäftlich an den Rand des Ruins gebracht. Er war in ein tiefes schwarze Loch gestürzt. Enttäuschung und Bitterkeit hatten ihn bis jetzt daran gehindert zu reagieren.
Sie waren oben angekommen. Die grünen Hügel zogen sich bis zum Meer, das wie flüssiges Silber am Horizont gleisste. Hell wie die Hoffnung, dachte Lars unwillkürlich.
“Und jetzt Sie”, bat er. “Was machen Sie in diesem französischen Dorf?”
Er breitete für Dina sein Hemd auf dem nadelbedeckten Waldboden aus, eine weit ausladende Pinie spendete ihnen Schatten. Sie setzten sich, und Dina erzählte leise ihre eigene Geschichte. Sie hatte in Frankfurt als Dolmetscherin in einem grossen Unternehmen gearbeitet. Dort begegnete sie dem gutaussehenden Franzosen Jean Morand. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, das Gefühl, dass sie füreinander geschaffen waren. Sie war dem jungen Ingenieur in seine Heimatstadt Marseille gefolgt, und sie waren unbeschreiblich glücklich gewesen, bis … Dinas Augen wurden dunkel vor Schmerz: “Vor fast zwei Jahren, kurz vor unserer Hochzeit, ist er in meinem Beisein auf dem Bürgersteig von einem Auto erfasst worden und starb am Unfallort. Man hat den Fahrer, der flüchtete, nie gefunden. Nur das Auto, das er fuhr. Es war gestohlen …”
Jetzt verstand er, warum sie geweint hatte, als Jules überfahren wurde. Und schämte sich. Sie hatte viel Schlimmeres durchgemacht als er, wurde ihm bewusst. Sie hatte den Menschen, den sie am meisten auf der Welt liebte, verloren. Spontan griff er nach ihrer Hand und drückte sie: “Das tut mir entsetzlich leid, Dina.”
Ihre Hand lag fest und schmal in der seinen. Nach Jeans Tod, berichtete sie mit verhaltener Stimme weiter, hatte sie das kleine Haus hier im Dorf gemietet. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Übersetzerin. Leise und sehnsüchtig schloss sie: “Für mich bestand das Leben immer nur aus Verlusten und neuen Anfängen. Ich würde so gern endlich zur Ruhe kommen.”
Sein Blick ruhte auf ihrem schönen, gesenkten Gesicht, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit überflutete ihn, riss die Dämme des Misstrauens und der Vorsicht, die er um sich herum errichtet hatte, mit sich fort. Aber ich liebe sie ja, dachte er überwältigt. Ich kann noch lieben. Wieder lieben! Ihm war, als schlüge in seiner Brust ein neues Herz. Ohne ihre Hand loszulassen, stand er auf und zog sie behutsam hoch. Jules, der nicht von ihrer Seite gewichen war, sah mit klugen Augen abwechselnd von einem zum anderen, als wollte er sagen, dass er das Seinige dazu getan hatte. Den letzten Schritt mussten sie jetzt selbst tun.
Lars nahm Dina in die Arme und fühlte, wie sie zitterte. “Ich liebe dich, Dina, und ich möchte dir so gern diese Ruhe schenken. Kannst du dir vorstellen, nach Deutschland zurückzukommen? Ich besitze fast nichts mehr, aber ich werde wieder hochkommen! Für dich. Für uns beide. Mit dir zusammen fühle ich mich stark.” Er lachte, weil er plötzlich wieder so viel Kraft und Zuversicht in sich spürte. “Sobald ich mich von neuem hochgearbeitet habe, werden wir ein Haus kaufen, Dina. Mit viel Platz für Kinder und auch für Jules.”
Sie schloss die Augen und lehnte ihr Gesicht an seine Schulter: “Ich liebe dich ja auch, Lars, und ich bin auch so froh, dass ich wieder lieben kann. Nach Jeans Tod dachte ich, dass mein Herz gestorben sei. Gleich das erste Mal, als ich dich sah, habe ich gefühlt, dass du in Wirklichkeit ganz anders bist. Deine Augen verrieten es manchmal.”
Er küsste sie unendlich sanft. Sein Atem stockte, als er endlich fragte: “Und? Wie ist nun deine Antwort?”
“Ja, Lars”, lächelte sie glücklich. “Ja, nimm uns mit, Jules und mich!”
ENDE
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